Deutsch im 20. Jahrhundert, Dr. W. Näser, Wintersemester 2007 / 08
Texte zur Lesung Dietmar Seiberts am 7. November 2007 im Rahmen
von "Deutsch im 20. Jahrhundert"
Dazu (bearb.) Tonaufnahme: Teil 4a
/ Teil 4b
...Sie fuhren durch eine der schönsten Gebirgslandschaften Europas, über die im Sommer wie im Winter Touristen wie die biblischen Heuschreckenschwärme herfielen, um sie in ihre Erinnerungen und Fotoalben aufzusaugen, und keine Region, kein Winkel zwischen Lindau und Flensburg schien abgelegen und verschlafen genug, als dass man nicht die Balkongeländer-, Blumenkästen- und Dachfrieskultur von hier dorthin transponiert hätte, aber sie schaute ihn an und sagte: "Du gefällst mir!".
Sie genossen einander, hörten Musik, scherzten, lachten, erzählten, hielten an jeder Raststätte an, beobachteten genervte Familien, Kinder, die quengelten und nach McDonalds schrien, Mütter, die an ihnen zerrten, Väter, die nach anderen Beinen starrten, frustriert, enttäuscht, und denen offenbar Maria nicht entging, Busse, die dauergewellte Rentnerinnen von Toilette zu Toilette schaukelten, und sie beide fühlten sich als verliebtes Paar in dieser illustren Gesellschaft, als einzige Menschen auf dem Planeten von einer guten Fee geküsst, zogen links vorbei und tappten im Überholrausch kurz hinter der italienischen Grenze in eine Radarfalle.
Als die Kelle des blau uniformierten Poliziotto sie in den Parkplatz wies, spiegelte sich in Marias Gesicht der Schrecken des Jüngsten Gerichts. "Ich wusste es", sagte sie, "es dauert nie lange, wenn es mir mal gut geht." Sie stieg mit ihm aus und versuchte, in fließendem Italienisch zu verhandeln. Thomas war fasziniert, wie klangvoll sie italienisch sprach, aber sie blieb erfolglos. Ihr Charme wollte nicht greifen, und Thomas schien es, dass es wegen ihrer Angst war, die sie dem Ordnungshüter gegenüber nicht unterdrücken konnte, und dieser spielte jetzt ein niederträchtiges Spiel mit ihr. Thomas verstand nicht, was er redete, aber die Gestik, mit der er immer wieder in seine Richtung deutete, und der herablassende Ton in seiner Stimme, während seine Augen sie von oben bis unten lüstern musterten, verrieten ihm, dass sie sicher erfolgreicher gewesen wäre, hätte sie ihn, den Deutschen, nicht im Schlepptau gehabt.
Als sie wieder im Auto saßen, Thomas eine empfindliche Geldbuße in bar abgedrückt hatte, zerrieb sie sich mit Selbstvorwürfen. Sie sei schuld daran. Sie habe ihn abgelenkt. Bis hin zu der mystischen Überzeugung, dass es ihretwegen passiert sei. Es sei die Strafe Gottes, die sie immer verfolge, wenn es ihr gerade mal gut ginge.
Thomas hatte Mühe, sie zu beruhigen und sie davon zu überzeugen, dass lediglich er es war, der zu schnell gefahren sei, basta. Sie treffe keine Schuld. Sie wollte ihm das Geld geben. Er verbot es ihr. "Die Hälfte", sagte sie, und sie einigten sich auf einen Kuss zur "Sühne" ihrer Tat. Thomas fand es anrührend, wie sie sich zierte, und dachte noch: Welch eine liebevolle Seele! Er glaubte, er würde diese Szene bald wieder vergessen, aber etwas in seinem Gehirn hatte nun registriert, dass man diese Frau mit Schuldgefühlen lenken konnte. Es war jetzt noch ohne Bedeutung und es war ihm auch nicht bewusst, aber es war wie ein Virus, der auf einer Festplatte lauerte und irgendwann beim Öffnen einer bestimmten Datei die empfindlich aufeinander abgestimmten Programme ungewollt verschaltete.
