Zahlendreher - eine Betrachtung
von Wolfgang Näser, Marburg
Am 28. Juli wurde ich 82 Jahre alt.
Bachs Todestag - mein Geburtstag. Welche Ehre, ich denke an meine
vielen Live-Aufnahmen von Bach-Konzerten, niemand konnte sie besser
gestalten als Siegfried Heinrich, der mich oft an meinem Ehrentag
anrief und mir auf dem Klavier ein Ständchen brachte.
Um mich herum im kleinen Zimmer zahlreiche technische Geräte: als
neuestes ein preiswertes chinesisches Smartphone, das Oukitel C 36
mit seinem enormen internen Speicher und der eingesetzten winzigen
1-Terabyte-Karte, auf die ich in nur wenigen Tagen mehr als 400
Gigabytes an Daten einkopiert habe, darunter mehrere große
Literatursammlungen (Projekt Gutenberg u.a.), dann den Inhalt meiner
beiden Homepages u.a. Mit dem C 36 kann ich nun überall ins Internet
gehen, tausende von Informationen sammeln, dazu Breaking News von
verschiedenen TV-Sendern empfangen, in Offline-Wörterbüchern
nachschlagen u.a. Via Facebook hagelt es (Ping!) liebe Glückwünsche.
Solche Smartphones (meines kostete gerade einmal mitsamt
Speicherkarte nur rund 185 Euro) machen mich und andere Nutzer, die
nicht in erster Linie spielen und sonstwie "zocken" wollen, zu
Bildungsbürgern - eine Chance, die es so nicht gab, wenn ich mal
einen Zahlendreher mache und aus der "82" eine "28" wird, also mein
28. Geburtstag ansteht.
Damals, Mitte 1971, hatte ich gerade an der
Philipps-Universität Marburg mein Staatsexamen für das Höhere
Lehramt in den Fächern Germanistik (Deutsch), Anglistik (Englisch)
und Pädagogik bestanden, arbeitete noch ein paar Monate als
Wissenschaftliche Hilfskraft im Englischen Seminar und ging -
anscheinend - einer lang geplanten beruflichen Zukunft entgegen: dem
Amt als gymnasialer Lehrer. Oder nicht? Mein Germanistikprüfer hatte
mich gefragt, ob ich Interesse hätte, als Wissenschaftlicher
Mitarbeiter BAT IIa in seinem Institut, dem Deutschen Sprachatlas,
anzufangen. Meine berufliche Zukunft war also noch in der Schwebe.
Just in dieser Zeit aber gestaltete sich mein Leben auch in einer
gänzlich anderen parallelen Bahn. Rechts im bescheidenen Dachzimmer
unseres neuen Hauses (in dem ich als Abiturient noch die gesamte
elektrische Keller-Installation verlegt hatte) türmten sich gänzlich
untypische Geräte: ein (selbstgebauter) Sender und ein Empfänger für
den Kurzwellen-Amateurfunkdienst, eine 500-Watt-Leistungsendstufe,
wenig später noch ein Siemens Blatt- oder besser Funkfernschreiber
mit allen Zusatzgeräten, ein (ebenfalls umgebautes) Tonbandgerät
(für protokollarische Aufzeichnungen) u.a.. Tausende von QSOs
(Funkverbindungen) waren mit dieser bescheidenen Anlage
zustandegekommen, und 1968 hatte ich, nicht einmal 2 Jahre nach
meiner Lizenzierung, die Goldene Leistungsnadel des Deutschen
Amateur-Radio-Clubs erarbeitet; zudem war ich bereits seit Ende 1967
Vorsitzender des DARC-Ortsverbandes Arolsen. Wenige Tage später
sollte diese noch der amplitudenmodulierten
KW-Kommunikation verpflichtete Anlage ersetzt werden durch einen Einseitenband
(SSB)-Transceiver, den ich mittels genauer Durchsicht der Platine
zum Leben erweckt hatte; mit dem HW100 und der Linearendstufe
gelangen die ersten richtigen Weitverkehrs-Verbindungen mit den USA
u.a., draußen spannte sich eine Multibandantenne, die W3DZZ, über
die Straße, sie war Ende 1966 mit tatkräftiger Hilfe der Arolser
Feuerwehr errichtet worden.
