Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Unter der logischen Syntax einer Sprache verstehen wir die formale Theorie der Sprachformen dieser Sprache: die systematische Aufstellung der formalen Regeln, die für diese Sprache gelten, und die Entwicklung der Konsequenzen aus diesen Regeln. Formal soll eine Theorie, eine Regel, eine Definition od. dgl. heißen, wenn in ihr auf die Bedeutung der Zeichen (z.B. der Wörter) und auf den Sinn der Ausdrücke (z.B. der Sätze) nicht Bezug genommen wird, sondern nur auf die Art und Reihenfolge der Zeichen, aus denen die Ausdrücke aufgebaut sind.
Nach üblicher Auffassung sind Syntax und Logik trotz mancher Zusammenhänge im Grunde Theorien sehr verschiedener Art. Die Syntax einer Sprache stellt Regeln auf, nach denen die sprachlichen Gebilde (z.B. die Sätze) aus Elementen (z.B. aus Wörtern und Wortteilen) zusammenzusetzen nsind. Die Hauptaufgabe der Logik sieht man dagegen in der Aufstellung von Regeln, nach denen Urteile aus anderen Urteilen erschlossen werden können.Durch die Entwicklung der Logik in den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch immer deutlicher herausgestellt, daß sie nur dann exakt betrieben werden kann, wenn sie sich nicht auf die Urteile (Gedanken oder Gedankeninhalte) bezieht, sondern auf die sprachlichen Ausdrücke, insbesondere die Sätze. Nur in bezug auf diese lassen sich scharfe Regeln aufstellen. Und in der Praxis hat ja tatsächlich jeder Logiker seit Aristoteles sich bei der Aufstellung von Regeln an die Sätze gehalten. Aber auch diejenigen modernen Logiker, die mit uns der Auffassung sind, daß die Logik es mit den Sätzen zu tun hat, pflegen doch meist zu meinen, daß es sich in der Logik um die Sinnbeziehungen zwischen Sätzen handle; im Unterschied zu den Regeln der Syntax seien die der Logik nicht-formal. Demgegenüber soll hier die Auffassung vertreten und durchgeführt werden, daß auch die Logik die Sätze formal zu behandeln hat. Wir werden sehen, daß die logischen Eigenschaften von Sätzen (z.B. ob ein Satz analytisch, synthetisch oder kontradiktorisch ist, ob er ein Existenzsatz ist od. dgl.) und die logischen Beziehungen zwischen Sätzen (z.B. ob zwei Sätze einander widersprechen oder miteinander veträglich sind, ob der eine aus dem andern logisch folgt od. dgl.) nur von der syntaktischen Struktur der Sätze abhängen. So wird die Logik zu einem Teil der Syntax, wenn diese weit genug gefaßt und exakt formuliert wird.Der Unterschied zwischen den syntaktischen Regeln im engeren Sinn und den logischen Schlußregeln ist nur der Unterschied zwischen Formregeln und Umformungsregeln; beide aber verwenden keine andern als die syntaktischen Bestimmungen. So ist es gerechtfertigt, wenn wir das System, das Formregeln und Umformungsregeln zusammenfaßt, als logische Syntax bezeichnen.
Die Aufstellung der formalen Form- und Umformungsregeln in bezug auf eine natürliche Wortsprache (z.B. die deutsche, die lateinische) würde infolge des unsystematischen und logisch mangelhaften Aufbaues so kompliziert sein, daß sie praktisch kaum durchführbar wäre. Dasselbe gilt auch für die künstlichen Wortsprachen (z.B. Esperanto); wenn sie nauch manche logischen Mängel der natürlichen Sprachen vermeiden, so müssen sie doch als Umgangssprachen, die sich an die natürlichen Sprachen anlehnen wollen, noch logisch sehr kompliziert sein. Wir wollen für einen Augenblick von den formalen Mängeln der Wortsprachen absehen und uns an Beispielen klarmachen, daß Formregeln und Umformungsregeln von gleicher Art sind, und daß beide formal gefaßt werden können. Daß z.B. die Wortreihe "Piroten karulieren elatisch" ein Satz ist, kann, wenn eine geeignete Regel aufgestellt ist, festgestellt werden, sofern nur bekannt ist, daß "Piroten" ein Substantivum (im Plural), "karulieren" ein Verbum (in der 3. Pers. Plur, Ind.) und "elatisch" ein Adverbium ist (was übrigens in einer gut konstruierten Wortsprache, wie z.B. in Esperanto, aus der Form der Wörter zu ersehen sein würde); die Bedeutung der Wörter braucht hierfür nicht bekannt zu sein. Ferner kann, wenn eine geeignete Regel aufgestellt ist, aus dem genannten Satz und dem Satz "A ist ein Pirot" der Satz "A karuliert elatisch" erschlossen werden, wenn nur wieder die Wortarten der einzelnen Wörter bekannt sind; auch hierfür braucht ihre Bedeutung und der Sinn der drei Sätze nicht bekannt zu sein.
