Der Abschied von Rudolf
oder: Wehmütiges und Irrationales in einer so rationalen Zeit

Wie wankelmütig bin ich doch! Oder ist es nur, weil man sich dieses furchtbare Abwägungs-Denken angewöhnt hat? Immer Hin und Her, Für und Wider, Vorteil und Nachteil. Ja, habe ich gedacht, der alte Wagen, ich behalte ihn, und dann fahren wir, zu den Hinkelsteinen, nach Naumburg an der Saale und vielleicht sogar nach Bunzlau, und es geht über die Autobahn mit 130 oder 140, vorn quält sich der Motor einen ab, die Karosse vibriert, die Lager sind ausgeschlagen, und es gibt immer wieder etwas zu reparieren. Ich, der Depp mit dem alten Auto. Mache ich mir was vor? Und Mutti hat mir jetzt die WLZ geschenkt. Mutti hat eine so liebe Stimme am Telefon. Was ist mit der WLZ? Warum soll ich sie heute besonders genau studieren? Was ist darin? Etwa ein Hinweis auf das Auto? Ich bin frustriert, ich habe heute keine WLZ bekommen. Verdammt noch einmal. Ich will es wissen. Ich rufe um sechs die Eltern an. Was ist mit der Zeitung? Mein Vater redet im Hintergrund irgendwas von einem "Vers". Du sollst stille sein, ermahnt ihn Mutti. Ich habe keine Geburtstagsstimmung. Denke an vergangene Geburtstage. Zum Teufel mit meiner Stimmung.

29.7.92
Mutti ruft morgens [...] an und fragt, ob ich inzwischen die WLZ erhalten hätte; viel lieber, sagt sie, hätte sie mir ein Auto geschenkt, aber da ich doch keines wolle... Und noch immer ist sie unter dem Eindruck des gestrigen Unfalls mit Papa beim Überholen vor Korbach. Ich denke, mein Gott, wie schnell kann alles vorbei sein, soll man da nicht vorher die gebotene Gelegenheit wahrnehmen? Nein, sage ich, ich habe nur an die Vernunft gedacht, an das Geld, das Dir im Notfall fehlen könnte. Na, dann fehlt es eben, sagt sie; wer weiß, es kann mal schnell passieren, daß man nicht mehr da ist. Ist es, frage ich, wirklich ein 190 D 2.5? Für den Fünfzylinder-Diesel hatte ich schon immer ein Faible, hatte vor Jahren schon mit den Gedanken gespielt, es mal zu fahren, das kleine Kraftpaket.

[...] Eine knappe Stunde später ihr Rückruf. Ja, der Wagen sei noch dort, man sei bereit, den TÜV durchzuführen. Ich solle doch mal in der Mittagszeit vorbeikommen. Kurz vor Zwölf mache ich mich auf den Weg. Mein 200 D läuft fantastisch. Mit 100 km/h gleitet er angenehm über die Bundesstraße, unter der Motorhaube zischelt es, so hat er sich in den letzten Monaten immer benommen, wenn ich Motoröl im Tank zugesetzt hatte - zuletzt hatte ich es ja ganz gut gemeint mit über vier Litern. Irgendetwas mußte bei der Rückfahrt von Frankfurt passiert sein, denn so sanft und elastisch war der Motor noch nie gelaufen. Er war wie ausgewechselt erschienen. War dies der Schwanengesang? Man hatte ja viel gehört von Motoren, die vor dem Ende noch einmal wie ein junger Gott gelaufen waren.