Der SSB-Sendeempfänger arbeitete noch mit einem geliehenen, ziemlich
primitiv aufgebauten Original-Netzteil, ich wollte ein eigenes,
besseres bauen. Und so werkelte ich an einem Tisch in unserem
Heizungskeller an dem für das Netzteil vorgesehenen Chassis, bis
mich meine Mutter nach oben rief: Herr Professor Schmitt war am
Telefon. Mit der frohen Kunde, der Antrag für meine Stelle im
Sprachatlas sei genehmigt worden. Im Oktober 1971 trat ich die
Stelle an, wenig später nahm ich teil an der Einweihung der
Ampex-Videoanlage, zu deren Anschaffung ich das Sprachlabor beraten
hatte.
So weit die Vorbemerkungen, die mich bzw. uns ins Jahr 1971
zurückführen und als Ouvertüre dienen sollen für eine
Bestandsaufnahme, wie es vergleichsweise in dieser mehr als ein
halbes Jahrhundert zurückliegenden Zeit mit unserem Leben bestellt
war - einem Leben, das man sich heute, im Jahre 2025, so nicht
vorstellen kann und das viele, die jene Zeit als rückständig
ansehen, vielleicht verblüffen könnte.
W i e lebten wir als Durchschnitts-Bürger / innen einer weniger als
6000 Einwohner zählenden kleinen Stadt und welche Möglichkeiten
boten sich uns, unser Leben kreativ und gewinnbringend zu gestalten?
Wie war es mit Verkehr, Kommunikation, Informationsgewinnung,
Weiterbildung ? Welchen Enwicklungs-Stand hatte die zivilisatorische
Technologie und wie konnte man sie auch ohne irgendwelche
Privilegien nutzbar machen? Ich nenne hier einige Schlüsselbegriffe:
Telefon, Radio, Fernsehen, Computer, automobilen Fortschritt,
Flugverkehr, Raumfahrt, und sage schon hier, daß es alles bereits
gab. Aber in welcher Form? Nun, nehmen wir Platz in Wells'
Zeitmaschine und reisen wir zurück ....
ins kleine Arolsen, den ehemaligen Regierungs-Sitz des Fürsten von
Waldeck und Pyrmont, es liegt im Landkreis Waldeck (Autokennzeichen
WA), hat ein dem Vorbild von Versailles nachempfundenes Residenz-Schloß
(in dessen Konzerten berühmte Künstlerinnen und Künstler auftreten),
bis vor einigen Jahren noch ein Goethe-Institut (über das im
Fernsehen 1960 berichtet worden war) und, als Nachfolger der UNRRA,
den Suchdienst vom Internationalen Roten Kreuz in Genf,
hier, beim International Tracing Service, liegen Millionen
von Akten ehemaliger Insassen von Konzentrations- und Arbeitslagern,
aus deren Durchsicht Entschädigungs-Ansprüche abgeleitet werden
können; hier habe ich seit September 1964 insgesamt 22 Monate
während meines Studiums in der Historischen Abteilung und als
Übersetzer gearbeitet. Arolsen hat (aus SS-Zeiten) ein weitläufiges
Kasernen-Gelände mit großem Exerzierplatz und nun ein eigenes Kino.
Hier treffen wir die belgischen "Jagers te Paard", ein aus
ehemaligen Besatzungs-Soldaten hervorgegangenes belgisch-flämisches
Panzeraufklärer-Regiment; mit diesen Soldaten wird bald eine
Freundschaft entstehen, die dazu führt, daß das durch die
Formel-1-Rennen bekannte Zolder zu Arolsens Partnerstadt
wird. Das Offiziers-Kasino liegt mitten an der Großen Allee und wird
viele Jahre später als Altersheim dienen. Die einzigartige Große
Allee mit ihren imposanten Bäumen durchquert die Stadt über
einen Kilometer lang.
