Zahlendreher - eine Betrachtung
    von Wolfgang Näser, Marburg
    
    Am 28. Juli wurde ich 82 Jahre alt.
    Bachs Todestag - mein Geburtstag. Welche Ehre, ich denke an meine
    vielen Live-Aufnahmen von Bach-Konzerten, niemand konnte sie besser
    gestalten als Siegfried Heinrich, der mich oft an meinem Ehrentag
    anrief und mir auf dem Klavier ein Ständchen brachte.
    Um mich herum im kleinen Zimmer zahlreiche technische Geräte: als
    neuestes ein preiswertes chinesisches Smartphone, das Oukitel C 36
    mit seinem enormen internen Speicher und der eingesetzten winzigen
    1-Terabyte-Karte, auf die ich in nur wenigen Tagen mehr als 400
    Gigabytes an Daten einkopiert habe, darunter mehrere große
    Literatursammlungen (Projekt Gutenberg u.a.), dann den Inhalt meiner
    beiden Homepages u.a. Mit dem C 36 kann ich nun überall ins Internet
    gehen, tausende von Informationen sammeln, dazu Breaking News von
    verschiedenen TV-Sendern empfangen, in Offline-Wörterbüchern
    nachschlagen u.a. Via Facebook hagelt es (Ping!) liebe Glückwünsche.
    Solche Smartphones (meines kostete gerade einmal mitsamt
    Speicherkarte nur rund 185 Euro) machen mich und andere Nutzer, die
    nicht in erster Linie spielen und sonstwie "zocken" wollen, zu
    Bildungsbürgern - eine Chance, die es so nicht gab, wenn ich mal
    einen Zahlendreher mache und aus der "82" eine "28" wird, also mein
    28. Geburtstag ansteht.
    
    Damals, Mitte 1971, hatte ich gerade an der
    Philipps-Universität Marburg mein Staatsexamen für das Höhere
    Lehramt in den Fächern Germanistik (Deutsch), Anglistik (Englisch)
    und Pädagogik bestanden, arbeitete noch ein paar Monate als
    Wissenschaftliche Hilfskraft im Englischen Seminar und ging -
    anscheinend - einer lang geplanten beruflichen Zukunft entgegen: dem
    Amt als gymnasialer Lehrer. Oder nicht? Mein Germanistikprüfer hatte
    mich gefragt, ob ich Interesse hätte, als Wissenschaftlicher
    Mitarbeiter BAT IIa in seinem Institut, dem Deutschen Sprachatlas,
    anzufangen. Meine berufliche Zukunft war also noch in der Schwebe.
    Just in dieser Zeit aber gestaltete sich mein Leben auch in einer
    gänzlich anderen parallelen Bahn. Rechts im bescheidenen Dachzimmer
    unseres neuen Hauses (in dem ich als Abiturient noch die gesamte
    elektrische Keller-Installation verlegt hatte) türmten sich gänzlich
    untypische Geräte: ein (selbstgebauter) Sender und ein Empfänger für
    den Kurzwellen-Amateurfunkdienst, eine 500-Watt-Leistungsendstufe,
    div. Meßgeräte, wenig später noch ein Siemens Blatt- oder besser
    Funkfernschreiber mit allen Zusatzgeräten, ein (ebenfalls
    umgebautes) Tonbandgerät (für protokollarische Aufzeichnungen) u.a..
    Tausende von QSOs (Funkverbindungen) waren mit dieser bescheidenen
    Anlage zustandegekommen, und 1968 hatte ich, nicht einmal 2 Jahre
    nach meiner Lizenzierung, die Goldene Leistungsnadel des Deutschen
    Amateur-Radio-Clubs erarbeitet; zudem war ich bereits seit Ende 1967
    Vorsitzender des DARC-Ortsverbandes Arolsen. Wenige Tage später
    sollte diese noch der  amplitudenmodulierten
    KW-Kommunikation verpflichtete Anlage ersetzt werden durch einen Einseitenband
    (SSB)-Transceiver, den ich mittels genauer Durchsicht der Platine
    zum Leben erweckt hatte; mit dem HW100 und der Linearendstufe
    gelangen die ersten richtigen Weitverkehrs-Verbindungen mit den USA
    u.a., draußen spannte sich eine Multibandantenne, die W3DZZ, über
    die Straße, sie war Ende 1966 mit tatkräftiger Hilfe der Arolser
    Feuerwehr errichtet worden. 
    Der SSB-Sendeempfänger arbeitete noch mit einem geliehenen, ziemlich
    primitiv aufgebauten Original-Netzteil, ich wollte ein eigenes,
    besseres bauen. Und so werkelte ich an einem Tisch in unserem
    Heizungskeller an dem für das Netzteil vorgesehenen Chassis, bis
    mich meine Mutter nach oben rief: Herr Professor Schmitt war am
    Telefon. Mit der frohen Kunde, der Antrag für meine Stelle im
    Sprachatlas sei genehmigt worden. Im Oktober 1971 trat ich die
    Stelle an, wenig später nahm ich teil an der Einweihung der
    Ampex-Videoanlage, zu deren Anschaffung ich das Sprachlabor beraten
    hatte.
    
