Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Alexandra (=Doris Treitz, 1942-1979): "Mein Freund, der Baum ist
tot"
Ich wollt' dich längst schon wieder sehn,
mein alter Freund aus Kindertagen,
ich hatte manches dir zu sagen
und wußte, du wirst mich verstehn.
Als kleines Mädchen kam ich schon zu dir
mit all den Kindersorgen,
ich fühlte mich bei dir geborgen,
und aller Kummer flog davon;
hab ich in deinem Arm geweint,
strichst du mit deinen grünen Blättern
mir übers Haar, mein alter Freund.
Mein Freund, der Baum, ist tot,
er fiel im frühen Morgenrot.
Du fielst heut' früh, ich kam zu spät,
du wirst dich nie im Wind mehr wiegen,
du mußt gefällt am Wege liegen,
und mancher, der vorübergeht,
der achtet nicht den Rest von Leben
und reißt an deinen grünen Zweigen,
die sterbend sich zur Erde neigen.
Wer wird mir nun die Ruhe geben,
die ich in deinem Schatten fand:
mein bester Freund ist mir verloren,
der mit der Kindheit mich verband.
Mein Freund, der Baum, ist tot,
er fiel im frühen Morgenrot.
Bald wächst ein Haus aus Glas und Stein,
dort, wo man ihn hat abgeschlagen,
bald werden graue Mauern ragen,
dort, wo er liegt im Sonnenschein.
Vielleicht wird es ein Wunder geben,
ich werde heimlich darauf warten,
vielleicht blüht vor dem Haus ein Garten,
und er erwacht zu neuem Leben.
Doch ist er dann noch schwach und klein,
und wenn auch viele Jahre gehn,
er wird nie mehr derselbe sein.
Mein Freund, der Baum, ist tot
er fiel im frühen Morgenrot.
Wird ergänzt * Layout: Dr. W. Näser, MR 10.2.2002