Textsorte: Parabel (gleichnishafte Darstellung / Erzählung)

Predigt zu Epheser 2,17-22

Pfarrer Oliver Henke, 18. Juni 2023, anläßlich des 50jährigen Bestehens des Ökumenischen Gemeinde-Zentrums "Thomaskirche" auf dem Oberen Richtsberg in Marburg

Liebe Gemeinde,

wir befinden uns auf einer Baustelle. Es ist kein Neubau. Die Fundamente sind nach menschlichen Maßstäben uralt, fast 2000 Jahre alt. Dem Bau sieht man an, dass er umgestaltet wurde. Immer haben Menschen versucht, ihn neu und den Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Ein paar Elemente sind unverändert geblieben. Das eine sind die uralten Fundamente. Das zweite ist der Eckstein. Auf diesem Punkt ruht die Statik.

Egal in welchem Gebäudeteil man sich befindet, ob in einem neueren oder in einem älteren Bauabschnitt, alle scheinen auf diesen Stein ausgerichtet zu sein. Schließlich fällt noch auf, dass die Großbaustelle nur einen Eingang hat. Es gibt viele Fenster und verschiedene Ausgänge, aber Zugang findet man nur an einer Stelle.

Hin und wieder stehen Leute kopfschüttelnd vor dem Gebäudekomplex und fragen sich: „Was soll das eigentlich sein?“ Andere gehen eilig vorbei, ärgern sich über den Lärm und den aufgewirbelten Staub und denken: „So ein altes Gemäuer. Das hat sich längst überlebt. Am besten sollte man es ganz abreißen, damit die Fläche wenigstens vernünftig genutzt werden kann.“ Dann gibt es noch die neugierigen Menschen, die sich auf die Baustelle trauen. Sie ist nicht umzäunt. Vor allem Kinder und junge Leute gucken hinein und suchen in einem Eckchen einen eigenen Raum und fangen an, ihn auszugestalten.

Ein Baustellenbesucher, der zum ersten Mal auf die Baustelle kommt, fragt sich, wer da eigentlich baut, und was, und wer die Planung zu verantworten hat. Er läuft außen herum und muss weit laufen, weil sich herausstellt, dass die Baustelle doch viel größer ist, als es zunächst den Anschein hat. Da endlich findet er das Hinweisschild, das heutzutage bei jeder Großbaustelle angebracht ist.

Darauf steht in verschiedenen Sprachen: Hier entsteht die eine, heilige, christliche und apostolische Kirche. Grundkapital: der Frieden, den Christus allen im Evangelium verkündigt hat. Mit Unterstützung durch alle Christen ... und dann folgt eine lange, lange Liste, die an ihrem Ende ständig erweitert wird. Grundsteinlegung: im 1. Jh n.Chr. durch die Apostel aufgrund der Propheten. Bauherr: Gott. Bauleitung: der Heilige Geist. Erster Entwurf: Eph 2,17-22 von der Paulusschule.

Kein Wunder, dass der Besucher ganz schnell den Überblick verliert. Bei den verschiedenen Leuten, die sich da aufhalten, ist nicht klar: Wer gehört dazu, ist also Mitbürgerin und Mitbürger oder Hausgenosse und wer ist nur zu Besuch? Ansonsten geht es zu wie auf anderen Baustellen auch. Es ist dreckig, staubig, es ist laut.

Manchmal geht die Arbeit gut voran, manchmal klappt nichts so recht. Ja, man sieht dem Bauwerk an, dass die Ausführung des Baus anders ausgeführt wird als es ursprünglich geplant war. Mitten im Raum verläuft die Spur einer Trennwand, die sehr dick gewesen sein muss. Eine im Fußboden eingelassene Platte erinnert daran: „Hier stand eine dicke Mauer, die die Evangelische von der Katholischen Kirche trennte. Die ökumenische Bewegung baute sie Schritt um Schritt ab.“ Es hat im Gebäude heftige Auseinandersetzungen gegeben, die Wände zum Einsturz brachten, und manchmal sind wohl auch Steine geflogen. Ist denn das Grundkapital, der von Christus verkündigte Friede aufgebraucht?