    So weit die Vorbemerkungen, die mich bzw. uns ins Jahr 1971
    zurückführen und als Ouvertüre dienen sollen für eine
    Bestandsaufnahme, wie es vergleichsweise in dieser mehr als ein
    halbes Jahrhundert zurückliegenden Zeit mit unserem Leben bestellt
    war - einem Leben, das man sich heute, im Jahre 2025, so nicht
    vorstellen kann und das viele, die jene Zeit als rückständig
    ansehen, vielleicht verblüffen könnte. 
    
    W i e lebten wir als Durchschnitts-Menschen in einer weniger als
    6000 Einwohner zählenden kleinen Stadt und welche Möglichkeiten
    boten sich uns, unser Leben kreativ und gewinnbringend zu gestalten?
    Wie war es mit Verkehr, Kommunikation, Informationsgewinnung,
    Weiterbildung ? Welchen Enwicklungs-Stand hatte die zivilisatorische
    Technologie und wie konnte man sie auch ohne irgendwelche
    Privilegien nutzbar machen? Ich nenne hier einige Schlüsselbegriffe:
    Telefon, Radio, Fernsehen, Computer, automobilen Fortschritt,
    Flugverkehr, Raumfahrt, und sage schon hier, daß es alles bereits
    gab. Aber in welcher Form? Nun, nehmen wir Platz in Wells'
    Zeitmaschine und reisen wir zurück ....
    ins kleine Arolsen, den ehemaligen Regierungs-Sitz des Fürsten von
    Waldeck und Pyrmont, es liegt im Landkreis Waldeck (Autokennzeichen
    WA), hat ein dem Vorbild von Versailles nachempfundenes Residenz-Schloß
    (in dessen Konzerten berühmte Künstlerinnen und Künstler auftreten),
    bis vor einigen Jahren noch ein Goethe-Institut (über das im
    Fernsehen 1960 berichtet worden war) und, als Nachfolger der UNRRA,
    den Suchdienst vom Internationalen Roten Kreuz in Genf,
    hier, beim International Tracing Service, liegen Millionen
    von Akten ehemaliger Insassen von Konzentrations- und Arbeitslagern,
    aus deren Durchsicht Entschädigungs-Ansprüche abgeleitet werden
    können; hier habe ich seit September 1964 insgesamt 22 Monate
    während meines Studiums in der Historischen Abteilung und als
    Übersetzer gearbeitet. Arolsen hat (aus SS-Zeiten) ein weitläufiges
    Kasernen-Gelände mit großem Exerzierplatz und sogar eigenem
    Truppen-Kino. Hier treffen wir die belgischen "Jagers te Paard",
    ein aus ehemaligen Besatzungs-Soldaten hervorgegangenes
    belgisch-flämisches Panzeraufklärer-Regiment; mit diesen Soldaten
    wird bald eine Freundschaft entstehen, die dazu führt, daß das durch
    die Formel-1-Rennen bekannte Zolder zu Arolsens
    Partnerstadt wird. Das Offiziers-Kasino liegt mitten an der Großen
    Allee und wird viele Jahre später als Altersheim dienen. Die
    einzigartige Große Allee mit ihren imposanten Bäumen
    durchschneidet die Stadt über einen Kilometer lang.
    In diesem kleinen Arolsen, genau gesagt in der
    Professor-August-Bier-Straße, erhebt sich der ehemalige
    stud./cand.phil. Wolfgang Näser aus seinem Bett und geht die Treppe
    hinunter, wo seine tüchtige Mutter das Frühstück bereitet hat. Schon
    früher, als er noch zur Schule ging, hatte er beim Frühstück so gern
    vom HR 2 in der Sendung "Vor dem Alltag" von den Eltern als ziemlich
    spröde empfundene Stücke aus der barocken Klassischen Musik gehört.
    Er wird bald in seinen Fiat 770 steigen und gen Marburg fahren, wo
    er ein kleines, extrem bescheidenes Zimmer im 4. Stock des Eckhauses
    in der Universitätsstraße 2 bewohnt. Als Wissenschaftliche
    Hilfskraft mit Abschluß wird er dort den Rest seines halbtägigen
    Dienstes im Englischen Seminar verrichten.
    