Manchmal kommt, auch auf dieser Fahrt, das sonderbare Geräusch von irgendwoher im Antrieb, vielleicht ist es die Hinterachse. Das war schon im Anfang. Wenn man das Gas wegnimmt, verschwindet es. Der Fahrtwind erzeugt ein Rauschen, wie beim Reiseflug im Urlaubs-Jet. Geschmeidig ist der Motor, ich kann ihn aus 50 km/h vorsichtig bis 100 beschleunigen, ohne unangenehme Vibrationen. Leise höre ich die Ventile flattern, spüre das Einfedern bis ins Gaspedal. Vor mir das ausgedehnte, lange Armaturenbrett, das ich gerade erst vor drei Monaten mit Holzdekor versehen habe, ich liebe doch das "britische" Design, wollte den alten Wagen zum "privaten Rolls-Royce" machen, und tatsächlich fühlt man sich im großen Innenraum sehr souverän. Meine Augen wandern über die großflächige Motorhaube. Sie habe ich vor kurzem erst mit neuer Farbe abgerollt. Links und rechts die stark gespachtelten, manuell nachgeformten Kotflügel. Vieles wäre noch zu verfeinern, vielleicht könnte man an der Innenkante Leisten anbringen?

In der Mitte vorn die silbern glänzende Halbkugel, die ich anstelle des abgerissenen Sterns aufgespachtelt hatte. Ja, dieser Wagen ist einmalig, er ist individuell. Was soll ich machen? Geht die Liebe vor der Vernunft? Würde ich meinen Verzicht nicht bitter bereuen? Denn dieser wäre endgültig. Und was ist dann in ein paar Monaten? Sieht dann alles nicht vielleicht sehr nüchtern aus, und ich schaue auf die Rostbeulen und verstehe mich selbst nicht mehr? Bin ich kindisch? Über Gebühr wankelmütig?

Haben Maschinen eine Seele? Ich denke an das Fernsehspiel und die Stanzmaschine, die ihrem "Herrn" ein Herz auswarf. Wenn ja, dann hat dieser treue Wagen auch eine Seele. Oder ist die Seele das Produkt der maschinellen Grundeigenschaften und der Betreuung durch den Menschen? Vielleicht kann ich die Sache noch mal umgehen. Warten wir ab, nehmen wir es, wie es kommt. Nur die Ruhe bewahren, denke ich jetzt (noch).

Dann, kurz vor Eins, fahre ich im Korbacher Autohaus auf den Hof. Melde mich bei Herrn D. Setze mich in den Wagen, der erscheint auf einmal nicht mehr ganz so eng, mache eine kurze Probefahrt, schaue unter die Haube, alles in Trance. D. sagt den TÜV zu und dazu ein Jahr Garantie auf alle Teile ohne km-Begrenzung. Für meinen Wagen könne er nichts mehr geben, ich könne ihn höchstens da stehen lassen, vielleicht könnten sie einen Motor brauchen oder etwas Anderes. Wieder in Windeseile viele Gedanken. Ich kann jetzt nicht mehr überlegen, muß antworten. Ich sage zu, rufe meine Mutter an, fahre zurück. Irgendwie fühle ich mich ohnmächtig, und alles Geschehene erscheint irreal. Der Wagen gleitet noch sanfter, der Motor ist noch geschmeidiger, so, als wolle mich der Wagen noch einmal liebevoll streicheln.

Warum, frage ich mich, hast du nicht einen Winkelzug gemacht und gesagt, ja, prima, aber, wissen Sie, das Handling sagt mir nicht so ganz zu, und ich möchte doch noch ein wenig warten und mich später vielleicht für das größere Modell entscheiden... Aber was wäre dann, antwortet es mir, gibt es später nochmal eine derartige Chance?

Warum muß ich bei allem und jedem und immer wieder das FÜR und WIDER bedenken? Das Schicksal meines alten Wagens ist nun besiegelt. Andere würden um so etwas mit Sicherheit nicht so ein Brimborium machen wie ich. Doch mein Rudolf tut mir leid. Und Uta wird es leidtun wegen der Türleisten. Das ist was Irrationales? Gott allein weiß nun, ob ich richtig handle. Und Gott möge mir jetzt beistehen. [...]