„Entschuldigen Sie, darf ich Ihnen helfen?“ Der grübelnde Besucher hat nicht bemerkt, dass eine freundliche alte Dame auf ihn zugekommen ist. „Ja, können Sie mir sagen, was aus dem Grundkapital geworden ist?“ „Das gibt es noch immer“, ist ihre Antwort. Der Besucher sieht sie zweifelnd an: „Ach ja, und warum streiten die Arbeiter dann so? Ich denke, es soll Frieden herrschen!“

Sie bemerkt den provozierenden Unterton, entgegnet aber gelassen: „Ich weiß, was Sie meinen, aber die Zeit, in der dieser Frieden vollkommen ist, ist noch nicht gekommen. Trotzdem ist er uns gegeben, nur hier geht es so menschlich zu wie auf der ganzen Welt. Wir haben selbst schon manchmal gedacht, der Frieden sei aufgebraucht oder verloren gegangen. Dabei ist nur falsch mit ihm gewirtschaftet worden. Mit dem Grundkapital ist es nämlich so wie mit einem Schatz. Vergräbt man ihn aus Angst, dann kann er nicht wirken, keiner kann sich an ihm freuen, und er kann sich auch nicht vermehren. Wuchert man aber mit dem Frieden und bringt ihn unter die Leute, vermehrt er sich von ganz allein. Wer ihn stehlen will, der hat nichts davon, denn was soll einer ganz allein mit dem Frieden anfangen? Keiner kann ihn für sich haben, dann wirkt er nicht und strahlt nichts aus.“

Der Besucher ist verdutzt. Doch dann fällt ihm wieder eine Frage ein: „Wenn das so ist, dann bringt den Frieden doch in die Welt hinaus, anstatt ewig auf dieser Baustelle herumzuwursteln. Da draußen gibt es so viel Unfrieden, dafür reicht euer Kapital gar nicht aus. Ein wenig friedlicher könnt ihrs aber doch machen.“

Die Frau seufzt einmal tief, bevor sie antwortet: „Ich verstehe sehr gut, was Sie meinen. Dauernd gehen unsere Leute ein und aus, nehmen Frieden mit und versuchen, ihn unter die Leute zu bringen. Sie bringen auch neue Leute mit, manche kommen auch von ganz allein. Aber wir können nicht alles stehen und liegen lassen und uns in die Welt verteilen, ohne zurückzukommen. Denn dann würde uns früher oder später das Kapital ausgehen. Wir würden mit der Zeit vergessen, woher wir es haben.

Der Frieden ist kein Kapital, das auf einem Konto ruht und für das man nur genügend Rücklagen bilden muss, um langfristig über die Runden zu kommen. Er wird uns immer neu geschenkt, wenn wir uns auf diesem Bau um den Eckstein versammeln und im Namen Jesu Christi Gottesdienst feiern.

Die Stirn des Besuchers legt sich in Falten: „Wie wird man hier denn Mitbewohner, also Mitarbeiter, äh also ich meine ...“ „Am Anfang steht die Taufe. Wer dazugehören will, der lässt sich taufen.“ antwortet die Frau. Der Besucher blickt sich um: „Gibt es denn keine Probezeit?“ „Von uns aus nicht. Es liegt natürlich bei Ihnen, sich mit der Entscheidung Zeit zu lassen und zu schauen, ob das hier ein Platz für Ihr Leben ist.“

Indem er sich weiter umschaut, sagt er: „Also, ich muss Ihnen ja ehrlich sagen, ich würde einiges anders machen. Also erstmal müssen die Kinder verschwinden, die haben auf einer Baustelle nichts verloren. Und das mit den sozialen, Sie nennen das wohl diakonische Einrichtungen ist ja ganz nett, aber sagen Sie mal ehrlich: Wäre das Kapital nicht besser aufgehoben?“

„Bevor die Kinder und die alten und kranken Menschen weggeschickt würden, müssten Sie erst den Eckstein rausschmeißen. Und dann fällt der ganze Bau zusammen. Es fehlen noch viele Bedürftige, die Jesus hier haben möchte, die aber bisher keinen Platz gefunden haben; Fremde, Flüchtlinge und noch mehr. Das Haus ist nicht nach menschlichen Maßstäben gebaut.“

Also, das muss ich mir erst noch durch den Kopf gehen lassen“, meint der Besucher: „Ich sehe mich noch ein bisschen um, wenn es Ihnen recht ist?“ Die junge Frau verabschiedet und geht zu einer nächsten Tür, auf der „Kirche 2060“ steht. Als der Besucher die Baustelle verlässt, fällt ihm ein Schild auf. „Also, das werde ich als erstes größer und deutlicher schreiben“, denkt er sich. Auf dem Schild steht: „Betreten der Baustelle ausdrücklich erwünscht." Amen