    Wir hatten seit 1956 zunächst einen Schwarzweiß- und seit 1968 einen
    Farbfernseher, dann ein Radio mit Plattenspieler und natürlich auch
    Telefon. Das Farbfernsehen mit Walter Bruchs technisch
    hervorragendem PAL-System hatte Kanzler Willy Brandt im
    September 1967 auf der Berliner Funkausstellung eröffnet. Eine
    Studio-Farbkamera mit ihrem superempfindlichen Bild-Wandler kostete
    300.000 DM. Die gesamte Fernsehtechnik kam noch aus Deutschland. Auf
    dem Dachboden hatte ich diverse Yagi-Antennen montiert, mit denen
    auch Regionalprogramme und sogar das jeden Tag per Hubschrauber
    eingeflogene belgische TV-Programm (BRT) vom Vortage zu empfangen
    waren. Wir genossen die "Bunten Abende", Quiz-Sendungen und Filme im
    Fernsehen und hörten ab und zu Schallplatten. Seit 1959 nutzte ich
    zunächst ein in vielen Schritten umgebautes, bescheidenes
    Telefunken-"Magnetophon KL 65 KS", das mir viele wertvolle
    Rundfunk-Mitschnitte verschafft und schon 1959 den
    Englisch-Unterricht in meiner Klasse der Christian-Rauch-Schule
    bereichert hatte; im Herbst 1968 kaufte ich aus eigenen Mitteln ein
    damals ultramodernes, technisch wegweisendes
    NordMende-Vierspurgerät, das ich 1969 als studentische Hilfskraft
    bei der Betreuung des Tonarchivs vom Englischen Seminar verwendete,
    dessen Schallplatten zu Hause mit einem ebenfalls selbst verdienten
    hochwertigen "Dual 2019" abtastete und auf Band überspielte. Unser
    "´Radio", das war eine Musiktruhe mit Stereo-tüchtigem Empfangsteil.
    Selbst konzipierte Amateurfunk-Rundspruchsendungen hatte ich
    Ende 1966 mit dem auf 19 cm/s umgebauten "Magnetophon" auf meinen
    KW-Sender gegeben und die Ausstrahlung unten mit der Musiktruhe
    abgehört; aufgrund einer Verordnung war so etwas bald nicht mehr
    möglich. Ich hatte mir aus Baukasten-Teilen eine oben von meinem
    Zimmer aus per Fernsteuerung drehbare UKW-Antenne gebaut, mit der
    ich meinen Lieblings-Sender, den British Forces Broadcasting Service
    (BFBS Cologne) in Herford, empfangen und das reine British
      English des witzigen Moderators Richard Astbury genießen
    konnte. Über einen selbstgebauten Verstärker gelangten die begehrten
    Programme zu einer Tonsäule mit vier Isophon-Lautsprechern,
    die ich mir als Schüler um 1960 gebaut und ziemlich abenteuerlich
    per Fahrrad von der Schreinerei in Niederwaroldern bis nach Arolsen
    transportiert hatte; damals gab es ja auch noch die Schlagerbörse
    von Hanns Verres, die ich als Schüler so gern über meine
    "Schallwand" abgehört hatte, aber das alles ist 1971 bereits
    "Geschichte". Schule, Bundeswehr, Suchdienst, Studium, alles liegt
    hinter mir.
    
