Formen schriftlicher Kommunikation, WS 1999/2000

Dr.  Wolfgang Näser * HS 207 Biegenstr., 16-18 h (Sprechstunde: Mo 15-17 h, Hermann-Jacobsohn-Weg 3, Dt. Sprachatlas, Zi. 11, Tel. 28-23508)

Text 2b: "BILD" beschreibt die letzten Tage vor dem Mauerfall

VORBEMERKUNG: Heute in der "BILD" surfend, entdeckte ich die nach Tagen gegliederte und entsprechend abrufbare Retrospektive. Ich entschloß mich, im "Kalender" beim 9. Oktober 1989 zu beginnen, habe jede Seite geladen, alle Seiten von den vielen technischen Informationen befreit, die 31 Dateien dann per Binär-Kopie zu einer einzigen zusammengefügt und diese von mir erzeugte Collage zu einem HTML-Text editiert. Änderungen und Ergänzungen vorbehalten - und Dank an BILD für alle Informationen.

MR, den 8.11.99, am Tage vor dem großen Jubiläum                          W. NÄSER


9.10.89
BONN/BERLIN WEST -
Protest gegen das harte Vorgehen der DDR-Führung gegen die Demonstranten am Vortag:
Bundeskanzler Helmut Kohl: "Innerer Frieden und Stabilität können nicht durch Gewalt und Entmündigung der Bürger garantiert werden."
Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper: "In einem gemeinsamen europäischen Haus kann nicht jeder rumrandalieren wie er will."
Regierungssprecher Dieter Vogel
: "Schlagstöcke und Festnahmen sind kein Argument gegen Unzufriedenheit."

LEIPZIG - Um 17 Uhr das Montagsgebet in der Nikolai-Kirche, doch schon zwei Stunden vorher ist die Kirche mit 2000 Menschen voll besetzt. Friedensandachten deshalb auch in der Thomas-, Reformierten- und Michaelis-Kirche. Vor den Gotteshäusern drängen sich tausende Menschen.

Nach dem Gottesdienst ziehen 70 000 Menschen durch Leipzig, rufen "Wir brauchen Freiheit", "Demokratie", "Wir sind ein Volk!" Und: "Keine Gewalt". Das fordern auch Vertreter der Kirchen und von Menschenrechtsgruppen von der SED-Führung.

Entlang der Demo-Route: Überall Betriebskampfgruppen, Vopos mit Gasmasken, Panzerspähwagen an den Kreuzungen - insgesamt 3000 Einsatzkräfte. Scharfe Munition wird ausgegeben, die Krankenhäuser halten verstärkt Blutkonserven bereit. Doch die Staatsmacht kapituliert vor dem Volk. Gegen 20 Uhr löst sich der Zug auf, alles bleibt friedlich.

OST-BERLIN - Friedensandacht in der Gethsemane-Kirche (3000 Menschen). Schon seit Mittag ist die Schönhauser Allee abgesperrt, selbst Straßenbahnen fahren nicht mehr.

HALLE - Hier haut der Staat wieder drauf. 2000 Demonstranten werden eingekesselt, Hunderte auf Lastwagen geladen und abtransportiert.

MOSKAU - Russische Studenten in der ARD: "In unserem Land ist jetzt die Umgestaltung, aber in der DDR, meine ich, sehe ich keine."

MÜNCHEN - Eis-Star Kati Witt (hatte mit Honecker und Gorbatschow gefeiert): "Ich bin sehr traurig, dass sich viele Landleute entschieden haben, woanders hinzugehen. Man muss sich in meiner Heimat Gedanken machen, warum das so ist."

10.10.
Erster Aufstand gegen Honecker

LEIPZIG - Jetzt wenden sich auch die Genossen gegen Honecker. Die Bezirkssekretäre Joachim Pommert, Roland Wötzel und Kurt Meier in einem gemeinsamen Aufruf:

"Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch [...] Deshalb versprechen [wir] allen Bürgern, [unsere] ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog [...] auch mit unserer Regierung geführt wird."

OST-BERLIN - Honecker bleibt stur. Im Gespräch mit einem hohen Funktionär aus China bekräftigt er die Alleinherrschaft der SED, die "Fortsetzung des gegenwärtigen Kurses".

Das DDR-Fernsehen meldet: Bei den Demonstrationen der vergangenen Tage wurden 106 Polizisten und 46 "Rowdies" verletzt.

WARSCHAU - Mehr als 500 DDR-Flüchtlinge in der Bonner Botschaft.

11.10.
Honeckers Entmachtung - Der Kronprinz - Warschau: Flüchtlinge müssen nicht zurück

OST-BERLIN - Die politische Situation spitzt sich zu. Erich Honecker, seit 13 Jahren SED-Chef, ist seit heute faktisch entmachtet. Das Politbüro fordert ihn auf, bis Ende der Woche einen Lagebericht abzugeben, der geplante Staatsbesuch in Dänemark (25./26. Oktober) wird abgesagt. Für den Polizei-Einsatz in Leipzig am Montag war er schon nicht mehr verantwortlich, sondern der neue starke Mann der DDR: Honeckers "Kronprinz" Egon Krenz.

