INT. SOMMERKURS DER PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR UND MEDIEN 
Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser 
 
Text 4: 
 
                 Gottfried BENN (1886-1956): 
              Können Dichter die Welt ändern? 
                 (Aus einem Rundfunkdialog; in: prisma 8/III, Literarische 
                 Quellentexte, Vom Realismus bis zur Gegenwart, 3. Aufl. 
                 Bamberg 1973, 188-190) 
   
1       B: Schriftsteller, deren Arbeit auf empirische Einrichtungen der Zivi- 
        lisation gerichtet ist, treten damit auf die Seite derer über, die die 
        Welt realistisch empfinden, für materiell gestaltet halten und drei- 
        dimensional in Wirkung fühlen, sie treten über zu den Technikern und 
5       Kriegern, den Armen und Beinen, die die Grenzen verrücken und Drähte 
        über die Erde ziehen, sie begeben sich in das Milieu der flächenhaften 
        und zufälligen Veränderungen, während doch der Dichter prinzipiell 
        eine andere Art von Erfahrung besitzt und andere Zusammenfassungen 
        anstrebt als praktisch wirksame und dem sogenannten Aufstieg dienende. 
10      A: Sie sagen: der Techniker und der Krieger. Die also allein, meinen 
        Sie, verändern die Welt? 
        B: Was sich an ihr verändern läßt. Ja, ich meine allerdings, daß der 
        diesen beiden übergeordnete Begriff, nämlich der des Wissenschaftlers, 
        der eigentliche und prinzipielle Gegenspieler des Dichters ist, der 
15      Wissenschaftler, der einer Logik lebt, die angeblich allgemeingültig 
        sein soll, aber doch nur lukrativ ist, der einen Wahrheitsbegriff 
        durchgesetzt hat, der den populären Vorstellungen von Nachprüfbarkeit, 
        allgemeiner Erfahrbarkeit, Verwertbarkeit weitgehend entgegenkommt, 
        und der eine Ethik propagiert, die das Primat des Durchschnitts 
20      sichert. Ich begreife, daß ein Volk, das nichts anderes gelernt hat, 
        als Kunst und Wissenschaft immer in einem Atem zu nennen, gierig die 
        Weisheit der Aufklärung in sich aufnehmen mußte, die die beiden Fi- 
        guren immer nebeneinanderstellt, ganz besonders in einem Jahrhundert, 
        in dem die Wissenschaft wirklich einen Elan hatte, der sich als schöp- 
25      ferisch gab. Man kann es nicht anders ausdrücken: Kunstwerke sind phä- 
        nomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre 
        Größe. 
        A: Das ist doch aber eine vollkommen nihilistische Auffassung von der 
        Dichtung? 
30      B: Wenn gesellschaftlicher Fortschritt positiv ist, unbedingt. Sehen 
        Sie die Reihe von Kunstwerken, die Ihnen die Geschichte hinterließ, 
        in einem Zug an sich vorüberziehen. Nofretete und den Dorertempel, 
        Anna Karenina oder den Nausikaagesang der Odyssee - nichts an ihnen 
        weist über sich hinaus, nichts bedarf einer Erklärung, nichts will 
35      wirken außerhalb seiner selbst, es ist der Zug in sich versunkener 
        Gestalten, schweigsamer und vertiefter Bilder: wenn Sie das nihili- 
        stisch nennen wollen, ist es der besondere Nihilismus der Kunst. 
        A: Sie sehen diesen Zug der schweigsamen Gestalten - ich zeige Ihnen 
        einen anderen Zug. Hören Sie folgendes Dokument: ein elfköpfiger Haus- 
40      halt, der Vater trinkt, die Mutter erwartet die Niederkunft des 10. 
        Kindes, die Vierzehnjährige kauft sich für einen Groschen Rinderblut 
        beim Schlächter, gießt es sich über die Brust, um mit Hilfe dieses 
        fingierten Blutsturzes aus der überfüllten Wohnung in eine Lungen- 
        heilstätte zu gelangen. Das ist doch Kummer, das sind doch Tränen, 
45      schuldloser Jammer, Bastardierung des Glücks - da sieht der Dichter 
        zu? 
        B: Ich zögere nicht einen Augenblick: ja, da sieht der Dichter zu. 
        Nicht der, der die Zivilisationslektüre verfaßt und für den Abend die 
        geistigen Vorwände für die Kulissenverschiebungen, der beim Bankett 
50      neben dem Minister sitzt, die Nelke im Frack und fünf Weingläser am 
        Gedeck: der unterschreibt Aufrufe gegen die Notstände der Zeit. Aber 
        der sieht zu, der weiß, daß der schuldlose Jammer der Welt niemals 
        durch Fürsorgemaßnahmen behoben, niemals durch materielle Verbesserun- 
        gen überwunden werden kann. Hygienische Wunschräusche kurzbeiniger 
55      Rationalisten: Hab' Rente im Herzen und Höhensonne im Haus. Eine 
        Schöpfung ohne Grauen, Dschungel ohne Bisse, Nächte ohne Mahre, die 
        die Opfer reiten - nein, der Dichter sieht zu in der vor keinem Tod 
        zu verleugnenden Überzeugung, daß er allein die Substanz besitzt, das 
        Grauen zu bannen und die Opfer zu versöhnen: so sinke, ruft er ihnen 
60      zu, so sinke denn, aber ich könnte auch sagen: steige.
 