    Mitte 1969, noch während unseres Studiums, war "Apollo 11" auf dem
    Mond gelandet: "The eagle has landed" unterbrach eine Vorlesung im
    "Audimax". Am 31. Juli 1971 wurde Dave Scott, Kommandant von
    Apollo 15, der erste Mensch, der mit einem Fahrzeug auf dem Mond
    herumfuhr. 
    Computer steuerten bereits solche außergewöhnliche
    Mond-Missionen und zuvor andere Raumflüge, doch hatte ich bislang
    von "Elektronenrechnern" überwiegend nur in abenteuerlichen Filmen
    erfahren, so in "Goldfinger" mit Sean Connery und Gert Fröbe. Daß
    fünfzig Jahre später jedes smarte Mobiltelefon ein
    Vielfaches der damaligen Rechenleistung absolvieren konnte, hätten
    selbst Leute vom Fach nicht ahnen können. Aufklappbare
    Mobil-"Telefone" hatte, als Utopie, in den 60er Jahren aber schon
    die Besatzung des "Raumschiffs Enterprise". 
    Computer, später auch Mainframes genannt, waren noch immer
    tonnenschwere Maschinen, an denen sich Magnetbandspulen in
    atemraubender Geschwindigkeit drehten und zwischendurch abbremsten.
    Als "Festplatte" hätte man lediglich das wichtigste Accessoire eines
    üppigen Mahles betrachtet und Floppy Disks höchstens
    in märchenhaften Comics angesiedelt. Ein Freund und Schulkamerad
    hatte an der Universität mit dem (Lochstreifen-) Programmieren
    solcher Ungetüme bereits Erfahrungen gemacht, für mich waren sie
    böhmische Dörfer. Niemand hätte sich damals einen kleinen
    stationären Schreibtisch-PC, einen Laptop, ein Tablet,
    ein Smartphone oder die Geräte-Kopplung über Blue Tooth
    vorstellen können. Arbeits- und Freizeitwelt lebten
    noch in anderen Bahnen. Angst vor Elektro-Smog durch
    digitale Sendesignale gab es nicht - die Zeit war noch nicht reif
    für allerorten errichtete Funkmasten für mobile
    Kommunikation.
      
      Digitale Daten-Scheiben wie eine Compact Disc (CD)
    oder Digital Versatile Disc (DVD) hätte man ebenso
    unvorstellbar gehalten. Hätte ich prophezeiht, es werde mal eine
    Zeit kommen, da man auf einem nur etwa 4x4 Millimeter großen
      Speicher die Buch- und Textbestände einer mittleren
      Institutsbibliothek speichern könnte, hätte man mich
    glatt für verrückt gehalten und angesichts meiner Vorstellungen von
    sogenannten Festkörper-Speichern die Herren im weißen Kittel
    gerufen. - Nein, die eigentlichen Daten-Speicher waren noch
    immer Schallplatte und Tonband. Daß beide einmal zu
    den vergleichswiese langlebigsten gehören würden, das war den
    Anwendern ebenso wenig bewußt. Sprache und Musik "am laufenden Band"
    - das faszinierte noch immer jeden, der auch nur ansatzweise
    technisches Verständnis hatte. Ein nur 6,25 mm breites Band lief
    geräuschlos an irgendwelchen "Köpfen" vorbei und sorgte dafür, daß
    aus meisterhaft gefertigten Lautsprechern Töne und Melodien
    erklangen, die man sich auch in natura nicht besser und
    klanggetreuer hätte vorstellen können. Grundig galt lange
    als "der Welt größte Tonbandgeräte-Fabrik", bevor es japanischen
    Ingenieuren gelang, die 1935 mit dem ersten "Magnetophon" in Berlin
    vorgestellte Technologie weiter zu perfektionieren und einen Tonkopf
    zu entwickeln, dem man 100.000 Betriebsstunden zutraute. In den
    Rundfunk-und Produktions-Studios dominierten die "Bandmaschinen" mit
    den großen Offenspulen-Tellern, Reportagen wurden mit den "Nagras"
    gemacht, und es gab bald sogar ein ebenfalls von der Firma Kudelski
    gefertigtes feinmechanisches Wunderwerk, die nur
    zigarettenschachtelgroße Mini-Nagra, die auf nur 3,81 mm
    breitem Magnetband monaural und stereophon in bester Qualität
    aufzeichnete. 
    "High Fidelity": Ohne daß es den Menschen bewußt war, hatte
    die analoge Medientechnik damals, um 1971 herum, ihren
    performativen Höhepunkt erreicht und gezeigt, daß man Ton, Bild
    und Film in beeindruckender Qualität produzieren und
    wiedergeben konnte. Und die Fototechnik hatte im
    aufstrebenden Nachkriegsdeutschland einen Stand erreicht, der als
    Optimum galt und lange dafür sorgte, daß selbst Jahrzehnte später
    auch und gerade in Fachkreisen bezweifelt wurde, mit digitalen
    Mitteln eine gleich gute, ja perfekte Qualität zu erreichen.. 
    