In diesem kleinen Arolsen, genau gesagt in der
Professor-August-Bier-Straße, erhebt sich dieser ehemalige
stud./cand.phil. Wolfgang Näser aus seinem Bett und geht die Treppe
hinunter, wo seine tüchtige Mutter das Frühstück bereitet hat. Schon
früher, als er noch zur Schule ging, war das Radio gelaufen und
hatte Wolfgang so gern vom HR 2 in der Sendung "Vor dem Alltag"
Stücke aus der barocken Klassischen Musik gehört. Er wird bald in
seinen Fiat 770 steigen und gen Marburg fahren, wo er ein kleines,
extrem bescheidenes Zimmer im 4. Stock des Eckhauses in der
Universitätsstraße 2 bewohnt. Er wird dort seinen halbtägigen Dienst
im Englischen Seminar verrichten.
Wir hatten seit 1956 zunächst einen Schwarzweiß- und seit 1968 einen
Farbfernseher, dann ein Radio mit Plattenspieler und natürlich auch
Telefon. Das Farbfernsehen mit Walter Bruchs technisch
hervorragendem PAL-System hatte Kanzler Willy Brandt im
September 1967 auf der Berliner Funkausstellung eröffnet. Eine
Studio-Farbkamera mit ihrem superempfindlichen Bild-Wandler kostete
300.000 DM. Die gesamte Fernsehtechnik kam noch aus Deutschland. Auf
dem Dachboden hatte ich diverse Yagi-Antennen montiert, mit denen
auch Regionalprogramme und sogar das jeden Tag per Hubschrauber
eingeflogene belgische TV-Programm (BRT) vom Vortage zu empfangen
waren. Wir genossen die "Bunten Abende", Quiz-Sendungen und Filme im
Fernsehen und hörten ab und zu Schallplatten. Seit 1959 nutzte ich
zunächst ein in vielen Schritten umgebautes, bescheidenes
Telefunken-"Magnetophon KL 65 KS", das mir viele wertvolle
Rundfunk-Mitschnitte verschafft und schon 1959 den
Englisch-Unterricht in meiner Klasse der Christian-Rauch-Schule
bereichert hatte; im Herbst 1968 kaufte ich aus eigenen Mitteln ein
damals ultramodernes, technisch wegweisendes
NordMende-Vierspurgerät, das ich 1969 als studentische Hilfskraft
bei der Betreuung des Tonarchivs vom Englischen Seminar verwendete,
dessen Schallplatten zu Hause mit einem ebenfalls selbst verdienten
hochwertigen "Dual 2019" abtastete und auf Band überspielte. Unser
"´Radio", das war eine Musiktruhe mit Stereo-tüchtigem Empfangsteil.
Selbst konzipierte Amateurfunk-Rundspruchsendungen hatte ich
Ende 1966 mit dem auf 19 cm/s umgebauten "Magnetophon" auf meinen
KW-Sender gegeben und die Ausstrahlung unten mit der Musiktruhe
abgehört; aufgrund einer Verordnung war so etwas bald nicht mehr
möglich. Ich hatte mir aus Baukasten-Teilen eine oben von meinem
Zimmer aus per Fernsteuerung drehbare UKW-Antenne gebaut, mit der
ich meinen Lieblings-Sender, den British Forces Broadcasting Service
(BFBS Cologne) in Herford, empfangen und das reine British
English des witzigen Moderators Richard Astbury genießen
konnte. Über einen selbstgebauten Verstärker gelangten die begehrten
Programme zu einer Tonsäule mit vier Isophon-Lautsprechern,
die ich mir als Schüler um 1960 gebaut und per Fahrrad von der
Schreinerei in Niederwaroldern bis nach Arolsen transportiert hatte;
damals gab es ja auch noch die Schlagerbörse von Hanns
Verres, die ich als Schüler so gern über meine "Schallwand" abgehört
hatte, aber das alles ist 1971 bereits "Geschichte". Schule,
Bundeswehr, Suchdienst, Studium, alles liegt hinter mir.