Auch Honeckers engster Mitarbeiter, SED-Chefideologe Kurt Hager, geht auf Distanz, fordert in den Abendnachrichten "Erneuerung".

Journalisten der DDR-Nachrichten-Agentur ADN drohen mit Streik, wollen keine vorgeschriebenen Meldungen mehr weitergeben.

Mitglieder von Betriebskampfgruppen rücken nicht aus: "Arbeiter marschieren nicht gegen Arbeiter."

Schriftsteller Stefan Heym fordert demokratische Wahlen.

WARSCHAU - Polen schickt keine DDR-Flüchtlinge mehr zurück. Eine Regierungssprecherin: Diese Praktiken werden nicht fortgesetzt".

MÖLLN - 27 Prozent der Bundesbürger glauben an eine Wiedervereinigung innerhalb von zehn Jahren (Umfrage Sample-Institut).

12.10.
OST-BERLIN -
Honecker: Seit zwei Tagen kein Foto mehr von ihm im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland". Üblich: Täglicher Bericht über ihn. SED-Chefideologe Kurt Hager ist nach Moskau geflogen, bespricht mit Gorbatschow die Modalitäten der Honecker-Ablösung. BILD erfährt: Der 18. Oktober soll Erich Honeckers letzter Arbeitstag sein!

Die große Frage: Wer wird Honeckers Nachfolger? Die Kandidaten:

  1. Egon Krenz (52), Alt-Kommunist, Sicherheits-Experte, Mitglied des Politbüros.
  2. Hans Modrow (61), SED-Chef in Dresden. Hoffnungsträger der Reformer, wurde von Honecker wegen zu progressiver Ideen abgesägt.
  3. Siegfried Lorenz (58), SED-Parteichef in Karl-Marx-Stadt. Honecker-Vertrauter, Politbüro-Mitglied.

PASSAU - 407 DDR-Bürger kommen über Ungarn in die Bundesrepublik, ein Drittel mit dem eigenen Auto. Seit Öffnung der Ungarn-Grenze flüchteten 37 000.

PRAG - In der Bonner Botschaft sind noch 50 DDR-Bürger. Die Polizei überwacht das Gebäude recht lasch. Nur noch Rentner und Invaliden dürfen eine Reise in die CSSR beantragen. Damit dürften DDR-Bürger ohne staatliche Erlaubnis kein Land der Welt mehr bereisen.

13.10.
Honecker kündigt "tiefgreifende Wandlungen und Reformen" an

WARSCHAU - Spannung in der Bonner Botschaft: Fast 900 DDR-Bürger warten auf ihre Ausreise in den Westen. Die DDR erlaubt keine Durchfahrt über DDR-Territorium, Polen lehnt eine Ausreise per Flugzeug ab.

OST-BERLIN - Honecker kündigt im Politbüro "tiefgreifende Wandlungen und Reformen" an, will aber das Prinzip der Führung der SED nicht aufgeben. Ibrahim Böhme, Geschäftsführer der neuen sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP): Wenn SED-Politiker auf den Zug Perestroika (Umgestaltung) aufsprängen, müsse man darauf achten, "dass diejenigen, die für die jetzige Lage verantwortlich sind, nicht in die Lokomotive vordringen."

Die Nachrichten-Agentur ADN meldet: Alle Demonstranten, die am 7. Oktober festgenommen wurden, werden freigelassen.

14.10.
50 000 Flüchtlinge - Die Botschaft in Warschau

WARSCHAU - Jubel in der Bonner Botschaft: Die Flüchtlinge, sie dürfen raus! Am Montag können sie ihre Papiere in der DDR-Vertretung abholen - offiziell eine Abschiebung. Jetzt kommen sie per Fähre oder Flugzeug in den Westen. Aus Platzgründen waren viele in Erholungsheimen im Umkreis von Warschau untergebracht.

Seit Öffnung der ungarischen Grenzen sind 50 000 DDR-Bürger in des Westen geflohen.

OST-BERLIN - 25 000 Menschen haben den Gründungsaufruf des Neuen Forums unterschrieben.

15.10.
OST-BERLIN - Hektik bei der SED-Führung: Die für Ende November geplante Sitzung des Zentral-Komitees der SED wird auf Ende der Woche vorgezogen. Dringendester Tagesordnungspunkt: Die Zusammensetzung des Politbüros.

DDR-Fernsehkommentator Karl Eduard von Schnitzler ("Der schwarze Kanal") lehnt Bonner Hilfsangebote ab. Schnitzler: "So viel Geld hat Bonn gar nicht, wie es uns schuldet für die unermesslichen Schäden, die es uns bei offener Grenze bis zu jenem 13. August zugefügt hat." Am 13. August 1961 begann der Bau der Mauer.

"Konzert gegen Gewalt" in der Erlöser-Kirche. 4000 Zuhörer, auf der improvisierten Bühne 100 prominente Liedermacher, darunter die DDR-Rock-Idole "Silly", "Pankow", "Karat" - bissige Texte gegen sture SED-Politik.

Die Initiative "Demokratischer Aufbruch" (mit Pfarrer Rainer Eppelmann) fordert in einem offenen Brief an den Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack eine Untersuchungskommission wegen der Ereignisse am 7. und 8. Oktober.

