EU-Verfassung: "Buh" aus Holland

Die Niederländer wollen die EU-Verfassung nicht. Am Mittwoch werden sie über den Vertrag abstimmen. Ihr Nein ist mehr als Unbehagen mit Europa - das Land steckt in einer tiefen Identitätskrise

Aus: DIE ZEIT 22/2005; Autor: Karsten Polke-Majewski

Die Niederländer werden an diesem Mittwoch gegen die europäische Verfassung stimmen. Jedes andere Ergebnis wäre angesichts der Stimmung im Land und der bekannten Umfrageergebnisse eine Überraschung. Die Frage ist eigentlich nur, wie hoch die Ablehnung ausfällt; und wie viele Bürger in die Wahllokale gehen.

Nachdem die Franzosen die Verfassung schon zurückgewiesen haben, könnten viele Holländer es nicht mehr für nötig halten, ihr Nein ebenfalls kundzutun. Das wäre dann vielleicht die letzte Chance für die Regierung des christdemokratischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende, den Spieß doch noch umzudrehen. Denn das Ergebnis des Referendums bindet Regierung und Parlament nicht in ihrer Entscheidung. Zwar haben die großen Parteien sich darauf geeinigt, sie wollten dem Volkswillen folgen – aber nur, wenn die Wahlbeteiligung hoch genug ist. Ein schwacher Trost für Verfassungsfreunde.

Was ist los in Holland? Jahrzehntelang galt das Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaft als Garant europäischer Stabilität und Verfechter der Integration. Nun haben die Bürger genug von Europa; der Prozentsatz der niederländischen Nein-Sager wird den der französischen wohl noch deutlich übersteigen.

Seit bald einem Jahrzehnt ist in der niederländischen Bevölkerung ein untergründiger Strom des Unbehagens auszumachen, der stetig anschwillt. Verschiedenste Sorgen und Ängste fließen da zusammen und schaffen eine Stimmung, die sich mit schöner Regelmäßigkeit bei Wahlgängen entlädt – gleich, worum es bei der Abstimmung genau geht.

Nachdem das Land Ende der neunziger Jahre endlich der „holländischen Krankheit“ entkommen schien und eine Zeit der Hochkonjunktur erlebte, verschärft sich die ökonomische Lage zusehends. Die Wirtschaft stagniert im dritten Jahr. Die Arbeitslosigkeit, die vor wenigen Jahren noch auf unter zwei Prozent gefallen war, wächst wieder – auf wesentlich niedrigerem Niveau als in Deutschland, doch deutlich spürbar für jeden Bürger.

Die Sozialsysteme ächzen unter der Last der schwachen Konjunkturentwicklung. Ärzte streiken wegen schlechter Bezahlung, Patienten beklagen lange Wartezeiten. Die Innenstädte verwahrlosen, weil viele Kommunen in Zeiten voller Kassen nicht genug in die Infrastruktur und die Stadtentwicklung investierten. Die sozialen Gegensätze in den Großstädten des Ballungsgebiets der randstad (Amsterdam, Den Haag, Rotterdam, Utrecht) verschärfen sich, ganze Stadtviertel verfallen. Dort bildet sich eine Subkultur aus Armut, sozialer Verwahrlosung und Kriminalität. Hinzu kommt der Schock zweier politischer Morde – an Pim Fortuyn und Theo van Gogh – die die Grundfesten des toleranten, liberalen Landes erschüttert haben.

Die Niederlande stecken in einer tiefen Identitätskrise. Nach dem Tod van Goghs sagte der Schriftsteller Harry Mulisch, die friedlichen, toleranten und liberalen Niederlande gebe es nicht mehr, es sei „kalt“ geworden in Holland. Diese Krise hat auch die Politik erfasst. Seit 1994 (also schon lange vor dem Tod Fortuyns), ist das politische System in Bewegung geraten. Keine Partei, keine politische Richtung kann sich mehr ihrer Anhängerschaft sicher sein. Stürzten beispielsweise die Sozialdemokraten 2002 trotz der erfolgreichen Politik ihres Ministerpräsidenten Wim Kok in der Wählergunst von 29 auf 15 Prozent ab, gewannen sie bei den vorgezogenen Neuwahlen ein Jahr später wieder rund 27 Prozent. Ähnlich heftigen Schwankungen unterliegen alle Parteien. Die Zahl der Wechselwähler steigt von Wahl zu Wahl.

Ständig darauf bedacht, Entscheidungen im Konsens zu treffen und Konfrontationen möglichst zu vermeiden, haben die Parteien die politische Debatte jeglichen Profils entkleidet. Wo es keine erkennbaren Unterschiede mehr gibt, finden die Bürger keine Anknüpfungspunkte. So verliert die Politik den Kontakt zur Bevölkerung und das Gefühl dafür, was die Bürger bewegt. Pim Fortuyn konnte 2002 aus dem Stand 17 Prozent der Stimmen gewinnen, weil er die Probleme des Landes populistisch, aber offen ansprach: die in weiten Teilen gescheiterte Integrationspolitik, die Verwahrlosung der Städte, eine mancherorts Überhand nehmende Straßen- und Kleinkriminalität.

Die Warnung des so genannten Fortuyn-Aufstands scheint von der etablierten Politik aber nicht ausreichend wahrgenommen worden zu sein. Zwar reagierten die Parteien nach dem Mord an dem Populisten mit schärferen Gesetzen. Aber sie setzten eine Spirale in Gang: Bürger fordern mehr Sicherheit, die Politik reagiert mit härteren Regeln, Bürger und Medien verlangen weiteres Durchgreifen, gemäß dem Motto: „Wenn die Politik solche Regeln beschließt, muss es ja wirklich schlimm sein.“ So kommt es zu Gesetzen, von denen manche aus Sicht von Fachleuten sogar gegen Grundrechte verstoßen. Doch die Erkenntnis, dass das Misstrauen der Bürger sich grundsätzlich gegen die Politik, ihre Entscheidungen und Meinungen richtet, ist vielen in Den Haag offenbar noch nicht gekommen.

So steckt in der Skepsis der Holländer gegenüber der europäischen Verfassung mehr als der Ärger, der pro Kopf gerechnet größte Nettozahler der EU zu sein, durch eine mögliche Unterbewertung des Guldens bei der Euro-Einführung viel Geld verloren zu haben oder in einem großen Europa an den Rand gedrängt zu werden. Sie ist auch Ausdruck einer Störung des politischen Systems. Europa, Sicherheit, Integration sind dafür gerne genutzte Projektionsflächen.

Quelle: Internet

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