Mitte 1969, noch während unseres Studiums, war "Apollo 11" auf dem
Mond gelandet: "The eagle has landed" unterbrach eine Vorlesung im
"Audimax". Am 31. Juli 1971 wurde Dave Scott, Kommandant von
Apollo 15, der erste Mensch, der mit einem Fahrzeug auf dem Mond
herumfuhr.
Computer steuerten bereits solche außergewöhnliche
Mond-Missionen und zuvor andere Raumflüge, doch hatte ich bislang
von "Elektronenrechnern" überwiegend nur in abenteuerlichen Filmen
erfahren, so in "Goldfinger" mit Sean Connery und Gert Fröbe. Daß
fünfzig Jahre später jedes smarte Mobiltelefon ein
Vielfaches der damaligen Rechenleistung absolvieren konnte, hätten
selbst Leute vom Fach nicht ahnen können. Aufklappbare
Mobil-"Telefone" hatte, als Utopie, in den 60er Jahren aber schon
die Besatzung des "Raumschiffs Enterprise".
Computer, später auch Mainframes genannt, waren noch immer
tonnenschwere Maschinen, an denen sich Magnetbandspulen in
atemraubender Geschwindigkeit drehten und zwischendurch abbremsten.
Als "Festplatte" hätte man lediglich das wichtigste Accessoire eines
üppigen Mahles betrachtet und Floppy Disks höchstens
in märchenhaften Comics angesiedelt. Ein Freund und Schulkamerad
hatte an der Universität mit dem (Lochstreifen-) Programmieren
solcher Ungetüme bereits Erfahrungen gemacht, für mich waren sie
böhmische Dörfer. Niemand hätte sich damals einen kleinen
stationären Schreibtisch-PC, einen Laptop, ein Tablet,
ein Smartphone oder die Geräte-Kopplung über Blue Tooth
vorstellen können. Arbeits- und Freizeitwelt lebten
noch in anderen Bahnen. Angst vor Elektro-Smog durch
digitale Sendesignale gab es nicht - die Zeit war noch nicht reif
für allerorten errichtete Funkmasten für mobile
Kommunikation.
Digitale Daten-Scheiben wie eine Compact Disc (CD)
oder Digital Versatile Disc (DVD) hätte man ebenso
unvorstellbar gehalten. Hätte ich prophezeiht, es werde mal eine
Zeit kommen, da man auf einem nur etwa 4x4 Millimeter großen
Speicher die Buch- und Textbestände einer mittleren
Institutsbibliothek speichern könnte, hätte man mich
glatt für verrückt gehalten und angesichts meiner Vorstellungen von
sogenannten Festkörper-Speichern die Herren im weißen Kittel
gerufen. - Nein, die eigentlichen Daten-Speicher waren noch
immer Schallplatte und Tonband. Daß beide einmal zu
den vergleichswiese langlebigsten gehören würden, das war den
Anwendern ebenso wenig bewußt. Sprache und Musik "am laufenden Band"
- das faszinierte noch immer jeden, der auch nur ansatzweise
technisches Verständnis hatte. Ein nur 6,25 mm breites Band lief an
irgendwelchen "Köpfen" vorbei und sorgte dafür, daß aus meisterhaft
gefertigten Lautsprechern Töne und Melodien erklangen, die man sich
auch in natura nicht besser und klanggetreuer hätte
vorstellen können. Grundig galt lange als "der Welt größte
Tonbandgeräte-Fabrik", bevor es japanischen Ingenieuren gelang, die
1935 mit dem ersten "Magnetophon" in Berlin vorgestellte Technologie
weiter zu perfektionieren und einen Tonkopf zu entwickeln, dem man
100.000 Betriebsstunden attestierte. In den Rundfunk-und
Produktions-Studios dominierten die "Bandmaschinen" mit den großen
Offenspulen-Tellern, Reportagen wurden mit den "Nagras" gemacht, und
es gab bald sogar ein ebenfalls von der Firma Kudelski gefertigtes
feinmechanisches Wunderwerk, die nur zigarettenschachtelgroße Mini-Nagra,
die auf nur 3,81 mm breitem Magnetband monaural und stereophon in
bester Qualität aufzeichnete.