BAD BRAMSTEDT - Ein Bergmann aus Leipzig flieht über die Autobahn Berlin-Hamburg nach Schleswig-Holstein.

WARSCHAU - Neue Massenflucht nach Polen: Am Wochenende begannen die Herbstferien, viele Familien fahren jetzt mit ihren Kindern nach Warschau, drängen in die Botschaft. Mehr als 1200 sind schon drin.

16.10.
150 000 in Leipzig - Stacheldraht an der tschechischen Grenze

Der Schrei nach Freiheit - er wird immer lauter. Vor einer Woche 70 000 - jetzt demonstrieren 150 000 Menschen gegen das SED-Regime. Ihre Forderungen sind unüberhörbar: "freie Wahlen", "Pressefreiheit", "Meinungsfreiheit". Neu: die vielen Transparente. Freche Sprechchöre: "Erich, leit' Reformen ein, oder geh' ins Altersheim" - "Visafrei bis Shanghai". Die Staatsmacht hält sich im Hintergrund, beobachtet.

Ungewöhnlich: Die "Aktuelle Kamera", Hauptnachrichtensendung der DDR, berichtet über die Demonstration.

Machtspiele im Hintergrund: Honecker will ein Panzerregiment durch die Stadt fahren lassen - zur Abschreckung. Krenz kann ihn stoppen.

PLAUEN - 20 000 Menschen demonstrieren für Reformen und friedliche Erneuerung. Stasi, Vopos halten sich zurück. Demos auch in vielen anderen Städten wie Magdeburg (10 000), Halle (5000), Dresden (10 000).

WARSCHAU - Die ersten dürfen raus. 49 DDR-Bürger erhalten ihre Ausreisepapiere, müssen per Erklärung auf ihre DDR-Staatsbürgerschaft verzichten. Sie bekommen eine Art Personalausweis mit Foto. Etwa 1400 Menschen sind jetzt in der Botschaft und in 15 Erholungsheimen um Warschau.

ZINNWALD - DDR-Grenzer ziehen Stacheldraht an der Grenze zur Tschechoslowakei, Vopo-Streifen verstärkt.

17.10.
Geheim: Politbüro setzt Honecker ab - Warschau-Flüchtlinge in Düsseldorf

OST-BERLIN - Honeckers Stellvertreter, Prof. Dr. Manfred Gerlach: "Es müssen sehr bald, sehr schnell, ja ich möchte sagen, morgen, übermorgen Entscheidungen getroffen werden." - Kündigt er das Ende der Ära Honecker an?

Das Politbüro tagt bis tief in die Nacht, beschließt (vorerst noch geheim) Honeckers Rücktritt, Egon Krenz als seinen Nachfolger.

ADN-Meldung über die Leipziger Demonstration vom Vorabend: "zehntausend Bürger der Messestadt" seien auf der Straße gewesen. Immerhin: "Bürger" statt "Randalierer", wie noch eine Woche zuvor.

In Teltow gründen Arbeiter des Geräte- und Reglerwerkes "Wilhelm Pieck" eine eigene Gewerkschaft ("Reform").

DRESDEN - Dreieinhalb und viereinhalb Jahre Gefängnis wegen versuchter Republikflucht: Zwei junge Männer sollen am 5. Oktober in Dresden versucht haben, auf einen der Züge aus Prag aufzuspringen (Bericht "Junge Welt").

WARSCHAU - Die ersten 124 der rund 1500 DDR-Flüchtlinge in der Bonner Botschaft landen in Düsseldorf. Eine Maschine der polnischen Flugline LOT hat sie ausgeflogen. Die nächste Maschine soll am Donnerstag landen. Die "Aktuelle Kamera" berichtet über ihre Ausreise.

MÜNCHEN - Über Ungarn kommen nachts 1840 Flüchtlinge nach Bayern.

18.10.
Honecker ist Rentner, Krenz sein Nachfolger - Mitterand zur Wiedervereinigung

OST-BERLIN - Erich Honecker (77) - 13 Jahre lang war er SED-Chef. Seit 14.12 Uhr ist er Rentner - gestürzt von Politbüro und ZK der SED. 14 Uhr, die Sondersitzung des Zentralkomitees beginnt. Nur elf Minuten später die Meldung der Nachrichtenagentur ADN:

"Das ZK hat der Bitte Erich Honeckers entsprochen, ihn aus gesundheitlichen Gründen von der Funktion des Generalsekretärs, vom Amt des Staatsratsvorsitzenden und von der Funktion des Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrates der DDR zu entbinden."

Mit Honecker gehen die Politbüro-Mitglieder Günter Mittag (63) und Joachim Herrmann (60).

Honeckers Nachfolger: Egon Krenz (52), Honeckers "Lieblingsschüler" (O-Ton Honecker), gilt als Hardliner und Glasnost-Gegner. Der Geheimdienst-Chef (Krenz ist im Politbüro verantwortlich für Staatssicherheit):

"Mit dem heutigen Tag werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wiedererlangen."

Wolf Biermann, Liedermacher (flog 1976 aus der DDR): "Krenz ist der mieseste aller möglichen Kandidaten."