"Erzähl mir von deiner Tante. Wie ist sie so und was wird sie davon halten, wenn du einen anderen Mann mitbringst?", sagte Thomas schließlich. "Wenn sie dich kennen lernt, wird sie mich verstehen!" Und in einem nachdenklichen Ton fuhr sie fort, während sie in die vorbeifliegende Landschaft starrte: "Sie konnte meinen Mann nie leiden und hat nie verstanden, dass ich ihn geheiratet habe. Sie ist die Schwester meines Vaters. Sie hat nie geheiratet, weil... Ich glaube, sie ist über eine frühe Enttäuschung nie hinweggekommen und versucht jetzt jeden zu bekehren, der dabei ist, sich durch eine Heirat ins Unglück zu stürzen."
"Sie wird fürchten, dass ich dich heiraten will", scherzte er. "Und
sie wird dich vor diesem Unglück bewahren wollen."
"Sicher nicht", sagte sie knapp: "Mein Mann war jähzornig, er hat mich
geschlagen. Sie wusste das. Sie wird sehen, dass du anders bist, und sie
wird erleichtert sein." Maria befürchtete, dass Thomas jetzt nachhaken
würde. "Dein Mann hat dich geschlagen?"
"Ja", antwortete sie, und irgendwie wollte sie, dass er jetzt danach fragte.
Jetzt war ein guter Zeitpunkt. Sie fühlte sich von ihm geliebt und traute
sich, sich ihm zu öffnen, und so fuhr sie fort: "Und das war auch der
Grund, warum ich meine Tochter nachts aus dem Bett gerissen habe. Sie wollte
nicht. Sie wollte bei ihm bleiben, aber ich habe sie mitgenommen. Uns raste
ein betrunkener Motorradfahrer ins Auto, und sie starb im Krankenhaus. Mir
war klar, dass ich sie auf dem Gewissen hatte."
"Aber - es war der Motorradfahrer! Nur er hat das zu verantworten."
"Nein", sagte sie, "hätte ich sie nicht mitgenommen, wäre sie noch
am Leben. Sie wollte bei ihrem Vater bleiben."
"Aber du wolltest sie vor ihm schützen", sagte Thomas. "Ich wollte ihn
verletzen. Mir ging es in diesem Moment um mich und um ihn,
aber nicht um sie. Er hätte ihr nichts getan, das wusste ich.
Er vergötterte sie."
"Er hätte dich nicht schlagen dürfen", verteidigte Thomas sie,
aber sie schwieg. "Er hat es zu verantworten, nicht du", schob er
nach, aber sie sagte kein Wort mehr darüber, schaute aus dem Fenster,
sah die ersten Olivenhaine an ihnen vorbeiziehen und lenkte das Gespräch
wieder auf ihre Tante. "Sie hat eine kleine Plantage mit Olivenbäumen,
oben bei Pieve di Tremosine. Von ihrem Haus aus hat man eine wundervolle
Aussicht über den Lago di Garda."
Sie beschrieb ihm das Haus. Es hing an einem abschüssigen Felsen. Marias
Stimme verriet ihm aber, dass ihr zum Weinen war, und sie fuhr sich mit der
Hand vorsichtig unterm Auge entlang, prüfte im Spiegel an der Sonnenblende,
ob ihre Wimperntusche verlaufen war. Jetzt schwenkte sie wieder um und
knüpfte an ihre, wie sie meinte, Verantwortung für den Tod ihrer
Tochter an. "Darum bin ich Altenpflegerin geworden. Ich habe umgeschult und
wollte wieder etwas gut machen."
"Warum bist du nicht Kinderkrankenschwester oder etwas Ähnliches
geworden?"
"Das hätte mich zu viel an sie erinnert. Aber Altenpflegerin war auch
nicht der richtige Weg."
"Warum? Ich bin froh, dass du's bist. Es braucht dort Leute wie dich!"
"Aber ich weiß mittlerweile nicht mehr, ob es gut ist, was ich da tue,
oder ob es nicht vielleicht schon kriminell ist."
"Das klingt hart", sagte er erstaunt.
"Ja, denn die Pflege, die wir mittlerweile betreiben müssen, ist zutiefst
menschenunwürdig!" Sie schaukelte jetzt unruhig mit ihrem Bein, wie
sie immer schaukelte, wenn sie durch irgendetwas sehr erregt war.
[4b] "Man fragt sich jeden Abend, ob der Dienst, den man heute geschoben
hat, nicht schon - zumindest moralisch gesehen - eine Straftat war." [...]