"High Fidelity": Ohne daß es den Menschen bewußt war, hatte
die analoge Medientechnik damals, um 1971 herum, ihren
performativen Höhepunkt erreicht und gezeigt, daß man Ton, Bild
und Film in beeindruckender Qualität produzieren und
wiedergeben konnte. Und die Fototechnik hatte im
aufstrebenden Nachkriegsdeutschland einen Stand erreicht, der als
Optimum galt und lange dafür sorgte, daß selbst Jahrzehnte später
auch und gerade in Fachkreisen bezweifelt wurde, mit digitalen
Mitteln eine gleich gute, ja perfekte Qualität zu erreichen..
Wer Texte schreiben wollte, tat das auf der guten alten
Schreibmascbine, besser Begüterte nutzten eine IBM-Kugelkopfmaschine,
bei der sich die Typenhebel nicht verheddern konnten. Wer etwas
wissen wollte, griff entweder zum meist nur einbändigen Lexikon oder
ging in die Stadtbibliothek. In Lehrveranstaltungen
wurde der Oberhead-Projektor genutzt oder ein Spulentonbandgerät,
so während meiner Ferien-Lehrtätigkeit am Lessing-Kolleg schon das
erwähnte Nordmende-Vierspur-Stereo-"8001/T4", das ich auch im
Sprachlabor verwendet hatte. Lehr- und Übungstexte wurden meist als
Matrizen-Druck ausgegeben. Wer sich in den
Seminar-Bbliotheken oder den kleinen Kabinen des UB-Lesesaals
eindringend informieren wollte, mußte exzerpieren - entweder
per Hand oder Maschine - und man lernte dabei mehr, weil intensiver,
als bei heutigen schnellen, flüchtigen Internet-Recherchen. Das
Fotokopieren war noch relativ teuer. Die Seminararbeiten entstanden
natürlich per Maschine; Bilder und Skizzen wurden auf gesonderen
Blättern beigefügt. In den Seminaren konnte man, so man eins hatte,
mit kleinem, primitiven Batteriegerät mitschneiden - so wie ich
einst in Klafki-Vorlesungen zur Pädagogik (ich hörte sie ab, als ich
in Arolsen mein bescheidenes erstes Auto reparierte) oder bei der Fremdsprachen-Tagung
vom Frühjahr 1970 im Haus Sonnenberg (Oberharz), wo ich das
Vergnügen hatte, den Chomsky-Kritiker Mario Wandruszka in
seinem Referat "Sprachen - vergleichbar und unvergleichlich" zu
erleben und auf Band zu verewigen.
Fast alle Schulen und andere Lehr- bzw. Bildungsanstalten waren mit
Sprachlabors ausgerüstet. Von den Bandsalat-anfälligen
ehemaligen Spulen-Geräten ("Elektron" u.a.) wurde, so bald es
Audio-Qualität und Betriebssicherheit zuließen, zur 1963 in den
Markt eingeführten Kompakt-Cassetten-Technik übergegangen.
Ansonsten gab es in einigen Hörsälen noch recht klobige,
stromfressende, nur umständlich handhabbare Epi- und Diaskope,
die später durch Beamer ersetzt wurden.