    Wer Texte schreiben wollte, tat das auf der guten alten
    Schreibmascbine, besser Begüterte nutzten eine IBM-Kugelkopfmaschine,
    bei der sich die Typenhebel nicht verheddern konnten. Wer etwas
    wissen wollte, griff entweder zum meist nur einbändigen Lexikon oder
    ging in die Stadtbibliothek. In Lehrveranstaltungen
    wurde der Overhead-Projektor genutzt oder ein Spulentonbandgerät,
    so während meiner Ferien-Lehrtätigkeit am Lessing-Kolleg schon das
    erwähnte Nordmende-Vierspur-Stereo-"8001/T4", das ich auch im
    Sprachlabor verwendet hatte. Lehr- und Übungstexte wurden meist als
    Matrizen-Druck ausgegeben. Wer sich in den
    Seminar-Bbliotheken oder den kleinen Kabinen des UB-Lesesaals
    eindringend informieren wollte, mußte exzerpieren - entweder
    per Hand oder Maschine - und man lernte dabei mehr, weil intensiver,
    als bei heutigen schnellen, flüchtigen Internet-Recherchen. Das
    Fotokopieren war noch relativ teuer. Die Seminararbeiten entstanden
    natürlich per Maschine; Bilder und Skizzen wurden auf gesonderen
    Blättern beigefügt. In den Seminaren konnte man, so man eins hatte,
    mit kleinem, primitiven Batteriegerät mitschneiden - so wie ich
    einst in Klafki-Vorlesungen zur Pädagogik (ich hörte sie ab, als ich
    in Arolsen mein bescheidenes erstes Auto reparierte) oder bei der Fremdsprachen-Tagung
    vom Frühjahr 1970 im Haus Sonnenberg (Oberharz), wo ich das
    Vergnügen hatte, den Chomsky-Kritiker Mario Wandruszka in
    seinem Referat "Sprachen - vergleichbar und unvergleichlich" zu
    erleben und auf Band zu verewigen.
    Fast alle Schulen und andere Lehr- bzw. Bildungsanstalten waren mit
    Sprachlabors ausgerüstet. Von den Bandsalat-anfälligen
    ehemaligen Spulen-Geräten ("Elektron" u.a.) wurde, so bald es
    Audio-Qualität und Betriebssicherheit zuließen, zur 1963 in den
    Markt eingeführten Kompakt-Cassetten-Technik übergegangen.
    Ansonsten gab es in einigen Hörsälen noch recht klobige,
    stromfressende, nur umständlich handhabbare Epi- und Diaskope,
    die später durch Beamer ersetzt wurden. 
    
