Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Jacobi, Karl: Besuch eines Bergwerks (aus: Geographie des Regierungsbezirks
Wiesbaden, 2. Aufl. 1907)
in: Deutsches Lesebuch für den Regierungsbezirk Wiesbaden. Ausgabe
A. Für mehrklassige Schulen. [...] Zweiter Teil. 4. und 5. Schuljahr.
Wiesbaden 1917 (Bild "Hauer" aus: HINRICHS, Emil: Erdkunde
im 5. und 6. Schuljahr, 5. Aufl. 1955, S. 159)
Noch schwebt die Morgendämmerung über dem Dillgrund, und friedliche Stille herrscht in dem weit ausgedehnten Walde des bergigen Gebiets. Wir verlassen das Tal und das freundliche Dörfchen, das uns die Nacht beherbergte. Die Leute sind früh auf den Beinen, denn Männer und erwachsene Söhne gehen auf die Grube, um als Bergleute für den Unterhalt ihrer Familien noch das zu verdienen, was der bescheidene und wenig lohnende Ackerbau versagt.
Auch wir lenken unsre Schritte dem nahen Bergwerk zu, um den Reichtum unterirdischer Schätze zu schauen, deren sich unser Heimatland Nassau besonders hier im Dillgebiet rühmen darf. Das Tälchen, dem wir in nordöstlicher Richtung folgen, wird nach und nach enger. Mächtige Steinhaufen, die Halden, lassen erkennen, dass wir uns in der Nähe eines Bergwerks befinden. Wir erblicken hier eine Anzahl Schuppen, die den jüngsten Bergleuten als Arbeitsräume dienen. Diese zerschlagen mit einem Hammer die Eisenerze in Stücke von der Größe des Schotters auf der Landstraße und verladen sie zur sofortigen Beförderung nach den Hochöfen in die bereit stehenden Eisenbahnwagen. In einem daneben liegenden Schuppen besorgt auch eine Maschine, der sogenannte Steinbrecher, die Zerkleinerung der Erze in Stückchen von Kiesstärke. Der so zerkleinerte Eisenstein wird in Kasten gebracht, gewaschen und zugleich von dem unbrauchbaren Gestein gereinigt.
Wir gelangen endlich in das Zechenhaus, das durch seine Größe besonders auffällt. Hier haben sich die Bergleute bereits versammelt. Der Steiger, den wir schon tags zuvor kennen gelernt hatten, ersucht uns einzutreten. Wir folgen seiner Aufforderung und begrüßen die ernsten Männer. Inmitten der flammenden Grubenlichter steht der Steiger und verliest die Namen der Bergleute, die nun zur Arbeit in die Grube einfahren sollen, und übergibt ihnen die für die Arbeitsschicht nötigen Sprengstoffe. Sein kurzes Gebet um Schutz bei dem gefahrvollen Tagewerk schließt er mit dem Bergmannsgruß "Glück auf!"
Der freundliche Obersteiger hat uns die Erlaubnis erteilt, unter Führung eines kundigen Mannes ins Bergwerk einzufahren. Aber bevor die unterirdische Wandrung beginnt, ziehenn wir einen blauleinenen Anzug an, um unsere Kleider zu schützen. Wir stehen bald vor dem Grubeneingang, der schön ausgemauert und überwölbt ist. Über der Wölbung prangt in großen Buchstaben der Name der Grube. Darunter kreuzen sich Fäustel und Schlägel zum Bergmannswappen.
Mit einem Grubenlicht in der Hand schreiten wir nun durch den langen, wagrechten Gang, den der Bergmann Stollen nennt. Senkrechte Pfosten zu beiden Seiten des Stollens, Türstöcke genannt, mit quer darübergelegten Balken, den Kappen, stützen die Gesteinsmassen seitlich und über uns. So verbaut der Bergmann die Stollen, um vor herabfallendem Gestein geschützt zu sein oder das Einbrechen und gänzliche Verschütten des Ausgangs zu verhüten.