COBURG - Ein DDR-Heizer gräbt sich unter dem Signalzaun durch. Mit Frau und Kind klettert er über den letzten Grenzzaun in die Freiheit. Bei Helmstedt (Niedersachsen) scheitert die Flucht von zwei Erwachsenen und drei Kindern - festgenommen.

PARIS - Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand: "Eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten liegt in der Logik der Geschichte."

19. 10.
Die neue Freiheit im DDR-Fernsehen -  Machtmonopol nicht antasten - 1700 in Warschau

OST-BERLIN - Die neue Freiheit im DDR-Fernsehen: "Bürger fragen, Politiker antworten" - eine Sendung auf Kanal 1, zwischen 20 und 21 Uhr. Hochrangige DDR-Funktionäre diskutieren zum ersten Mal frei und ohne Zensur über den Zustand ihres Landes. Mit dabei: TV-Hetzer Karl Eduard von Schnitzler ("Sudel-Ede"). Er bedankte sich am Ende der Sendung (soll jetzt alle 14 Tage laufen) für die Möglichkeit, frei reden zu können...

Konferenz bei Krenz. Mit dabei: DDR-Innenminister Dickel, Stasi-Chef Mielke, hochrangige SED-Funktionäre. Ergebnis: Das Machtmonopol der SED darf nicht angetastet werden. Das geht nur, wenn man die gehen lässt, die das nicht akzeptieren wollen.

ZITTAU - Veranstaltung des Neuen Forums in der Johanniskirche. Die Reden werden per Lautsprecher nach draußen übertragen.

WARSCHAU - Mehr als 1700 Menschen warten in der Bonner Botschaft auf die Ausreise, 135 landen in Düsseldorf.

20.10.
BONN - Bundeswirtschaftsminister Helmut Haussmann (FDP) verspricht Zuschüsse und Kredite für die DDR-Privatwirtschaft. Voraussetzung: weitere Reformen.

OST-BERLIN - Die SED-Regierung bietet jedem DDR-Flüchtling die Rückkehr an, appelliert an alle anderen zu bleiben.

DRESDEN - Schweigemarsch: 50 000 ziehen durch die Straßen, Kerzen in den Händen. Ihre stumme Forderung: freie Wahlen.

BONN - In den ersten neun Monaten kamen 110 180 Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik, davon hatten 71 355 eine Ausreisegenehmigung. Der Rest: Flüchtlinge.

21.10.
BONN - Bundeswirtschaftsminister Helmut Haussmann (FDP) verspricht Zuschüsse und Kredite für die DDR-Privatwirtschaft. Voraussetzung: weitere Reformen.

OST-BERLIN - Die SED-Regierung bietet jedem DDR-Flüchtling die Rückkehr an, appelliert an alle anderen zu bleiben.

DRESDEN - Schweigemarsch: 50 000 ziehen durch die Straßen, Kerzen in den Händen. Ihre stumme Forderung: freie Wahlen.

BONN - In den ersten neun Monaten kamen 110 180 Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik, davon hatten 71 355 eine Ausreisegenehmigung. Der Rest: Flüchtlinge.

OST-BERLIN - Demonstrationen - Tausende gehen auf die Straße, halten sich an den Händen. Eine kilometerlange Menschenkette für die Freilassung der verhafteten Demonstranten vom 7. und 8. Oktober.

SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski und Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack diskutieren an der Volkskammer mit den Menschen.

Trotz des scheinbaren politischen Tauwetters: Die Menschen sind misstrauisch. Angelika Barbe (37), eine der Sprecherinnen im Landesvorstand der neuen Sozialdemokratischen Partei der DDR: "Die Leute lassen sich nicht mehr einlullen."

Die Liberaldemokratische Partei (LDPD) will das Neue Forum unterstützen.

22.10.
OST-BERLIN -
Höhere Renten werden ankekündigt: Vom 1. Dezember an soll die Mindestrente um 10 Prozent von 300 auf 330 Ost-Mark steigen.

PRAG - Ministerpräsident Adamec sagt zu: Alle 70 Botschaftsflüchtlinge dürfen ausreisen. Am Wochenende kamen wieder 2610 Flüchtlinge aus Ungarn, in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau warten 1900 auf ihre Ausreise.

BONN - Seit Öffnung der ungarischen Grenze (11. September) kamen bis zum Wochendende 62 670 DDR-Bürger in die Bundesrepublik. Bis zum Sonntag wurden 96 registriert, die wieder zurück gingen.

MOSKAU - "Die frühere DDR hat eine Mauer ohne Fenster und Türen zur Realität errichtet." (sowjetische Gewerkschaftszeitung "Trud")

23.10.
300 000 Menschen - so viele wie nie. Zweieinhalb Stunden lang ziehen sie über den Ring um die Altstadt. Mitarbeiter des Neuen Forums sammeln Unterschriften gegen die Wahl von Krenz zum Staatsoberhaupt. Pfiffe, Sprechchöre gegen Stasi-Mitarbeiter. ADN und das Fernsehen berichten über die Demo.

Demonstrationen auch in Ost-Berlin (3000), Zwickau (2000 beim Schweigemarsch), Halle (10 000), Magdeburg (10 000), Schwerin (40 000).