    Das Leben an den deutschen Universitäten wurde geprägt von den
    Nachwehen der sogenannten "68er" Revolution."Macht kaputt, was Euch
    kaputt macht". Es würde viele Seiten beanspruchen, von diesen wilden
    Jahren zu berichten: Begonnen hatte es mit den Blumenkindern
    von Woodstock; "Ho-ho-Ho-chi-minh", dem Protest gegen den
    völkerrechtswidrigen Vietnam-Krieg; ein unscheinbares rotes
    Büchlein, die Mao-Bibel, wurde zum Katechismus linksradikaler
    Studenten, es kam eine Zeit tabuloser, ungezügelter Sexualität, die
    jungen Mädchen und Frauen liefen in ultrakurzen Miniröcken umher, in
    den Schulen wurden Liebeszimmer gefordert, ein Professor hatte Hasch(isch)
      als Droge zur Bewußtseinsänderung propagiert, alles wurde 
      hinterfragt (oft stundenlang diskutiert) und Promiskuität
    zu alternativer Lebensform; mit der "Kommune Eins" kam auch der
    Slogan "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum
    Establishment", also dem "etablierten" Bürgertum, das man bekämpfte.
    "Gaudeamus igitur?" Zu sehr eingenommen war ich von Studium, Hobby
    und fordernder Vollzeit-Ferienarbeit, um, aus einer "spießigen
    Kleinstadt" kommend und entsprechend "sozialisiert", von diesem
    revolutionären sozio-kulturellen Wandel in irgendeiner Form zu
    profitieren.
    
    "Unter den Talaren / Muff von tausend Jahren". Die damals gerade
    eingeweihten sogenannten "Türme" der "PhilFak" in der Marburger
    Wilhelm-Röpke-Straße wurden zu einem willkommenen Angriffs-Ziel, was
    unter anderem dazu führte, daß z.B. im "Block A" das Germanistische
    Universität umbenannt wurde in "Liebknecht-Luxemburg-Institut", der
    Slogan "schlagt die Germanistik Kunz und Klein" publiziert wurde,
    daß Vorlesungen durch von außerhalb angereiste Roll-Kommandos
    gestört und angesehene Professoren (wie der im Slogan erwähnte
    Novellenhistoriker Josef Kunz) aus ihren Lehrstühlen
    herausgeekelt und durch drittklassige "Hochschullehrer" ersetzt
    wurden. Überall hingen Wandzeitungen, die schönen lichten Räume
    wurden zu einem Saustall. In den damals erschienenen, ziemlich
    feizügig aufgemachten "Marburger Blättern" war u.a. zum "Zündeln"
    aufgerufen worden. Als ich nach meinem Examen meinen ehemaligen
    Lehrer und jetzigen Chef L.E. Schmitt im Herbst 1971 zu einer
    Versammlung fuhr, ging es um die Umwandlung der ehemaligen Fakultäten
    in Fachbereiche. Ob damit wirklich ein Fortschritt erzielt
    wurde, darf bis heute angezweifelt werden. Die "68er" haben somit
    einen Wandel herbeigeführt, der in auch noch diesem Jahr 1971 das
    Leben an der Philipps-Universität nachhaltig beeinflußte. 
    
    Das wachsende Informations-Bedürfnis einer sich rapide wandelnden
    Gesellschaft konnte nur in Spezial-Bibliotheken befriedigt werden -
    so in Schulen, Universitäten oder, wenn vorhanden, meist
    bescheidenen Stadt-Bibliotheken. Wenn ich zu Hause bei meinen Eltern
    etwa was über "exotische" Personen oder schwierige Sachverhalte
    wissen wollte, hätte ich lange suchen müssen. So etwas wie eine Internet-Recherche
    hätte man sich kaum in den kühnsten Träumen vorgestellt - aber,
    halt, der damalige Klafki-Assisent Dr. Freudenstein prophezeihte
    1968 nach einem USA-Aufenthalt, es werde mal eine Zeit geben, in der
    jeder Studierende in seinem Zimmer über einen Bildschirm
    Informationen abrufen könnte (später wollte er von deser Aussage
    nichts mehr wissen). Weltweite Kommunikation via Amateurfunk
    konnte nur betreiben, wer entsprechende Prüfungen abgelegt hatte,
    die benötigten Geräte kaufen oder gar selbst bauen konnte. Mein 1974
    vorgestellter Plan, Mundartforschung über Funk
    durchzuführen, wurde rigoros abgelehnt. Daß es Jahrzehnte später in
    allen Kontinenten, ja sogar von primitiven Hütten aus möglich sein
    würde, mittels eines sogenannten Internets in
    Lichtgeschwindigkeit per Computer oder sogar winzige Telefone
    weltweit Daten auszutauschen, galt bis auf weiteres als
    unerreichbare Utopie. Der Empfang von Fernsehprogrammen über geostationäre
      Satelliten wurde angedacht, aber noch nicht verwirklicht.
    Unsere erste "Schüssel" montierte ich erst im Jahre 1990, sie
    kostete damals samt Empfänger rund 1000 DM. 
    