Am Donnerstag rufe ich morgens nicht in Korbach an, fahre zunächst einmal zum Personalrat. An der Schranke gebe ich, zum letzten Mal, die alte Nummer an: "Heinrich Dora 568". Suche dann in der Verwaltung Herrn H.auf, damit er mir den Wohnort bescheinigt. Hoffentlich sei es ein schicker neuer Wagen, den ich zulasse, meint er. Mittags, in der Gluthitze, betrachte ich einen dunkelfarbigen 190. Brita Kortus geht vorbei und fragt, ob ich mein Auto nicht fände. Ich ziehe den Startknopf, glühe kurz vor, wie in Trance geht es zum Institut. Von einer Telefonzelle aus rufe ich Mutti an, ob denn mit dem Kaufvertrag und den Bedingungen alles in Ordnung gegangen sei: noch immer ist da ein winziges Türchen offen zur Vergangenheit. Ja, sagt sie, alles in Ordnung. Heute morgen sei Herr T. in Korbach gewesen und habe gemeint, da hätte ich einen guten Kauf gemacht.

Frau S., Herr S. und Frau H. sind in der üblichen, ausgedehnten Mittagsrunde. Paß auf, bald steht vielleicht ein schicker neuer Daimler im Hof ...Konkurrenz, meint Frau S.. "Na, wollen Sie sich endlich trennen von diesem asozialen Typ?" repliziert der Angesprochene. Das gibt mir dann doch einen Stich ins Herz. Das sei zwar ein altes Auto, sage ich, doch eines mit Charakter. Wagen dieses Typs, entgegnet S., seien auf der Bundesstraße ein Verkehrshindernis. Nach einer Weile gehe ich angewidert. Jetzt wünsche ich, die Zeit zurückdrehen zu können. Als ob alles abhinge von dem Aussehen eines Wagens. Verdammt nochmal, wir werden alle alt.

Am Nachmittag, es ist über 32 Grad heiß, geht es um vier Uhr nach Korbach. Die Würfel sind gefallen. Jetzt gibt es kein Zurück. Herr Dietz übergibt mir den KFZ-Brief. Der Wagen steht in der Halle. Draußen vor der Halle wartet mein guter alter Rudolf  II. Er hat mich noch einmal verwöhnt. Er hat im Leerlauf wunderbar sanft geschnurrt wie eine sich wohlig fühlende Katze. Er hat mir die gute Behandlung gedankt. Um 18.20 Uhr bin ich zurück in Marburg. Ich streiche über den Wagen. Ich kann es noch immer nicht fassen, daß ich morgen, um die gleiche Zeit, ihn nicht mehr haben werde. Hat das vergangene Wochenende zu dem allem geführt? Hätte ich mich anders verhalten, wenn es die anstrengende Rückfahrt von Bad Hersfeld nicht gegeben hätte? Nach dem Tee gehe ich hinunter, baue die Radios und den Funk aus. Nehme aus den Taschen meine persönlichen Dinge heraus. Staune über die Festigkeit der Karosserie und, als ich mich dort hinsetze, über den weitläufigen Fond. Mein Gott, da könnte man ja eine Party feiern. My home is my castle. Aber es ist zu spät. Wenn nicht ein Wunder geschieht. Der Zeitgeist und die Umgebung waren gegen mich. Und ich war, in meinem (durchaus berechtigten) Schwanken, mein eigener Feind gewesen. Für morgen habe ich mir frei genommen. Morgen muß ich schon ganz früh, möglichst noch vor halb acht, in der Zulassungsstelle sein.

In der Nacht schwitze ich wie verrückt. Viele Aspekte, viele mögliche Verbesserungsvorschläge gehen mir durch den Kopf. Ja, vorn hätte man noch dies und dies und dies mit hartem Spachtel reparieren, formen, innen dies und jenes eleganter machen können, und überhaupt, hinten ist der Wagen doch noch prima, und auch die Türen sind noch stabil, bis auf unten, da hätte man jede einzelne Tür bearbeiten müssen. Und was ist mit Herrn Happel, wenn der auf einmal den Wagen nicht mehr durchbekommt? Ja, Schweißen kann man doch immer. Und was, wenn das Differential oder die Kardanwelle kaputtgeht, oder die Kupplung? Aber der Wagen ist doch stabil wie ein Panzer - dank meiner Spachtelei. Er ist innen groß und bequem. Die Türschlösser: die kann man doch auswechseln, irgendwo gibt es welche für ein paar Mark, Happel hat doch noch genug Sachen vom Strich-Achter gehortet, der gibt mir was, wenn ich was brauche.

