Wie oft habe ich mich in Gedanken zurückversetzt
in meine überaus glückliche Schulzeit und gewünscht, sie noch
einmal zu erleben. Doch hätte ich, in dieser weit zurückliegenden
Zeit, etwas anders, besser machen können, hätte ich die Chance,
mit heutigen Erkenntnissen in einen jungen, ziemlich unscheinbaren Körper
zu schlüpfen, dessen Sinnlichkeit erst gerade erwacht war? Die Phantasie
ist eines der größten, wertvollsten Geschenke unseres bescheidenen
Lebens. Paart sie sich mit dankbarer Erinnerung, entstehen Momente des
Glücks. Und so betrete ich, am 27. Oktober 1962, noch einmal die Arolser
Stadtkirche - vier Jahre nach meiner Konfirmation und dreiundfünfzig
Jahre vor einer Zukunft, die ich niemals erahnt hatte. Aus dieser Zukunft
haben mich mein Rollei-Fotostativ und das kleine Zoom-H6 begleitet, um Vivaldis
Gloria und Bachs Magnificat aufzunehmen, Krügers denkwürdige
Aufführung, die mir damals den ersten richtigen Live-Mitschnitt
ermöglichte. Wie wunderbar, alte Bekannte wiederzusehen und vor allem
die Weggefährten aus der CRS. Ich betrachte sie mit den Augen eines,
der gelernt hat, wie ein Künstler jede Sekunde bewußt wahrzunehmen,
sie zu interpretieren und zu genießen. Das Verlangen steigt auf, all
die süßen Mädchen zu umarmen, die ich so schüchtern
betrachtet habe, und den Lehrern zu danken, die mir so viel Gutes mitgaben.
Gefesselt an meine Aufgabe, sitze ich dort - nicht oben rechts auf der Empore
mit Günter Kirsteins Magnetophon 75 und meinem nach unten gerichteten,
in vielen Nachhilfestunden verdienten D 19 B, sondern unten im Kirchenschiff,
direkt hinter dem überraschten
Musikdirektor Krüger, der 1955 aus
Genthin nach Arolsen gekommen war. "Was'n das für'n Ding? Damit willscht
aufnehmen? Wohl'n alten Mann verasten?" Ja, was habe ich da für ein
seltsames Gerät, nichts bewegt sich, keine Spule, kein Band, alles ist
so klein, und wo ist das Mikrofon? "Das ist hier vorn aufgesteckt, 2
Elektretkapseln in XY-Anordnung, Stereo mit Einfallswinkel von 120 Grad.
Irgendwann, Herr Krüger, irgendwann wird es mal so was Kompaktes geben."
"Mach nich so'n Unsinn." Wenig später hebt Krüger den Taktstock,
vorher hat er ebenso erstaunt wie mißbilligend den Kopf geschüttelt.
Er kann sich jetzt nicht mit den Marotten eines Schülers abgeben, dem
er später gehörig die Meinung sagen will. Stereo: ja, das gab es
schon. Nach dem Mauerbau waren wir Unterprimaner in Berlin gewesen, ich hatte
über den beachtenswerten Wiederaufbau und die soliden neuen
Straßendecken gestaunt, wir hatten Telefunken besucht, wo man uns das
Stereo-Raumklangwunder vorgeführt hatte, später hatte ich mich
selbständig gemacht, war zum Funkhaus in der Masurenallee gefahren,
hatte eine Führung mitgemacht, war einfach in ein Sendestudio gegangen
und hatte mich unter eine interviewte Schulklasse gemischt. Der Rundfunk
hatte mich fasziniert, ich trug mich mit dem Gedanken, Tonmeister zu werden.
Und in dieser kleinen Arolser Barock-Kirche hatte ich Ende 1959 eine erste
Live-Konzertaufnahme versucht, von der Gegenempore aus ganz bescheiden mit
meinem Telefunken Magnetophon KL 65 KS und einem Kristallmikrofon.
Die barocken Klangfiguren sind verhallt, geschwind packe ich meine wenigen
Sachen, gehe hinaus, nehme die alte Heimat wahr, schlafe bei den noch so
jung wirkenden, tüchtigen Eltern ein, tauche ab in eine Zwischenwelt,
überspiele vom H6-Line-Ausgang meine Aufnahme auf ein
Stereo-Spulentonbandgerät. Pro Sekunde passieren 19 Band-Zentimeter
den Aufnahmekopf, der auf zwei schmalen Spuren das schöne Konzert für
die Nachwelt verewigt. Für den nächsten Tag hatte ich um zwei gute
Boxen, einen Stereo-Verstärker und ein Stereo-Tonbandgerät gebeten.