SED-Politbüro-Mitglied Kurt Hager kündigt Reiseverordnung an: Diese soll vorsehen, "dass alle reisen dürfen, und dass jeder Bürger einen Pass erwerben kann, um zu reisen, und den er auch behält."

Im Fernsehen hetzt Karl-Eduard von Schnitzler noch immer fleißig gegen den Westen. Denn der, das macht "Sudel-Ede" in seiner Sendung "Der schwarze Kanal" klar, ist für die Ergeignisse der vergangenen Tage und Wochen verantwortlich.

BUDAPEST - Parlamamentspräsident Matyas Szüros ruft die Republik Ungarn aus - genau 23 Jahre nach dem missglückten Volksaufstand gegen das kommunistische Regime. Szüros ist provisorischer Staatspräsident.

24.10.
Die erste Wahl mit Gegenstimmen - Flüchtlingsamnestie

"Egon Krenz, wir sind die Konkurrenz!" Mit solchen Sprechchören ziehen 12 000 Demonstranten vom Alexanderplatz zur Volkskammer und durchs Stadtzentrum. Viele tragen Kerzen. Das Staatsratsgebäude ist abgeriegelt, Soldaten stehen Wache.

SED-Generalsekretär Egon Krenz ist gewählt zum Vorsitzenden des Verteidigungsrats und des Staatsrats. Die Überraschung: Zum ersten Mal gibt's Gegenstimmen - 26 Abgeordnete gegen Krenz, weitere 26 enthalten sich. Vor der Krenz-Wahl ist Honecker von der Volkskammer abberufen worden, sein Platz ist leer.

Die Antrittsrede: Krenz spricht von Änderung des Wahlgesetzes, mögliche Amnestie für Flüchtlinge (rund 4000), die bei der Flucht erwischt wurden.

25.10.
Die SED marschiert mit - DDR - Malta - US-Präsident George Bush

50 Botschafts-Flüchtlinge dürfen raus. Sie sollen am Wochenende per Flugzeug oder Bus in die Bundesrepublik kommen.

NEUBRANDENBURG - 20 000 Menschen demonstrieren, die örtliche SED marschiert mit. Demos auch in Ost-Berlin und Jena (5000). Der Schlachtruf: "Demokratie - jetzt oder nie!"

BONN - Republikaner-Chef Franz Schönhuber will in die DDR reisen - Ortsgruppen gründen. Schönhuber in der WELT: "Wir finden in der DDR als überzeugte Antikommunisten einen besonders günstigen Boden."

VALLETTA - Die Fussball-Nationalmannschaft der DDR schlägt Malta mit 4:0.

WASHINGTON - US-Präsidernt George Bush: "Ich erwarte entscheidende Veränderungen im Status Deutschlands während des kommenden Jahrzehnts." Egon Krenz könne "die Uhr nicht zurückdrehen. Die Veränderung ist unausweichlich."

26.10.
Kohl-Krenz: Das 1. Telefonat - Streit um Umtauschkurs - Transit schneller

Helmut Kohl und Egon Krenz - das 1. Telefonat. 8.15 Uhr, der Bundeskanzler wählt die Ost-Berliner Vorwahl 00372, dann eine Geheimnummer. Am anderen Ende der Leitung eine sonore Stimme: "Hier Krenz." Das Gespräch dauert 20 Minuten, die Staatschefs vereinbaren: Kohl und Krenz wollen sich Anfang 1990 treffen.

Krenz: "Wir sind an einer Fortentwicklung der praktischen Zusammenarbeit interessiert. Da gibt es auf vielen Gebieten eine Menge zu tun."

SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski spricht mit Bärbel Bohley und Jens Reich (Mitbegründer Neues Forum) - der erste Kontakt eines hohen Parteifunktionärs mit Vertretern der Bürgerbewegung.

DRESDEN - Im Bezirk Dresden (1,8 Mio Einwohner) sind 22 000 Bürger geflüchtet, darunter 600 Mediziner.

Bei einer Demonstration versammeln sich 100 000 Menschen, fordern die Abschaffung des Führungsanspruchs der SED, freie Wahlen, demokratische Rechte.

Demos und Kundgebungen auch in Rostock (25 000), Erfurt (15 000), Gera (5000) und 16 weiteren Städten.

BONN - Reiseerleichterungen für DDR-Bürger - jetzt gibt's Streit um den Umtauschkurs. Die DDR fordert 1:1, Bonn lehnt das ab. Aktueller Kurs der schwachen DDR-Währung: 100 Mark Ost sind 9,50 Mark West.

WEST-BERLIN- Die DDR macht den Transit schneller. Ab Montag werden die Transit-Visa am Übergang Dreilinden/Drewitz nicht mehr per Hand, sondern per Computer ausgestellt.

Der Berliner Senat verhandelt mit Ost-Berlin über neue Grenzübergänge: Potsdamer Platz, Glienicker Brücke, S-Bahn nach Potsdam, Verlängerung der U1 bis Warschauer Brücke.

27.10.
Amnestie für Flüchtlinge und Demonstranten - Die neue Reisef reiheit - Umfrage

Für Flüchtlinge und Demonstranten in ostdeutschen Gefängnissen: 4000 Inhaftierte sollen bis zum 30. November freigelassen werden. Ausgenommen davon sind Gewalttäter. Flüchtlinge, die über Ungarn oder die Botschaften in Prag und Warschau geflohen sind, werden bei Rückkehr oder Besuch nicht bestraft.