Und dann waren da ja auch noch die Experimente und das "Projekt" mit der Luftansaugung. Als Uta und Marion in Urlaub waren, hatte ich doch tatsächlich versuchsweise einen Liter Wasser in den Luftfiltertopf gefüllt. Der Motor war im Leerlauf sehr rund gelaufen und hatte brummig wie ein Sportwagen beschleunigt. An der Kreuzung hatte ich zum ersten Mal keinen Diesel-Geruch verspürt und gegenüber den wartenden Fußgängern keine Gewissensbisse mehr gehabt. Ich hatte bei laufendem Motor ein Tempotaschentuch unmittelbar hinter den Auspuff gehalten und erstaunt festgestellt, daß es nicht schwarz wurde. Ich hatte geglaubt, eine große Entdeckung gemacht zu haben. Danach hatte ich das Wasser wieder entfernt und einen knappen Liter neuen Motoröls eingefüllt. Auch jetzt hatte der Motor nicht gerußt, nur etwas blau gemacht, hatte nach dem Luftfilter-Ölwechsel sehr griffig beschleunigt, ich hatte noch viel vorgehabt an möglichen Experimenten, hatte in Erwägung gezogen, die Luftfilteranlage entscheidend zu modifizieren, der Idee folgend, daß im Ansaugvorgang der Schlüssel zum Erfolg zu suchen sei. Ja, war der Wagen nicht eigentlich ein hervorragender "Erprobungsträger"?

Ich habe geschwitzt und mich herumgewälzt wie ein Fieberkranker.

Am Freitag, dem 31.7., bin ich tatsächlich schon um 7.08 Uhr bei der Zulassungsstelle. Herr Schellner, unser alter Bekannter, ist erstaunt: "Wollen Sie den abgeben?" Kurz vor halb neun habe ich die neuen Schilder. Dann, in meinem Zimmer, gehen mir wieder die kontroversen Gedanken im Kopf herum. Ich werde bald fahren müssen. Ich hole noch etwas Geld, gehe mit Uta zusammen Richtung Markt. Als sie zurückkommt, sagt sie, sie habe sich noch von Rudolf verabschiedet.

Um zwanzig vor Zwölf geht es Richtung Korbach. Soll ich noch einmal tanken? Nein, ich versuche es mit den paar Litern, fahre nur achtzig. Die Idee des guten Seins drängt sich mir auf. Das gute Sein hebt die Trennung auf zwischen Dingen und Lebewesen. Das gute Sein kann Gegenstände genauso zum Freund werden lassen wie ein guter Mensch oder ein treues Tier. Ja, Rudolf der Zweite war immer ein guter Freund.

Eine Ära geht zuende. Seit November 1978, über dreizehneinhalb Jahre, bin ich den "Strich-Achter" gefahren: bis Juni 1985 den 240 D, dann den 200 D, beide im Mai 1975 gebaut, beide herbstbeige, beide im fliegenden Wechsel, der große beige Wagen hat Marion vom Kleinkindalter an begleitet und ist Zeuge aller meiner Konzertaufnahmen gewesen. Der 240 D hat die Brasilianer gesehen beim Ferienkurs 1979 und 1981, hat meine Tochter zum Kindergarten gebracht, der noch zuverlässigere 200 D hat mich mit meinen schweren Koliken fast 600 km lang von Bad Kohlgrub nach Marburg sicher heimgeführt. Beide haben in meinen Händen jeweils fast 80.000 km zurückgelegt, hatten dieselbe Radio- und Funkausrüstung, waren von mir mit PU-Schaum gefüllt worden, und Rudolf der Zweite hatte seine letzten vier Monate mit der Fahrertür von Rudolf dem Ersten zugebracht, in holder Eintracht. Das satte Zuschlagen der schweren Türen werde ich nie vergessen.