Auf unserm Wege durch den Eingangsstollen begegnet uns von Zeit zu Zeit ein Pferd, das 10 bis 12 kleine, mit Eisenerzen beladene Wagen auf einem Schienengeleise nach sich zieht. Auf diese Weise werden die Erze zur weiteren Bearbeitung ans Tageslicht gefördert. Nachdem wir etwa eine Viertelstunde beim Schein des Grubenlichts durch den Eingangsstollen gewandert sind, gelangen wir an den Schacht, der senkrecht in die Tiefe führt. Er dient zum An- und Ausfahren der Bergleute und zum Herausbefördern der gewonnenen Erze. Beides geschieht mittels des Förderkorbes, in den wir nun einsteigen, um in die Tiefe zu fahren. Mit großer Geschwindigkeit gelangen wir zur tiefsten Arbeitsstelle der Bergleute, die hier 161 m unter dem Eingangsstollen liegt. Beim Niederfahren bemerkten wir in Abständen von 30 bis 40 m seitwärts gerichtete, wagrechte Gänge, deren Boden der Bergmann Sohle nennt. Das ganze Bergwerk gleicht einem mehrstöckigen Gebäude. Der senkrecht in die Tiefe führende Schacht bildet die Treppe, die seitlich abzweigenden Stollen sind mit den Stockwerken zu vergleichen. In diesen liegen die Arbeitsstellen der Bergleute.
Wir befinden uns eben am Eingang des untersten Stollens. Ungefähr zwei Meter tiefer liegt der Grund des Schachtes, auf dem sich das Wasser des ganzen Bergwerks ansammelt. Durch eine Pumpe wird dasselbe von hier in einer durch den Schacht und den Eingangsstollen geführten Rohrleitung an die Erdoberfläche befördert und dort zum Waschen der Erze benutzt.
Nach kurzer Wandrung in dem 161m-Stollen gelangen wir vor Ort, wo die Bergleute mit Hammer, Fäustel und Keilhaue die wertvollen Eisenerze gewinnen. Wir stehen in einem weiten, hallenartigen Raume. Mehrere Gruppen von Männern, sogenannte Kameradschaften, sind rührig an der Arbeit. Die erfahrensten Bergleute, die Hauer, bohren mit Hilfe einer Maschine die Sprenglöcher. "Auf den meisten Gruben unsrer Gegend", bemerkt hier unser Führer, "werden Sprenglöcher von 0,70-1 m Tiefe mit solchen Bohrmaschinen hergestellt, die durch gepreßte Luft in Bewegung gesetzt werden. In kleineren Gruben findet die Bohrmaschine keine Verwendung. Hier bohren die Knappen mit Hammer und Meißelbohrer das Sprengloch ins harte Gestein."
Plötzlich erschallt von der anderen Seite her der Ruf: "Es wird angesteckt!" Der besorgte Führer hat kaum Zeit, uns hinter eine schützende Felswand zu schieben, da zerreißt ein greller Blitz die dunkle Nacht unsres unterirdischen Aufenthalts, und ein dröhnender Schlag erfolgt. Unter unsern Füßen erzittert der Boden; es kommt uns vor, als sei die Erde geborsten. Unsre Lichter verlöschen. Weißer Dampf quillt auf und beengt uns die klopfende Brust. Nachdem sich der Rauch verzogen hat, eilen die Bergleute zu dem entstandenen Trümmerhaufen und hacken mit der Keilhaue die geborstenen, noch locker sitzenden Erze los.
Die jüngeren Männer bringen die gewonnenen Erze an den Förderschacht, in dem sich die Förderkörbe auf und nieder bewegen. Eine Dampmaschine hebt durch ein langes Drahtseil die vollen Wagen nach oben, während gleichzeitig die leeren hinabgleiten.
Wir durchwandern noch manche lange Strecke, bald eng, bald weit, bald hoch, bald niedrig. Auf langen Leitern, den Fahrten, gelangen wir von einer Sohle zur andern und bewundern überall die ernsten Männer, die im Schweiße ihres Angesichts ihr gefahrvolles Werk verrichten, bis sie beim Schichtwechsel durch andre Bergleute abgelöst werden.
Schon mehrere Stunden verweilen wir unter der Erde. Nach der anstrengenden Wandrung und dem vielen Schauen sehnen wir uns nach dem Tageslicht.
Endlich haben wir den Luftschacht wieder erreicht; ein Förderkorb ist dort zur Auffahrt für uns bereit. Mit einem herzlichen "Glück auf!" scheiden wir von den wackeren Bergleuten, und aufwärts geht die Fahrt. Bald haben wir den Eingangsstollen erreicht, und der Förderkorb hält. Wir folgen den nach außen rollenden, erzbeladenen Wagen und begrüßen froh das goldne Tageslicht.
Wird ergänzt * HTML + Layout: Dr. W. Näser, MR 21.2.2002