Die neue Reisefreiheit: Pro Jahr 30 Tage in den Westen, ohne Einladung, dazu gibt's 15 West-Mark pro Tag. Ab 1. November brauchen DDR-Bürger kein Visum mehr für Reisen in die CSSR (Visumpflicht galt seit 3. Oktober).

BONN - "Egon Krenz sollte [...] unter Kanzler Kohl das Amt des Vizekanzlers erhalten." - Ein Vorschlag des CSU-Abgeordneten Dr. Klaus Rose (48), stellvertretender Vorsitzender des Haushaltsausschusses.

WARSCHAU - Flüchtlinge aus der Warschauer Botschaft (700) werden nach Düsseldorf ausgeflogen. 176 Flüchtlinge kamen mit Bussen aus der Prager Botschaft nach Weiden (Oberpfalz).

HAMBURG - 52 Prozent der Bundesbürger glauben: Auch unter Egon Krenz bleibt alles beim Alten (Umfrage Sample-Institut).

28.10.
"Gegen den Schlaf der Vernunft" - deutsch-deutscher Box-Skandal - Prügel in Prag

Intellektuellen-Treffen in der Erlöser-Kirche "Gegen den Schlaf der Vernunft": Unter den 70 Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern Prominente wie Christa Wolf, Stefan Heym, Stephan Hermlin.

WEST-BERLIN - Leichtgewichts-Boxer Richard Nowakowski - der zweimalige DDR-Europameister aus Schwerin setzte sich im Januar bei einem Besuch in Stuttgart ab. Jetzt startet er für Frankfurt, holt er sich nach fünf DDR-Titeln auch den Meistertitel West (4:1 gegen Jörg Kästner).

Ein Skandal-Kampf: Kästner ist mit dem Urteil nicht einverstanden, bleibt zwei Minuten lang im Ring sitzen. Sven Ottke, ein Freund Kästners: "Das war wie Almosen an einen Ost-Flüchtling. Sauerei."Nowakowski hofft, dass Frau und Kinder noch dieses Jahr aus der DDR ausreisen können. Sein Wunsch: Im Dezember 1990 beim Vergleichskampf in Köln gegen die DDR zu boxen.

PRAG - 71. Gründungstag der CSSR, die größte Demonstration seit 20 Jahren, mehr als 10 000 Menschen auf dem Wenzelsplatz fordern freie Wahlen, eine neue Regierung. Hunderte von Polizisten gehen mit Schlagstöcken auf die Demonstranten los, nehmen 355 fest. Sieben Demonstranten, drei Polizisten werden verletzt.

Prügel auch für das ZDF-Team von Reporterin Susanne Gelhard. Polizisten mit Schlagstöcken verfolgen das Team bis ins Hotel, vernichten die Filmbänder.

29.10.
"Reisst die Mauer ab!" - geheimes Strategie-Papier

Demonstrationen auch in Dresden, Leipzig, Magdeburg, Plauen, Erfurt, Jena, Neubrandenburg. Immer wieder heftige Debatten mit SED-Vertretern.

BONN - Enthüllt - ein geheimes Strategie-Papier der SED. Oppositions-Gruppen werden als "Feinde des Sozialismus" bezeichnet. Die Opposition spiele mit einer "fremden Macht" zusammen, versuche, "den Staat zu untergraben". Kräfte in der Bundesrepublik finanzierten die "Konterrevolution".

Reaktion von CDU-Generalsekretär Volker Rühe: Die SED wolle das Machtmonopol behalten, denke nicht an die "Große Wende".

30.10.
OST-BERLIN - Nach 29 Jahren das Aus für "Sudel-Ede". Ganze fünf Minuten dauert die letzte Sendung des "Schwarzen Kanals" (berichtete seit 1960 1519 mal als Propaganda-Sendung über die "Missstände" im kapitalistischen Westen).

Karl-Eduard von Schnitzler, Chef-Kommentators des DDR-Fernsehens, eröffnet die Sendung: "Diese Sendung wird die kürzeste sein, zugleich die letzte... Der Revanchismus bleibt uns erhalten, der Klassenkampf geht weiter."

LEIPZIG - Mehr als eine halbe Million Menschen gehen auf die Straße, demonstrieren für Reformen. In Leipzig sind's 300 000, in Ost-Berlin 3000. Weitere Demos in Halle (50 000), 40 000 ziehen mit brennenden Kerzen durch Schwerin, 20 000 durch Karl-Marx-Stadt, 15 000 durch Magdeburg und 5000 durch Plößneck (Bezirk Gera).

31.10.
Auch der Chef der Einheitsgewerkschaft FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) Harry Tisch geht. Egon Krenz fliegt nach Moskau, trifft Michail Gorbatschow. Vorher sagt er im Fernsehen: Die sozialistische Gesellschaft der DDR könne sich nur mit der SED an der Spitze weiterentwickeln.

Eine Analyse der wirtschaftlichen Lage zeigt: Der Staat ist so gut wie bankrott, für die geplanten Reiseerleichterungen fehlen Devisen.