Ja, ich hatte nichts um die Meinung der "Leute" gegeben, hatte den Wagen weiterfahren wollen, war - besonders in der letzten Zeit, glücklich gewesen mit ihm. Ein großer, stattlicher Wagen, eine wahrhaft würdevolle Erscheinung. Man konnte an ihm entlanggehen und glücklich sein. Ein bißchen war er auch mein Werk, ich hatte Freude am Modellieren gefunden. Sollte das nun alles zuendegehen? Verdammt noch einmal, wachte oder träumte ich? Konnte man die Zeit nicht einfach um nur eine Woche zurückdrehen?

Ich spreche mit dem Wagen, bis mir kurz vor Frankenberg die Tränen kommen.

Müde hört sich der Motor an bei 80, und ein metallisches Schleifen läßt sich jetzt ganz leise vernehmen. Habe ich es vorher nie bemerkt? Das rätselhafte Antriebs-Geräusch hält länger an. Früher gab es Fahrten, wo es sich, bis vor kurzem, gar nicht hören ließ. Will er mir sagen, daß er jetzt müde ist? Ich schalte jetzt ab, fahre nur noch. Die Verbindung zwischen uns ist abgerissen, damit auch das Engagement meines Gaßfußes. Rudolf mag es nicht, wenn ich ihn lustlos wie ein Rentner fahre.

Auf der Frankenberger Landstraße sind zwei Wagen ineinandergefahren. Vorsichtig schlängele ich mich um die Unfallstelle, fahre dann bei Brandt auf den Hinterhof, stelle meinen Wagen zu den anderen Autos, die "aufgearbeitet werden sollen". So, mein lieber Rudolf, sage ich, nun wünsche ich dir eine angenehme Ruhe, und bitte gib etwas von deinem lieben Wesen an deinen Nachfolger weiter. Als ich ausgestiegen bin, winkt mir Papa zu. Dann gehen wir in das verglaste Foyer, wo auch Mutti ist, mit ihrem gütigen Lächeln, die vollkommene Idee einer Mutter. Ich weiß, daß sie aufgeblüht ist ob dieser neuen, wichtigen Aufgabe. Sie hat schon alles erledigt, das Geld schon überwiesen. Wir bekommen alle eine Cola. Herr T. gibt uns die Papiere, nachdem ein Mechaniker die Schilder angeschraubt hat. Alles geht streng nach Hierarchie. Jetzt fällt mir erst auf, daß der Wagen tiefergelegt ist. Das ist ja "voll Manta äij". Wir testen die Beleuchtung. Vorn und hinten fehlt je eine Birne. Das erscheint sehr sonderbar nach dem gestrigen "TÜV ohne Beanstandungen". Ich denke an die Roßtäuschermanieren des Kasseler Autohauses.

Ich fahre den Wagen zum Hinterhof, muß dafür außen herum, über die belebte Kreuzung mit der komplizierten Ampelanlage. Diese fünf Minuten erscheinen wie eine Stunde. Rudolf der Dritte steht nun zwei Meter hinter seinem Vorgänger. Ich gehe wieder in die Halle. Mutti drängt zum Aufbruch. Die Herren verabschieden sich, wünschen viel Freude mit dem neuen Wagen. Mutti gibt dem alten Rudolf noch eine Kußhand auf den Kotflügel. Er sehe ja noch ganz gut aus, sagt sie - warum? Dann fahren die beiden. Hoffentlich kommen sie gut heim in dieser Hitze.

Nun bin ich allein mit den beiden Rudolfs. Ob sie sich inzwischen auf  ihre Weise etwas erzählt haben? Die Nummernschilder sind nicht ganz einfach abzumontieren. Es gibt noch viel umzuräumen, aus dem alten Rudolf muß noch die Batterie heraus, die beiden Lautsprecherboxen folgen, auch der Spannungswandler wird noch ausgebaut. Als letztes sind die Nummernschilder ab, dann noch ein letzter Check und der Schlüssel wird abgegeben. Mach es gut, mein lieber alter getreuer Rudolf. Du hast mir über sieben Jahre lang getreu gedient und mich nie im Stich gelassen. Du, als die perfekte Idee des guten Seins.