Das Leben an den deutschen Universitäten wurde geprägt von den
Nachwehen der sogenannten "68er" Revolution."Macht kaputt, was Euch
kaputt macht". Es würde viele Seiten beanspruchen, von diesen wilden
Jahren zu berichten: Begonnen hatte es mit den Blumenkindern
von Woodstock; "Ho-ho-Ho-chi-minh", dem Protest gegen den
völkerrechtswidrigen Vietnam-Krieg; ein unscheinbares rotes
Büchlein, die Mao-Bibel, wurde zum Katechismus linksradikaler
Studenten, es kam eine Zeit tabuloser, ungezügelter Sexualität, die
jungen Mädchen und Frauen liefen in ultrakurzen Miniröcken umher, in
den Schulen wurden Liebeszimmer gefordert, ein Professor hatte Hasch(isch)
als Droge zur Bewußtseinsänderung propagiert, alles wurde
hinterfragt (oft stundenlang diskutiert) und Promiskuität
zu alternativer Lebensform; mit der "Kommune Eins" kam auch der
Slogan "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum
Establishment", also dem "etablierten" Bürgertum, das man bekämpfte.
"Gaudeamus igitur?" Zu sehr eingenommen war ich von Studium, Hobby
und fordernder Vollzeit-Ferienarbeit, um, aus einer "spießigen
Kleinstadt" kommend und entsprechend "sozialisiert", von diesem
revolutionären sozio-kulturellen Wandel in irgendeiner Form zu
profitieren.
"Unter den Talaren / Muff von tausend Jahren". Die damals gerade
eingeweihten sogenannten "Türme" der "PhilFak" in der Marburger
Wilhelm-Röpke-Straße wurden zu einem willkommenen Angriffs-Ziel, was
unter anderem dazu führte, daß z.B. im "Block A" das Germanistische
Universität umbenannt wurde in "Liebknecht-Luxemburg-Institut", der
Slogan "schlagt die Germanistik Kunz und Klein" publiziert wurde,
daß Vorlesungen durch von außerhalb angereiste Roll-Kommandos
gestört und angesehene Professoren (wie der im Slogan erwähnte
Novellenhistoriker Josef Kunz) aus ihren Lehrstühlen
herausgeekelt und durch drittklassige "Hochschullehrer" ersetzt
wurden. Überall hingen Wandzeitungen, die schönen lichten Räume
wurden zu einem Saustall. In den damals erschienenen, ziemlich
feizügig aufgemachten "Marburger Blättern" war u.a. zum "Zündeln"
aufgerufen worden. Als ich nach meinem Examen meinen ehemaligen
Lehrer und jetzigen Chef L.E. Schmitt im Herbst 1971 zu einer
Versammlung fuhr, ging es um die Umwandlung der ehemaligen Fakultäten
in Fachbereiche. Ob damit wirklich ein Fortschritt erzielt
wurde, darf bis heute angezweifelt werden. Die "68er" haben somit
einen Wandel herbeigeführt, der in auch noch diesem Jahr 1971 das
Leben an der Philipps-Universität nachhaltig beeinflußte.
Das wachsende Informations-Bedürfnis einer sich rapide wandelnden
Gesellschaft konnte nur in Spezial-Bibliotheken befriedigt werden -
so in Schulen, Universitäten oder, wenn vorhanden, meist
bescheidenen Stadt-Bibliotheken. Wenn ich zu Hause bei meinen Eltern
etwa was über "exotische" Personen oder schwierige Sachverhalte
wissen wollte, hätte ich lange suchen müssen. So etwas wie eine Internet-Recherche
hätte man sich kaum in den kühnsten Träumen vorgestellt - aber,
halt, der damalige Klafki-Assisent Dr. Freudenstein prophezeihte
1968 nach einem USA-Aufenthalt, es werde mal eine Zeit geben, in der
jeder Studierende in seinem Zimmer über einen Bildschirm
Informationen abrufen könnte (später wollte er von deser Aussage
nichts mehr wissen). Weltweite Kommunikation via Amateurfunk
konnte nur betreiben, wer entsprechende Prüfungen abgelegt hatte,
die benötigten Geräte kaufen oder gar selbst bauen konnte. Mein 1974
vorgestellter Plan, Mundartforschung über Funk
durchzuführen, wurde rigoros abgelehnt. Daß es Jahrzehnte später in
allen Kontinenten, ja sogar von primitiven Hütten aus möglich sein
würde, mittels eines sogenannten Internets in
Lichtgeschwindigkeit per Computer oder sogar winzige Telefone
weltweit Daten auszutauschen, galt bis auf weiteres als
unerreichbare Utopie. Der Empfang von Fernsehprogrammen über geostationäre
Satelliten wurde angedacht, aber noch nicht verwirklicht.
