Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Brussig, Thomas (* 1965): Aus: Am kürzeren Ende der Sonnenallee, Berlin 1999 ( S. 87-89)
VORBEMERKUNG. Es gibt sie wirklich, die Sonnenallee.
In südöstlicher Richtung zieht sie sich 4 km lang von
Kreuzberg bis Baumschulenweg (Postleitzahlen
12043,-45,-47,-55,-57,-59) und trifft am kürzeren Ende (im ehemaligen
Ost-Berlin) auf die Baumschulenstraße (PLZ 12437). Brussig
porträtiert eine Gruppe ganz normaler Jugendlicher, ihre Abenteuer,
Gefühle und Wünsche am Schnittpunkt von Sozialismus und Freiheit
im Berlin vor der Wende. Die "Sonnenallee" wurde auch verfilmt (hierzu Kerstin
Decker im "Tagesspiegel", 7.10.99). W.N.
"Wer wirklich bewahren will, was geschehen ist, der darf sich nicht den Erinnerungen hingeben. Die menschliche Erinnerung ist ein viel zu wohliger Vorgang, um das Vergangene nur festzuhalten; sie ist das Gegenteil von dem, was sie zu sein vorgibt. Denn die Erinnerung kann mehr, viel mehr: Sie vollbringt beharrlich das Wunder, einen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, in dem sich jeder Groll verflüchtigt und der weiche Schleier der Nostalgie über alles legt, was mal scharf und schneidend empfunden wurde. Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen." S. 156 f.
Es sprach sich [] schnell herum, daß es am kürzeren Ende der Sonnenallee einen hervorragenden Gemüseladen gab. Das ging wie von allein, denn es war fast eine Begrüßungsformel, auf den Satz "Ich war einkaufen" zu erwidern "Und, hat's was gegeben?" Nach wenigen Tagen war der Gemüseladen in der Sonnenallee richtig berühmt, geradezu legendär. Es bildete sich eine Schlange, die immer, immer länger wurde. Das erste und das letzte, was die Westbesucher also von der DDR sahen, war eine sehr, sehr lange Schlange... Nein, so hatte sich das der Parteimensch nicht vorgestellt. Er ließ den Laden sofort schließen und überlegte nun, welche Artikel es ausschließlich in der DDR gibt. So was, fand er, muß im Gemüseladen verkauft werden. In seinen kühnsten Vorstellungen sah der Parteimensch viele, viele Westberliner vor dem neuen Laden Schlange stehen. Schließlich hatte er die entscheidende Idee, aber er hielt sie geheim.
Der Laden wurde umgebaut, die Schaufenster waren mit Tüchern verhängt, und keiner in der Sonnenallee wußte, was in den Laden kommen sollte. Natürlich gab es jede Menge Gerüchte. Ein Laden, in dem Dinge verkauft werden, die es im Westen nicht gibt - was soll das für ein Laden sein? Schließlich setzte sich das Gerücht durch, daß in diesem Laden nur Exportgüter verkauft werden würden: Gitarren, Weihnachtspyramiden, Wernesgrüner...
Zur Eröffnung war die Sonnenallee schwarz vor Menschen, die voller Hoffnung waren und sich jede Menge Geld eingesteckt hatten - als endlich die Verhüllungen von den Schaufenstern fielen, sahen sie rote Fahnen, DDR-Fahnen, Honeckerporträts, Mainelken, FDJ-Hemden, Pioniertrommeln und Embleme. Alles in allen Größen und Variationen. Daraufhin wurden noch am selben Tag auf dem Amt sieben Ausreiseanträge gestellt. "Dauernd ist Wasser abjestellt, und nüscht zu koofen jibt's, außer so rotet Jelumpe", schimpfte einer der Antragsteller, der wie Herr Kuppisch Straßenbahnfahrer war.
Tatsächlich machte dieser Laden keinen schlechten Umsatz, besonders in den späteren Jahren, als der Zwangsumtausch so hoch war, daß die Westler ihr Ostgeld kaum ausgeben konnten. Da nutzten viele die letzte Gelegenheit, ihr Geld loszuwerden, indem sie sich Papierfähnchen und andere kuriose Dinge kauften. Die Gemüsefrau machte das ganz gut. "Für drei zwanzich kann ich Ihnen noch hundert Fähnchen geben. Nee, so ein FDJ-Hemd kost acht fuffzich, aber wenn was fehlt, legen Sie's in West drauf." Das Westgeld behielt sie, die Kasse füllte sie aus ihrem Portemonnaie auf. Das läpperte sich täglich auf einen Zehner West, und übern Monat und im Jahr kam da einiges zusammen. Die Gemüsefrau wurde zur Grande Dame der Sonnenallee, duftete nach Paris, schminkte sich wie die Königin der Nacht und legte sich glänzende Seidenschals über ihre Schultern. Sie wußte, daß sie eine gute Partie ist, denn wer sie freite, konnte im Intershop Werkzeuge von Black & Decker kaufen. Sie hatte noch immer die Figur eines Marktweibs, verkaufte Papierfähnchen und Honeckerbilder, aber sie stand im Laden, als bediene sie bei einem Juwelier der allerersten Adresse. Und was das Unerklärlichste war: Obwohl der Laden voll war mit Fahnen, Emblemen und Pioniertüchern, hieß er für die Leute am kürzeren Ende der Sonnenallee trotzdem Gemüseladen, und sie blieb die Gemüsefrau.
Wird ergänzt * HTML + Hervorhebungen: Dr. W. Näser, MR, 21.2.2002