Um Drei biege ich vorsichtig auf die Bundesstraße ein, tanke, dann geht es nach Marburg. Du bist doch ein tolles Auto, denke ich. Ob der alte Rudolf dir schon etwas von seinem treuen Geist vermittelt hat? Jetzt kann ich ja wieder Cassette im Auto hören, also lege ich die Kopie des letzten Hersfelder Konzerts ein. Antonin DVORAKs "Serenade für Blasorchester" erklingt filigran aus den beiden Lautsprechern. Das Brummen des Fünfzylindermotors wird aggressiver, und es zeigt sich ein leises mahlendes Geräusch. Der Antrieb? Hinter Frankenberg komme ich in ein Gewitter. Viel schalten muß ich mit dem Fünfganggetriebe; das erfordert noch viel Übung. Mir kommt es vor, daß ich mit dem Neuen nicht schneller vorankomme als mit dem Alten. Ich denke an dessen elastischen Motor und sein gutmütiges Handling, schwitze in der Enge des kleinen Wagens, stelle an der Belüftung herum. Einmal ist es zugig, dann wieder nicht genug. Es ist schwül draußen wie in den Tropen. Beim SIBELIUS zerrt die Violine, ich stelle das Radio ab. Jetzt erstmal fahren, alles andere kommt später.

Kurz nach 16 Uhr stehe ich auf dem Parkplatz, genauso schräg wie der alte Rudolf. Heute, am 31. Juli 1992, hat es doch noch das Ereignis gegeben, das dem Jahr seinen Stempel aufdrückt. Wer hätte das gedacht. Oben sehe ich mit U. das "Raumschiff Enterprise". Marion kommt und ist glücklich über den schicken kleinen Wagen.

Nachwort

38 Jahre Diesel - mehr als eine Generation. Kaum noch sieht man einen "Strich-Achter", dessen erste Version vor fast 50 Jahren den Markt eroberte. Mein 1975 als zweite Version gebautes Exemplar war bereits "Kult", als ich mich von ihm trennte. Was aus ihm wurde, seinem Motor, der noch zuletzt, nach über 17 Jahren und 280.000 km, kein Öl verbrauchte, aus seinem Fahrwerk, seinen noch guten Reifen, habe ich nie erfahren. Auch heute noch versuche ich mir bisweilen vorzustellen, wie es war, in diesem großen, auf seine Weise majestätischen, von mir mit umfangreicher Funkanlage ausgerüsteten Wagen zu sitzen und noch einmal alle Fahrten zu erleben. Nur manchmal noch, denn der dritte, der kleine, niedrige, mittlerweile zum Unikat gewordene, hat mich nie enttäuscht.