Unsere erste "Schüssel" montierte ich erst im Jahre 1990, sie
kostete damals samt Empfänger rund 1000 DM.
Bildung und Wissenschaft im Jahre 1971 in einer kleinen Stadt - auf
ein damals nicht als solches empfundenes Minimum reduziert ? Man
konnte, so seltsam es klingt, auch so leben, wenn man bedenkt,
wieviel informationeller Schrott heute von Fernsehen und Internet im
Minutenrhythmus auf die Nutzer einströmt und immer mehr Menschen
(auch Kinder und Heranwachsende) von der digitalen Lebensweise
überfordert sind. Vermittelt wurde das, was - aus vergleichender
Sicht - zu enem menschenwürdigen Leben unerläßlich war und im
Idealfall, das heißt bei optimal zweckdienlicher Nutzung, dieses
Leben bereichern konnte. Und so lebten die Menschen damals, 1971,
ohne die ganze Nacht durchlaufendes Fernsehprogramm, ohne Internet,
ohne Smartphone, ohne Chat und, was ganz wichtig und konstitutiv
ist, ohne jegliche Form schulischer und anderer Diffamierung über
Medien, wie es heute, 2025, zur traurigen Realität geworden ist und
in manchem jungen Leben unlöschbare Traumata hinterlassen hat.
Kommunikation: man r e d e t e miteinander, sei es an der Uni, im
schulischen und privaten Leben, auch auf Spielplätzen. Es gab keine
einsamen Wesen, die vor sich hinstarrten und seltsam wischten, um
irgendetwas zu erfahren, hoch- oder runterzuladen. Interaktion durch
verbale Kommunikation, das bedeutete auch, daß kaum jemand
allein gelassen wurde und sich immer jemand fand, der helfen oder
trösten konnte; an Schul-Psychologen aus dieser Zeit kann
ich mich nicht erinern; es gab einfach keinen Bedarf, und
Solidarität wurde praktiziert. Das halte ich für einen ganz
wichtigen, ja entscheidenden Wesenszug jener Zeit, und diese Art
direkt-menschlichen Handelns war unabhängig von den jeweiligen
finanziellen Verhältnissen. Niemand wurde gemobbt, weil er
nicht die neuesten Klamotten trug oder das neueste Handy besaß, das
in unserer Gegenwart übrigens auch gern einem Raub oder Diebstahl
zum Opfer fällt. Ideologisch motivierte Messer-Attacken,
Vergewaltigungen, Erpressung im Schüler-Milieu
oder gar "Ehrenmorde" (welch ein perverses Wort!) gab es
nicht.
Abgesehen von harmlosen Scherzen (z.B. Räucherkerzen im
Reli-Unterricht, Mäuse an einem Kartenständer) waren Lehrer und
Schüler sicher. Das "krieg ich ne Fünf, stech ich dich ab" kam es
erst später, als die sog. permissive society auch in unserem
Land realisiert wurde. Über sogenannte Queer-Beauftragte
hätte man ganz einfach den Kopf geschüttelt und auf kommunaler Ebene
so etwas wie "Pride"-Demos wegen der organisatorischen
Belastungen als unzumutbar empfunden. Auch im noch geteilten
Deutschland wurde Berlin schon lange als "deutsche
Hauptstadt" tituliert. Daß hier einmal Messer-Attacken,
Brandanschläge und Bandenkriminalität in der Tatgesordnung
sein könnten, hätte man für einen mehr als schlechten Scherz
gehalten. Im deutschen Fernsehen galt, wie auch in anderen Medien,
der Grundsatz, daß hier keine Gewalt verherrlicht werden
dürfe. Ganze Kaufhausregale mit Computer-Gewaltspielen und mit
zahlreichen "Tatorten" und anderen zum Teil übelst gewalthaltigen
Krimis übersättigte Fernsehwochen hätten als verabscheuenswürdige
Dystopien gegolten ebenso wie die Möglichkeit, daß in der
Öffentlichkeit einmal Polizeibeamte und Rettungsdienste
von chaotischen Gewalttätern angegriffen und solche Täter
möglicherweise nach Feststellung der Personalien auf freien Fuß
gesetzt würden.