"Was willscht noch alles, Wolfgang?" Noch einmal schlüpfe ich in mein
junges Ich. Der Chor versammelt sich im Musiksaal. Wo ist die aparte Choristin
mit dem Notenheft Nr. 3, die ich immer so verehrte? Ach, sie ist ja 2 Jahre
älter und hat schon Abitur gemacht. "Wolfgang will uns heute seine Aufnahme
vorspielen. Schmeiß mal an, wir hören."
Wie gewünscht ist alles aufgebaut und verkabelt. Das Bandgerät
kenne ich: mit dem Grundig TK 45 hatte ich im Jahr zuvor schon einen Vortrag
live aufgenommen. Der Braun-Verstärker ist erste Sahne. Die Boxen kommen
von Isophon, ich hatte eine davon schon in der Tanzstunde erlebt. Über
einem soliden Baßlautsprecher enthalten sie eine Kombination aus
Druck-Mitteltöner und zwei Hochtönern. Ein leises Summen signalisiert,
daß der Verstärker bereit ist. Ich starte das Band. Das Gloria
setzt ein. Der Raum ist erfüllt von himmlischen Klängen. Genau
ist auszumachen, wo die Akteure singen und spielen. Wir alle sind fasziniert.
"Gut der Mann. Wie hast du das gemacht, Wolfgang?" Ich öffne mein
Täschchen, hole das H6 hervor, erkläre dessen Technik, mir ist
es egal, ob man mich just in diesem Moment für verrückt hält.
Ein halbes Jahrhundert später werdet ihr erleben, daß man mit
einem so kompakten Gerät auf einem Festkörperspeicher von 3 mal
3 Millimeter Grundfläche derart lange Musikstücke und ganze Konzerte
aufnehmen und von dort wiedergeben kann. Ungläubige, erstarrte Gesichter.
Paßt auf, ihr könnt es hören: das H6 kopple ich an den
Verstärker, ein Sturm barocker Polyphonie bricht los. Ihnen, lieber
Herr Krüger, habe ich meine digitale Tonaufnahme auf Spule überspielt,
damit sie in Ihrem Archiv Platz finden kann. Ich danke für eure Mithilfe
und wünsche euch das Allerbeste. Gott möge euch schützen.
Und dann bin ich draußen. Sie werden sich an nichts erinnern. IH, die
von mir schüchtern verehrte und geliebte, habe ich beiseite genommen,
ihr noch schnell ein Amulett gegeben, darin die winzige Mikro-SDHC-Karte
mit meiner Aufnahme. Heb es gut auf, habe ich gesagt, und erst wenn du mal
Großmutter bist (was Gott gebe), dann mußt du es öffnen.
Was du darin findest, wird dir diese schöne heutige Musik zurückholen,
wenn es technisch möglich ist. Machs gut und grüß Deine Eltern,
die ich auch sehr verehre! Voller Liebe umarme ich sie, wie ich mich damals
nie getraut hätte. Wenig später durchschreite ich eine weiße
Wand, die mich von der Zukunft trennt. Krüger wird einige Zeit später
eine merkwürdig beschriftete BASF-Spule entdecken, sie auf das schuleigene
TK 45 legen und sich in wunderbare Klänge versenken.
IH hat mir 52 Jahre später eine Email geschickt, sie habe das Amulett
gut aufgehoben und es in einer stillen Stunde geöffnet. Die winzige
SDHC-Karte habe sie behutsam in einen Adapter gesteckt und diesen in ihr
Notebook, dessen Kopfhörerausgang an ihre Stereo-Anlage gekoppelt war.
Mit dem Windows-Media-Player habe sie dann in wunderbarer Tonqualität
das mit filigranen Instrumenten und kristallklaren Stimmen dargebotene Konzert
in der Arolser Stadtkirche gehört, das Konzert von 1962, und ihr sei
ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Ein Wunder, lieber
Wolfgang, damit hat sie ihre Mail geschlossen. Wieder einmal hat sich gezeigt,
wie einzigartig schön dieses Leben ist.
Es ist schön, weil man träumen und manchmal sogar Träume
verwirklichen kann - andere bleiben Fiktion, die die Wirklichkeit befruchtet.
Meine tatsächliche, mit dem Magnetophon 75, dem D 19 B und 9,5 cm/s
in jenem Oktober 1962 gemachte bescheidene Aufnahme fand letztmalig Verwendung
als Modulations-Test bei einem Amateurfunk-Rundspruch Ende 1966. Das Agfa-PE-Band
ist seitdem verschollen. Bachs wunderbares Magnificat, mein Lieblingswerk,
habe ich von 1995 an noch fünfmal live aufgenommen: ausschließlich
unter dem Dirigat des von mir sehr verehrten Maestro Siegfried Heinrich,
mit dem ich bis heute rund 34 Jahre zusammenarbeiten durfte.
Marburg, im März 2015 Wolfgang Näser