Allerdings mußte ich doch eine Menge in ihn investieren. Als ich ihn Ende Juli 1992 übernahm, hatte er sechs Jahre hinter sich und 114.000 Kilometer und, wie oben erwähnt, "TÜV ohne Beanstandungen". Nach wenigen Wochen röhrte der Auspuff: ein neuer mußte her. Und zum ersten Mal sah ich in der Korbacher Grube, was man mir beim Kauf im Mercedes-Autohaus verschwiegen hatte: wie angerostet nämlich die Teile am Unterboden waren: zum Trost wurde ein bißchen gesprüht. Dann ging es erstmal zu den Festspielen nach Bad Hersfeld, nach Berlin und (zum ersten Mal) nach Cuxhaven, und ich erfreute mich am ruhigen Dahingleiten des tiefergelegten Wagens mit 160 km/h über die Autobahn. Zwei Jahre später fuhr ich, an einem der sehr heißen August-Tage, auf den Hof des Marburger Mercedes-Autohauses in Sachen TÜV. Draußen befand sich eine Hebebühne, der Wagen fuhr hoch und es kam die bestürzende Diagnose "Den kriegen wir nicht mehr durch." Den Wagen, für den meine Mutter mühsam gesparte 25.000 DM hingeblättert hatte! Wichtige Fahrwerksteile waren zu erneuern, die Tieferlegung durch neue Federn fast ganz aufzuheben, bei 4000 DM sagte ich "Schluß", der TÜV-Mann trug Änderungen ein, steckte die Gebühr in die Hosentasche und ich zog von dannen. Später ließ ich eine "Grünkern"-Frontscheibe einbauen. Schick sah der Wagen aus. Dann ging es wieder einmal Richtung CUX. Zwischen Verden und Bremerhaven eine erschreckend laute Vibration, als ich mit 120 km/h einen Bus überhole. Ganz vorsichtig und langsam schaffe ich die mit seltsamem Geräusch begleiteten, restlichen 120 Kilometer bis Cuxhaven, wo man mir an einer Tankstelle sagt, man könne mir helfen: die Hardyscheibe sei gebrochen und mit ihr sei gleichzeitig die Kardanwelle auszuwechseln. Das kostete rund 1200 DM. Der 1996er TÜV offenbarte lediglich ein kleines Karosserie-Loch, später waren diverse Male die üblichen Verschleißteile (Bremsen, Bereifung, Auspuff etc) zu erneuern, doch Motor, Kupplung, Getriebe, Differential hielten bis heute. Nach etwa 300.000 km wurden die klappernden Hydrostößel erneuert; als ich damals zum ersten Mal die Nockenwelle sah, wirkte sie wie neu. Auch die Vorglühanlage wurde teilerneuert, es wurden eine Webasto-Standheizung und ein teurer Dieselpartikelfilter eingebaut, der mir die begehrte Grüne Plakette bescherte. Die Radaufhängungen (mit allen Streben) und Stoßdämpfer wurden erneuert: Sicherheit war stets oberstes Gebot. Und natürlich mußte öfter vor dem anfallenden TÜV geschweißt werden und habe ich den Lackierpinsel geschwungen - kaum verwunderlich, wenn der Wagen Tag und Nacht bei jedem Wetter draußen verbrachte - im Februar 2018 wäre sein Schicksal fast besiegelt gewesen. Doch in all den mehr als sechsundzwanzig Jahren meiner "intermittierenden" Nutzung ist er niemals liegen geblieben, hat mich nie im Stich gelassen, oft nur wenig mehr als 6 Liter verbraucht, auch mit über 410.000 km Fahrleistung noch fast 170 km/h auf ebener Autobahnstrecke erreicht. Die konseqente, ausnahmslose Verwendung besten synthetischen Motoröls hat sich ausgezahlt. Und wenn ich mit der von mir eingebauten Taste (ja, einmal war das Zündschloß defekt) den Motor starte - er kommt in einer Sekunde -, dann ist mir bewußt, daß ich mit dem Fünfzylinder-Motor OM 602 und der noch mechanischen Bosch-Einspritzpumpe ein Kunstwerk der Automobilgeschichte in Betrieb nehme. Und ich bin irgendwie stolz darauf, noch einen derartigen Wagen fahren zu dürfen.

Etwas seltsam erscheint es mir, wenn ich nach so langer Zeit meinen Tagebuch-Text von 1992 lese. Niemals fuhr ich länger ein und denselben Wagen. Fast 300.000 km habe ich mit dem kleinen Fünfzylinder zurückgelegt. Rund 70mal führte er mich nach Cuxhaven, schenkte mir eindrucksvolle Nachtfahrten, brachte mich zu hunderten von Live-Mitschnitten, darunter viele Festspielkonzerte und Opernaufführungen, zu Tonmeistertagungen in Leipzig und Köln, war jeder Wetterlage gewachsen. Auch im Zeitalter der Assistenzsysteme und anderer elektronischer Fahrhilfen will ich ihn in Ehren halten. Meine Mutter, die ihn mir schenkte, ist im November 2007 verstorben. Ich bin überzeugt, daß sie die Gewißheit freuen würde, daß der von ihr damals unter Entbehrungen finanzierte Wagen noch immer seinen Dienst tut.

(c) Wolfgang Näser 13.7.96 ; letzter Nachtrag 9.2.2019