1.11.
Krenz gegen Wiedervereinigung - Umfrage - Ende der Visumspflicht für CSSR

MOSKAU - Egon Krenz bei Gorbatschow - knallhart lehnt er eine Wiedervereinigung ab, ein Abriss der Mauer komme für ihn nicht in Frage. Gorbatschow dagegen sagt: "Ihr müsst euch von allem trennen, was hindert."

HAMBURG - BILD-Umfrage: 64 Prozent der Bundesbürger halten eine Wiedervereinigung für möglich, 32 Prozent nicht.

OST-BERLIN - Das Leben wird teuer werden, wenn die marode ostdeutsche Wirtschaft überhaupt eine Chance haben soll. Der Ost-Berliner SED-Chef Günter Schabowski stellt fest, was alles in der DDR subventioniert wird: "Sogar Blumen und Taxifahrten. Pro eine Mark Taxigebühr gibt der Staat jedem eine Mark dazu - ein unmöglicher Zustand."

Der Staatshaushalt der DDR: 269 Milliarden Mark. Rund 60 Milliarden davon gibt der Staat für Subventionen aus.

PRAG - Ende der Visums-Pflicht für die DDR - und prompt ist die Bonner Botschaft wieder voll. 600 Flüchtlinge warten dort auf die Ausreise. Insgesamt fahren 8000 in die CSSR.

2.11.

OST-BERLIN - Rücktrittswelle in der DDR-Führung: Ministerpräsident Willi Stoph (75) wird in der Folgewoche abgelöst, auch viele Minister werden gehen.

Die sowjetischen Perestroika-Filme dürfen aufgeführt werden. Im Vorjahr waren sie noch verboten.

PRAG - Wieder 1600 DDR-Bürger in der Botschaft, nur etwa 100 Flüchtlinge bekommen im Prager DDR-Konsulat ihre Ausreisepapiere.

BONN - 200 Flüchtlinge kehrten wieder in die DDR zurück.

3.11.
Honecker in Klinik - Wieder Chaos in Prag - Krenz appelliert an Bürger: "Wir brauchen Sie!"

OST-BERLIN - Erich Honecker (77): Er liegt in einer Spezial-Klinik, wird künstlich ernährt. Sein Blut wird gewaschen, gegen die Schmerzen bekommt er Morphium. Der einst mächtigste Mann der DDR - zwei Wochen nach seinem Sturz hat ihn der Krebs niedergeworfen. Honecker war im August an der Gallenblase operiert worden, dabei entdeckten die Ärzte den Krebs.

PRAG - Bis zum Abend haben sich wieder 5000 DDR-Bürger auf das Gelände der bundesdeutschen Botschaft geflüchtet. Jede Minute kommt einer dazu. Aus der Bundesrepublik werden Betten, Decken, Schlafsäcke herangekarrt, doch schon jetzt ist die Kapazität erschöpft. Und fürs Wochenende werden Tausende mehr erwartet.

Dann die Erlösung, gegen 21 Uhr: Sie dürfen raus, ohne Formalitäten. Noch in der Nacht sollen die ersten Züge starten. Nach dieser Nachricht fahren immer mehr DDR-Bürger in die CSSR.

OST-BERLIN - Egon Krenz im Fernsehen: 20 Minuten lang spricht der SED-Chef über die Situation im Land, kündigt eine "Reform des politischen Systems" an: Wirtschaftsreformen, Verfassungsgericht, Zivildienst. Krenz: "Vertrauen Sie unserer Politik der Erneuerung. Ihr Platz ist hier. Wir brauchen Sie."

Beunruhigung in der SED-Spitze wegen der für Samstag angekündigten Groß-Demo - erstmals offiziell genehmigt. Intern ordnet Krenz "gewisse Elemente des Ausnahmezustands" an, nach außen verkündet er weitere Entlassungen im Politbüro: Hermann Axen (ZK-Sekretär für Außenpolitik), Kurt Hager (ZK-Sekretär für Wissenschaft und Kultur, Chef-Ideologe der SED), Erich Mielke (Minister für Staatssicherheit), Alfred Neumann (stellvertretender Regierungschef), Erich Mückenberger (Chef der Parteikontrollkommission) müssen gehen.

BONN - Frankreichs Staats präsident Francois Mitterand hat keine Angst vor der Wiedervereinigung. Diese werde "schnell gehen, sehr schnell, das Thema wird das Ende dieses Jahrhunders bestimmen."

OST-BERLIN - Die erste Gegendarstellung im SED-Organ "Neues Deutschland": Das Blatt hatte sieben Wochen zuvor einen Bericht über die angebliche Entführung eines DDR-Bürgers in den Westen gedruckt. Leser hatten an der Wahrheit dieses Berichts gezweifelt, die Eltern des "Entführers" schickten eine Gegendarstellung. Reaktion: "Wir müssen diese Kritik mit dem heutigen Kenntnisstand akzeptieren und bedauern deshalb die Veröffentlichung."