"In meiner Zivildienstzeit..." Sie unterbrach ihn schroff: "Deine Zivildienstzeit
ist lange her. Du hast erzählt, dass ihr im Frühdienst mit
drei und im Spätdienst mit zwei Pflegekräften für neun
Bewohner zuständig wart, von denen sich zwei weitgehend selbst versorgten,
weil sie lediglich blind waren. Wir versorgen zu viert fünfundzwanzig
Bewohner, und die liegen alle fest im Bett. Du unterrichtest doch
Mathematik. Kannst du dir ein Bild davon machen, was sich da
geändert hat? Klar sind pflegefremde Tätigkeiten wie
Broteschmieren, mal ums Haus gehen weggefallen, und ein paar Sätze reden,
aber das gerade macht es ja so unmenschlich! Die Bewohner haben jetzt alle
Nasszellen auf ihren Zimmern, aber sie liegen fest im Bett. Sie haben nichts
mehr davon, und uns fehlt die Zeit, um dafür zu sorgen, dass ihr
Flüssigkeitsbedarf gedeckt ist. Man ist ungeduldig, wenn es mit dem
Schlucken nicht schnell genug geht; man schaut besorgt auf den Plan, wo die
zugeführte Flüssigkeit eingetragen werden soll, und wieder auf
die Uhr. Verstehst du, was ich meine? Und das jeden Tag! Und mit jedem Tag
gehst du deinem eigenen, noch perspektivloseren Alter entgegen - oder glaubst
du etwa wirklich, dass die Verhältnisse besser werden?"
Thomas schwieg nun betroffen, und nach einer Weile sagte sie - sie hatte sich wieder beruhigt: "Ich dürfte eigentlich mit dir so gar nicht reden, du bist ja schließlich Kunde mit deiner Mutter. Ja, schau mich nicht so an! In den Altenheimen, die privatisiert worden sind, sieht man das so. Da kann man sich ehrgeizige Konzepte nach Samariter-Art nicht leisten. Die dementen Alten werden sich nicht mehr beschweren, und ihre Kinder und die Behörden sind lediglich an einer kostengünstigen Verwaltung dieses Elends interessiert. Es geht ums Überleben der Einrichtungen am Markt und um unsere Arbeitsplätze."
Zeit verstrich, und sie sagte: "Entschuldige, tut mir leid. Deiner Mutter..." Thomas unterbrach sie: "Ich bin froh, dass sie bei euch ist. dass ihre letzte Lebensphase nicht angenehmer verläuft, als es jetzt der Fall ist, habe lediglich ich mir vorzuwerfen, nicht du." Und, als ob eine Aufzeichnung seiner Stimme weiterredete, hörte er sich sagen: "Ich bin sicher, dass Du alles Menschenmögliche für sie tust."
Während er das aussprach, erinnerte er sich, dass es die Worte seiner Frau waren. Sie hatte diese Formulierung ihm gegenüber verwendet, um sein Gewissen zu beruhigen. Alles Menschenmögliche, dachte nun der Deutschlehrer in ihm. Alles dem Menschen Mögliche. Wie grotesk wirkte doch diese Redewendung in einer Sprache, in der man sie auch mit Begriffen wie Konzentrationslager und Endlösung der Judenfrage in Verbindung bringen konnte. Es würde sicher wieder eine Zeit kommen, in der man Begriffe wie vielleicht demoskopischer Faktor oder Überalterung der Gesellschaft mit einer ähnlich menschenverachtenden Bedeutung besetzen werde.
Maria schaute nachdenklich durchs Fenster und sagte in sich gekehrt: "Ja, sicher, ich kümmere mich um deine Mutter, so gut ich kann", und, nachdem sie sich der Tragweite dieser Aussage bewusst wurde, fügte sie hinzu: "Ich bin aber auch nicht immer auf Station, wie du weißt."
Sie schwiegen eine Weile, und offensichtlich bedauerte Maria ihren Ausbruch. Dann entschuldigte sie sich: "Ich dachte halt nur, wenigstens du würdest mich besser verstehen, denn in dem Job wird man irgendwann selbst zum seelischen Pflegefall."
HTML: W. Näser * Stand: 15.11.2k7