    Bildung und Wissenschaft im Jahre 1971 in einer kleinen Stadt - auf
    ein damals nicht als solches empfundenes Minimum reduziert ? Man
    konnte, so seltsam es klingt, auch so leben, wenn man bedenkt,
    wieviel informationeller Schrott heute von Fernsehen und Internet im
    Minutenrhythmus auf die Nutzer einströmt und immer mehr Menschen
    (auch Kinder und Heranwachsende) von der digitalen Lebensweise
    überfordert sind. Vermittelt wurde das, was - aus vergleichender
    Sicht - zu enem menschenwürdigen Leben unerläßlich war und im
    Idealfall, das heißt bei optimal zweckdienlicher Nutzung, dieses
    Leben bereichern konnte. Und so lebten die Menschen damals, 1971,
    ohne die ganze Nacht durchlaufendes Fernsehprogramm, ohne Internet,
    ohne Smartphone, ohne Chat und, was ganz wichtig und konstitutiv
    ist, ohne jegliche Form schulischer und anderer Diffamierung über
    Medien, wie es heute, 2025, zur traurigen Realität geworden ist und
    in manchem jungen Leben unlöschbare Traumata hinterlassen hat. 
    
    Kommunikation: man r e d e t e miteinander, sei es an der Uni, im
    schulischen und privaten Leben, auch auf Spielplätzen. Es gab keine
    einsamen Wesen, die vor sich hinstarrten und seltsam wischten, um
    irgendetwas zu erfahren, hoch- oder runterzuladen. Interaktion durch
    verbale Kommunikation, das bedeutete auch, daß kaum jemand
    allein gelassen wurde und sich immer jemand fand, der helfen oder
    trösten konnte; an Schul-Psychologen aus dieser Zeit kann
    ich mich nicht erinern; es gab einfach keinen Bedarf, und
    Solidarität wurde praktiziert. Das halte ich für einen ganz
    wichtigen, ja entscheidenden Wesenszug jener Zeit, und diese Art
    direkt-menschlichen Handelns war unabhängig von den  jeweiligen
    finanziellen Verhältnissen. Niemand wurde gemobbt, weil er
    nicht die neuesten Klamotten trug oder das neueste Handy besaß, das
    in unserer Gegenwart übrigens auch gern einem Raub oder Diebstahl
    zum Opfer fällt. Ideologisch motivierte Messer-Attacken,
      Vergewaltigungen, Erpressung im Schüler-Milieu
    oder gar "Ehrenmorde" (welch ein perverses Wort!) gab es
    nicht. 
    Abgesehen von harmlosen Scherzen (z.B. Räucherkerzen im
    Reli-Unterricht, Mäuse an einem Kartenständer) waren Lehrer und
    Schüler sicher. Das "krieg ich ne Fünf, stech ich dich ab" kam es
    erst später, als die sog. permissive society auch in unserem
    Land realisiert wurde. Über sogenannte Queer-Beauftragte
    hätte man ganz einfach den Kopf geschüttelt und auf kommunaler Ebene
    so etwas wie "Pride"-Demos wegen der organisatorischen
    Belastungen als unzumutbar empfunden. Auch im noch geteilten
    Deutschland wurde Berlin schon lange als "deutsche
      Hauptstadt" tituliert. Daß hier einmal Messer-Attacken,
    Brandanschläge und Bandenkriminalität in der Tatgesordnung
    sein könnten, hätte man für einen mehr als schlechten Scherz
    gehalten. Im deutschen Fernsehen galt, wie auch in anderen Medien,
    der Grundsatz, daß hier keine Gewalt verherrlicht werden
    dürfe. Ganze Kaufhausregale mit Computer-Gewaltspielen und mit
    zahlreichen "Tatorten" und anderen zum Teil übelst gewalthaltigen
    Krimis übersättigte Fernsehwochen hätten als verabscheuenswürdige
    Dystopien gegolten ebenso wie die Möglichkeit, daß in der
    Öffentlichkeit einmal Polizeibeamte und Rettungsdienste
    von chaotischen Gewalttätern angegriffen und solche Täter
    möglicherweise nach Feststellung der Personalien auf freien Fuß
    gesetzt würden.
    