Wegen der Mängel der Wortsprachen wird in diesem Buche nicht die logische Syntax einer solchen Sprache aufgestellt, sondern die zweier konstruierter symbolischer Sprachen (d.h. solcher, die anstatt der Wörter Formelzeichen verwenden). Das gleiche pflegt man ja überhaupt in der modernen Logik zu tun; nur in der symbolischen Sprache ist es gelungen, zu exakten Formulierungen und strengen Beweisen zu gelangen. Und so wird es auch nur in bezug auf eine solche konstruierte symbolische Sprache möglich sein, ein zugleich strenges und einfaches Regelsystem aufzustellen. Nur ein solches strenges und einfaches System macht es uns möglich, Eigenart und Reichweite der logischen Syntax deutlich zu machen.
Die Sätze, Definitionen und Regeln der Syntax einer Sprache handeln von den Formen dieser Sprache. Wie aber sind nun diese Sätze, Definitionen und Regeln selbst korrekt auszudrücken? Ist hierfür sozusagen eine Übersprache erforderlich und für deren Syntax eine dritte Sprache und so fort ins Unendliche? Oder aber ist es möglich, die Syntax einer Sprache in dieser selbst zu formulieren? Es liegt die Befürchtung nahe, daß bei einem solchen Vorgehen Widersprüche auftreten könnten, wie sie bekanntlich in der Cantorschen Mengenlehre und in der vor-Russellschen Logik durch gewisse rückbeziehende Begriffsbildungen von scheinbar ähnlicher Art entstanden sind. Wir werden aber später sehen, daß es möglich ist, die Syntax einer Sprache widerspruchsfrei in dieser Sprache selbst auszudrücken in dem Umfang, der durch den Reichtum der betreffenden Sprache an Ausdrucksmitteln bedingt ist.
Zunächst wollen wir uns jedoch um diese Frage nicht kümmern, so bedeutungsvoll sie auch ist. Wir werden die syntaktischen Begriffe in bezug auf die von uns gewählten Sprachen aufstellen und die Frage, ob wir die mit Hilfe dieser Begriffe gebildeten Sätze und Regeln in jener Sprache selbst ausdrücken können oder nicht, für später beiseite lassen. Bei der ersten Aufstellung einer Theorie pflegt ja überhaupt ein solches gewissermaßen naives Vorgehen fruchtbarer zu sein: man macht zuerst Geometrie, Arithmetik, Differentialrechnung, Physik; erst später (zuweilen Jahrhunderte später) stellt man erkenntnistheoretische und logische Erörterungen über die schon entwickelten Theorien an. So werden auch wir zunächst die Syntax machen und erst später ihre Begriffe formalisieren und dadurch ihren logischen Charakter bestimmen.
Bei diesem Vorgehen haben wir es zunächst mit zwei Sprachen zu tun: mit der Sprache, die das Objekt unserer Darstellung bildet - wir wollen sie die Objektsprache nennen -, und mit der Sprache, in der wir über die syntaktischen Formen der Objektsprache reden - wir wollen sie die Syntaxsprache nennen. Als Objektsprachen nehmen wir, wie gesagt, bestimmte symbolische Sprachen; als Syntaxsprache verwenden wir zunächst einfach die deutsche Sprache, wobei wir einige Frakturzeichen zu Hilfe nehmen.
Wird ergänzt. HTML: DR. W. Näser, MR * Stand: 9.3.2002