Dies nur grob skizziert zum Leben im Jahre 1971, als ich Ende Juli
meinen 28. Geburtstag feiern konnte und das geheimnisvolle, utopisch
empfundene "Jahr 2000" in nebulöser Ferne erschien. Und alles
natürlich aus meiner ganz persönlichen Sicht. Vieles könnte
nachgetragen werden (was vielleicht noch geschieht).
Meine These: damals war nicht alles besser, doch ging es den
Menschen so gut, daß dies ihnen nicht bewußt war.
Wirklich? Alles ist bekanntlich relativ. 1971 - ein Jahr des U m b r
u c h s. Politisch, wirtschaftlich, technisch. In Bonn regierte eine
sozial-liberale Koalition. Willy Brandt hatte "mehr Mut zur
Demokratie" angemahnt; der sogenannte Grundlagenvertrag
sollte ein Jahr später die Beziehungen zur "DDR" aufwerten. Im
Gefolge der "68er" gab es Studentenunruhen, die 1970
gegründete Rote-Armee-Fraktion trat auf den Plan, damit auch
in Rundfunk und Medien, und was die Luftfahrt angeht, so
erschien der "Jumbo-Jet" am Himmel, die Boeing 747 mit den neuen,
wirtschaftlichen Fan-Triebwerken. Die Autos wurden immer
schneller, hatten deutlich mehr an PS, im Grunde gab es, verglichen
mit heute, damals fast alles an zivilisatorisch wichtigen
Innovationen - alles außer dem, was man heute unter digital
subsumiert. 1971: also eine noch gänzlich analoge Zeit mit
dem Unterschied, daß viele Prozesse, also auch die Übermittlung,
das Verstehen und Bearbeiten von Informationen, deutlich
langsamer abliefen und daß, verglichen mit heute, im täglichen Leben
vieles noch in ausschließlich menschlicher Interaktion
ablief. Und das ist im Grunde der springende Punkt, wenn wir
vergleichen: die unermeßliche Menge an Informationen, die
heute täglich über uns hereinbricht und in der Folge nicht selten
mit psychopathologischen Problemen einhergeht, gab es noch
nicht in dem von mir willkürlich herangezogenen Jahr 1971.
Zuletzt könnten wir uns fragen: was wäre, wenn die Menschen
heute auf all ihre hyperzivilisatorischen Gadgets verzichten müßten:
Kein Tablet, kein iPhone, kein PC, kein Internet, kein
24-Stunden-Fernsehen, kein willkürlich-diffamierendes Filmen und
Hochladen in zweifelhafte Social-Media-Portale? Keine zwanghafte
Abhängigkeit von "angesagten" Klamotten, Filmen u.a.? Könnte ich mir
persönlich vorstellen, auf alle die wertvollen Informationsquellen
zu verzichten, die ich hier in meinem kleinen Zimmer, auf einer
Parkbank oder sonstwo erschließen könnte? Ich weiß es nicht. Wie ist
es mit Euch? Könntet Ihr Euch eine solche Askese als nicht
schmerzhaft vorstellen und sie auch kompromißlos praktizieren?
Denkt nach und kommt zu einem tragfähigen Resultat, das wünsche ich
Euch von Herzen.
Begonnen am 20.7.2025, Stand 1.8.2025. Änderungen und Ergänzungen
vorbehalten.