    Dies nur grob skizziert zum Leben im Jahre 1971, als ich Ende Juli
    meinen 28. Geburtstag feiern konnte und das geheimnisvolle, utopisch
    empfundene  "Jahr 2000" in nebulöser Ferne erschien. Und alles
    natürlich aus meiner ganz persönlichen Sicht. Vieles könnte
    nachgetragen werden (was vielleicht noch geschieht). 
    
    Meine These: damals war nicht alles besser, doch ging es den
      Menschen so gut, daß dies ihnen nicht bewußt war. 
    Wirklich? Alles ist bekanntlich relativ. 1971 - ein Jahr des U m b r
    u c h s. Politisch, wirtschaftlich, technisch. In Bonn regierte eine
    sozial-liberale Koalition. Willy Brandt hatte "mehr Mut zur
    Demokratie" angemahnt; der sogenannte Grundlagenvertrag
    sollte ein Jahr später die Beziehungen zur "DDR" aufwerten. Im
    Gefolge der "68er" gab es Studentenunruhen, die 1970
    gegründete Rote-Armee-Fraktion trat auf den Plan, damit auch
    in Rundfunk und Medien, und was die Luftfahrt angeht, so
    erschien der "Jumbo-Jet" am Himmel, die Boeing 747 mit den neuen,
    wirtschaftlichen Fan-Triebwerken. Die Autos wurden immer
    schneller, hatten deutlich mehr an PS, im Grunde gab es, verglichen
    mit heute, damals fast alles an zivilisatorisch wichtigen
    Innovationen - alles außer dem, was man heute unter digital
    subsumiert. 1971: also eine noch gänzlich analoge Zeit mit
    dem Unterschied, daß viele Prozesse, also auch die Übermittlung,
      das Verstehen und Bearbeiten von Informationen, deutlich
    langsamer abliefen und daß, verglichen mit heute, im täglichen Leben
    vieles noch in ausschließlich menschlicher Interaktion
    ablief. Und das ist im Grunde der springende Punkt, wenn wir
    vergleichen: die unermeßliche Menge an Informationen, die
    heute täglich über uns hereinbricht und in der Folge nicht selten
    mit psychopathologischen Problemen einhergeht, gab es noch
    nicht in dem von mir willkürlich herangezogenen Jahr 1971. 
    
    Zuletzt könnten wir uns fragen: was wäre, wenn die Menschen
    heute auf all ihre hyperzivilisatorischen Gadgets verzichten müßten:
    Kein Tablet, kein iPhone, kein PC, kein Internet, kein
    24-Stunden-Fernsehen, kein willkürlich-diffamierendes Filmen und
    Hochladen in zweifelhafte Social-Media-Portale? Keine zwanghafte
    Abhängigkeit von "angesagten" Klamotten, Filmen u.a.? Könnte ich mir
    persönlich vorstellen, auf alle die wertvollen Informationsquellen
    zu verzichten, die ich hier in meinem kleinen Zimmer, auf einer
    Parkbank oder sonstwo erschließen könnte? Ich weiß es nicht. Wie ist
    es mit Euch? Könntet Ihr Euch eine solche Askese als nicht
      schmerzhaft vorstellen und sie auch kompromißlos praktizieren?
    Denkt nach und kommt zu einem tragfähigen Resultat, das wünsche ich
    Euch von Herzen. 
    
    Begonnen am 20.7.2025, Stand 10.8.2025. Änderungen und Ergänzungen
    vorbehalten.