        A: Aber haben nicht doch die Künstler seit Urzeiten der Menschheit 
        gedient, indem sie durch Nachbildung und dichterische Darstellung den 
        beunruhigenden Erscheinungen das Furchtbare genommen haben? 
        B: Das ist durchaus das, was ich vorhin gelegentlich der Substanz 
65      andeutete. Der Dichter, eingeboren durch Geschick in das Zweideutige 
        des Seins, eingebrochen unter acherontischen Schauern in das Abgrün- 
        dige des Individuellen, indem er es gliedert und bildnerisch klärt, 
        erhebt es über den brutalen Realismus der Natur, über das blinde und 
        ungebändigte Begehren des Kausaltriebes, über die gemeine Befangenheit 
70      niederer Erkenntnisgrade und schafft eine Gliederung, der die Gesetz- 
        mäßigkeit eignet. Das scheint mir die Stellung und Aufgabe des Dich- 
        ters gegenüber der Welt. Sie meinen, er solle sie ändern? Aber wie 
        sollte er sie denn ändern, sie schöner machen - aber nach welchem 
        Geschmack? Besser - aber nach welcher Moral? Tiefer - aber nach dem 
75      Maßstab welcher Erkenntnisse? Woher soll er überhaupt den Blick neh- 
        men, mit dem er sie umfaßt, das Wissen, um sie zu führen, die Größe 
        für Gerechtigkeit gegenüber ihren Zielen - auf wen sollte er sich 
        denn überhaupt stützen - auf sie, "die in lauter Kindern lebt", wie 
        Goethe sagt, "aber die Mutter, wo ist sie?" 
80      A: Er nimmt also die Maßstäbe allein aus sich selbst, verfolgt keine 
        Zwecke und dient keiner Tendenz? 
        B: Er folgt seiner individuellen Monomanie. Wo diese umfassend ist, 
        erwirkt sie das äußerste Bild von der letzten dem Menschen erreich- 
        baren Größe. Diese Größe will nicht verändern und wirken, diese Größe 
85      will sein. Immer beanstandet von der Stupidität des Rationalismus, 
        immer bestätigt von den Genien der Menschheit selbst. Einer Mensch- 
        heit, die, soweit ich ihr Schicksal übersehe, nie Überzeugungen folg- 
        te, sondern immer nur Erscheinungen, nie Lehren, sondern immer Bil- 
        dern, und die sich von zu weit her verändert, als daß unsere Blicke 
90      sie verfolgen könnten. 
        A: Also schreibt der Dichter Monologe? 
        B: Autonomien! Es arbeitet hier, um ein Schillersches Wort zu gebrau- 
        chen, die regellos schweifende Freiheit am Bande der Notwendigkeit. 
        Diese Notwendigkeit aber ist transzendent, nicht empirisch, nicht 
95      materiell, nicht opportunistisch, nicht fortschrittlich. Sie ist die 
        Ananke, sie ist das Lied der Parzen: aus Schlünden der Tiefe gerech- 
        tes Gericht. Sie ist das Geheimnis des Denkens und des Geistes über- 
        haupt. Sie trifft nur wenige, und Dichter und Denker sind in ihrer 
        letzten Form vor ihr identisch. Wie jene Skulptur von Rodin: "der 
100     Denker", die über dem Eingang zur 'Unterwelt' steht, ursprünglich 
        "der Dichter" hieß, ihnen beiden gilt der Spruch am Sockel des Steins: 
        der Titan versunken in einen schmerzlichen Traum. Wie ihnen beiden das 
        gar nicht zu übertreffende Bild von Nietzsche in seinem Aufsatz "Die 
        Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" gehört: "keine Mode 
105     kommt ihnen hilfreich und erleichternd entgegen"; ein Riese, schreibt 
        er, ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und 
        ungestört durch mutwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen 
        wegkriecht, setzt sich das hohe Geistesgespräch fort. 
 
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Aufgaben: 
1. Stellen Sie eine Liste der WÖRTER und WENDUNGEN dieses Textes zusammen 
   und markieren Sie hier den autorenspezifischen Wortschatz. 
2. Versuchen Sie eine kurze, vielleicht thesenartige, PARAPHRASE des Textes. 
3. Kommentieren Sie das Gespräch: sind Sie mit BENNs Ausführungen zur Rolle 
   des Dichters einverstanden? Wie würden sich zeitgenössische Dichter, die 
   Ihnen bekannt sind, zu dieser Frage äußern? Meinen Sie, daß sich, wie B. 
   meint, der Dichter aus aktuellen Problemen der Zeit heraushalten sollte? 
   Sollten Sie ihm nicht zustimmen, versuchen Sie bitte, Ihr "Contra" in 
   Worte zu fassen. 
 
(c) WN 18061993