4.11.
Eine Million Menschen demonstrieren in Ost-Berlin - Das Tor zur Freiheit in Prag

OST-BERLIN - Rote Nelken, brennende Kerzen: Aus der ganzen Republik sind DDR-Bürger nach Berlin gekommen, eine Million Menschen. Auf dem Alexanderplatz die Kundgebung, um 11.30 geht's los. Redner: Vertreter des Neuen Forum, der Berliner SED-Chef Günter Schabowski, die Schriftsteller Stefan Heym und Christa Wolf, der ehemalige Stasi-Chef Markus Wolf. Pfiffe gegen die Genossen Wolf und Schabowski, sonst bleibt alles friedlich.

Bei der Demo wird knallrotes Spielgeld in Form von DDR-Geld verteilt. Aufschrift: "40 Quark der Deutschen Desinfizierten Republik - Hierfür bekommt man nichts. Für die anderen aber auch nicht."

Polizei- und Sicherheitskräfte bleiben im Hintergrund. Trotzdem: In unmittelbarer Nähe des Brandenburger Tors erhöhte Alarmbereitschaft: Die SED-Führung berfürchtet Grenzdurchbrüche.

Der Liedermacher Wolf Biermann (von der DDR ausgebürgert) darf nicht nach Ost-Berlin einreisen - abgewiesen am Übergang Friedrichstraße.

Demonstrationen in mehr als 40 Städten überall im Land: Leipzig (500 000), Magdeburg (40 000), Suhl (20 000), Arnstadt (5000).

PRAG - Das Tor zur Freiheit - es steht in Prag. In der vergangenen Nacht wurde den Botschaftsflüchtlingen die Ausreise verkündet, sofort, ohne Formalitäten. Eine Nachricht, die auch in der DDR blitzartig bekannt wird. Tausende fahren in überfüllten Zügen in die CSSR, wollen noch schnell raus, wer weiß, wie lange die Grenze offen bleibt.

Die DDR-Grenzer kontrollieren gar nicht mehr, für die Ausreise genügt der Personalausweis. Um 2.55 knattert der erste Trabi über den Grenzübergang Waidhaus.

OST-BERLIN - Vize-Innenminister Dieter Winderlich in der "Aktuellen Kamera": Anträge auf Ausreise werden unbürokratisch entsc hieden, die Bürger sollen die Ausreise bei der örtlichen Polizeiinspektion beantragen, nicht mehr über die CSSR ausreisen.

5.11.
Trabi-Schlangen auf dem Weg nach Westen - 30 Tage Reisefreiheit

SCHIRNDING - Trabi-Schlange an der tschechisch-bayerischen Grenze, 20 Kilometer lang. 15 000 Menschen kommen in den Westen, manche nur für einen "Kurzurlaub" in Bayern ("Testflüchtlinge"). Rotkreuz-Helfer verteilen heißen Tee, belegte Brote. Die Aufnahmelager in Bayern sind überfüllt.

OST-BERLIN - Rainer Eppelmann, Ost-Berline Pfarrer und Mitbegründer des "Demokratischen Aufbruch": "Die SED wird teilen müssen. Ein wirklicher Dialog ist nur möglich, wenn sie ihren Führungsanspruch aufgibt."

Innenminister Dickel verspricht im DDR-Fernsehen: DDR-Bürger dürfen jährlich 30 Tage (in dringenden Fällen auch mehr) in jedes Land ihrer Wahl reisen, die Anträge werden in 3 bis 30 Tagen bearbeitet.

6.11.
Der Solidaritäts-Zuschlag: Horst Ehmke (stellvertretender SPD-Fraktionschef) sieht ihn aufgrund der steigenden Flüchtlingsströme aus der DDR (an diesem Tag kommen 3600, am Wochenende waren es fast 24 000) voraus:

"Ich plädiere für einen Solidarbeitrag der Gutverdienenden, die durch das Steuergesetz 1990 ein weiteres Mal bevorteilt werden. Sonst können wir diese enorme Integrationsleistung nicht packen."
Am 1. Juli 1991 kommt der Soli (7,5 Prozent), dann aber für alle.

LEIPZIG - Strömender Regen, trotzdem marschieren wieder mehr als 500 000 Menschen durch die Innenstadt. Lautstarke Kritik trotz der angekündigten Reisefreiheit: Auf er Anträge, Ablehnung möglich - und keine Devisen: Die Bürger sind unzufrieden.

Die Stimmung der Demonstranten: aggressiver als bei den vorangegangenen Demos. Mitglieder des Neuen Forums bilden eine Menschenkette, um das Haus des Staatssicherheitsdienstes vor Übergriffen zu schützen.

Demos auch in Dresden, Halle (100 000 verlangen den Rücktritt des Bezirkschefs Hans-Joachim Böhme), Karl-Marx-Stadt und Schwerin (je 50 000) - insgesamt in mehr als 70 Städten.

OST-BERLIN - Die Frage der Reise-Devisen macht die SED-Führung nervös. Finanzminister Höfer verspricht im Fernsehen eine Regelung in den nächsten Tagen.

Den Verkehrsbetrieben (BVB) laufen die Fahrer weg. 251 verließen seit Januar den Betrieb, 47 gingen in den Westen - Überstunden für die gebliebenen Kollegen, Busse fallen aus.

7.11.
Willi Stoph tritt zurück - Reisegesetz abgelehnt - Nazi-Parolen in Erfurt

Bearbeitung: W. NÄSER 8.1.1999 (wird fortgesetzt)