INT. SOMMERKURS DER PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR UND MEDIEN Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser Text 7: WIR SIND IM BILD. Von der Television zur Telepräsenz: Mit Cyberspace tritt der Zuschauer in die Welt der Bilder ein. Von Mathias BRÖCKERS (In: DAS ERSTE) VORBEMERKUNG: Mathias BRÖCKERS' Artikel skizziert in satirisch-prophetischer Weise die Situation der - schon heute weitgehend digitalisierten - elektro- nischen Medien an der Schwelle zum 3. nachchristlichen Jahrtausend, versucht zu sensibilisieren für das mit diesem kulturellen Umbruch verbundene Risiko und die sich den "Machern" stellende Verantwortung. Der Artikel enthält zu- dem viele für uns wichtige Wörter und Wendungen aus dem Medienbereich und bietet im ganzen eine hervorragende Diskussionsgrundlage. W.N. 1 Ein Gespenst geht um in Amerika und Europa - das Gespenst des Cyber- space. Geraune von virtueller Realität, totaler Simulation, Teleprä- senz und einem neuen öffentlichen Raum multidimensionaler Globalkom- munikation. Neben fabelhaften Andeutungen technischer Effizienz 5 zeichnen sich Konturen einer neuen Medienästhetik ab: der Eintritt des Bewußtseins in das Reich des Digitalen, das Verschwinden des Zuschauers im Bildschirm, Kunstwelten aus dem Computer als Erlebnis- raum des Menschen. Noch mahnt die Aufmachung der Daten-Reisenden ein wenig an die Kluft 10 von Höhlenforschern oder Tiefseetauchern: sie tragen Helme mit hoch- auflösenden Bildschirmbrillen, unförmige Daten-Handschuhe und High- Tech-Anzüge, die über Sensoren die Körperbewegungen an einen riesigen Rechner übertragen. So vielversprechend die technischen Nutzungsmöglichkeiten der Computer- 15 Simulation für Wissenschaft und Industrie sein mögen - regelrecht um- werfend ist ihre Bedeutung für die elektronischen Medien, namentlich das Fernsehen. Virtuelle Realität ist das "medium to end all media", das Hyper-Medium schlechthin. Der Schritt des Fernsehens ins 3. Jahrtausend ist der Abschied von der 20 Television - und die Ankunft der Telepräsenz: Wir betrachten kein Bild mehr, wir sind im Bild. Im "Cyber Rock Palast" der VRD (Virtuelle Realitätsanstalten Deutsch- lands) sitzen Sie nicht nur in der ersten Reihe - Sie entwerfen selbst Ihr ideales Theater und die Akustik Ihrer Wahl. War "Pink Floyd in 25 Pompeji" damals Ende der 60er Jahre nicht ein ausgezeichnetes Event - heute designen Sie mit ein paar Handgriffen die antike Kulisse, or- chestrieren die High-End-Akustik und beschließen, nicht einfach nur sitzen zu bleiben, sondern als akustische Welle durch das Amphitheater zu surfen oder als Echo des Gitarrensounds zwischen den Mauern hin 30 und her zu perlen wie eine Flipperkugel. Haben Sie Ihren Freunden Bescheid gesagt, dann können sie über Tele- fonkabel ebenfalls in Ihrem "Pompeji" dabeisein. Der achtarmige Krake dort unten auf der Tanzfläche sieht verdammt so aus, als steckte Freund Willy dahinter, und das Farbenspiel der Light-Show schwingt so 35 psychedelisch, wie es nur Karin hinkriegt, wenn sie als Klangfarbe auftritt. Da, die schillernden Seifenblasen, die aus der Baßbox blubbern und sich in unmögliche Fraktale verformen, das kann nur Manfred sein - nein, nicht um diese Uhrzeit am Samstagabend. Denn da ist Manni garantiert in der VRD-"Sportrealität", dem Nachfol- 40 ger der im vergangenen Jahrhundert so beliebten "Sportschau". Er steht in seinem Wohnzimmer und schlägt Löcher in die Luft, das heißt er schwingt die Eisen beim "Cyber-Golf", oder rast gegen die Rennfahrer- Elite der Welt über den Nürburgring, den die VRD den Autonarren exklu- siv und gesponsort von "Greenpeace" seit letztem Jahr in ihrem Simu- 45 lationsprogramm anbietet. Einziges Limit: die Lichtgeschwindigkeit. Der Rat der Virtuellen Realitätsanstalten Deutschlands läßt derzeit prüfen, ob der neue Thrill des Privatanbieters VRL plus gegen die Wettbewerbsgesetze verstoßen könnte. Denn der kinästhetische Anzug, den VRL neuerdings über eine Warenhauskette vertreibt, läßt Unfälle 50 in der Rennsimulation - und demnächst auch im Krimi- und Action- Bereich - über einen Mikro-Elektroschock direkt auf der Haut spürbar werden. Seit die Kirchen ihr "Wort zum Sonntag" durch das "Nirwana zum Sonn- tag" ersetzt haben, steigen die Einschaltquoten so rapide, daß an 55 Wochentagen nun auch das "Tägliche Paradies" angeboten wird - eine Entspannungs- und Meditationswiese, auf der die Teilnehmer in unbe- rührter Natur quasi aus dem Stand zu innerer Einkehr finden - das zuschaltbare Programm METAMYSTIK ermöglicht es, ekstatische Gedanken als Gebete ohne Worte dreidimensional zum Ausdruck zu bringen. 60 Im "Täglichen Paradies" als Klangwolke mit dem All-Einen zu ver- schmelzen, soll, wie die Virtuelle Bischofskonferenz unlängst mit- teilte, sogar schon hartnäckige Atheisten überzeugt haben. Ähnlich euphorisch äußerte sich der Deutsche Ärzte-Tag über die Er- folge von "Gesundheitsrealität Praxis" beim Kampf gegen die heim- 65 liche Volkskrankheit Nummer Eins: Depression. Seit Millionen in therapeutischen Cyber-Räumen ihr persönliches Psychogramm plastisch ausagieren, ihren Familienroman und ihre Traumata durchspielen kön- nen, sei die Zahl psychischer Zusammenbrüche deutlich zurückgegangen. Die Depressiven, so die Ärzte, schöpften aus dem Spiel in Alternativ- 70 welten neue Kraft für die Wirklichkeit. Einen geradezu unglaublichen Aufschwung hat der SCHULFUNK genommen - ganz so, wie es ein Pionier des Cyberspace, Jaron LANIER, in den frühen 90er Jahren des 20. Jahrhunderts vorausgesagt hat. Damals steckte die Technologie der virtuellen Realität noch im Entwicklungs- 75 stadium. Es waren allenfalls grob aufgelöste Zeichentrickfilme, eine Cartoon-Realität, in die der Daten-Reisende eintauchen konnte. Doch auf Konferenzen und Symposien überboten sich die Beteiligten mit phantastischen Zukunftsaussichten für das neue Medium. Und Lanier, der mit seiner Software-Firma VPL in San Francisco Mitte der 80er 80 Jahre die ersten Cyber-Programme entwickelte, sah vor allem Perspek- tiven für den Kommunikations- und Bildungsbereich: "Es wird viel- leicht noch 20 Jahre dauern, bis ganze Schulklassen gemeinsam auf Erkundung gehen - und jedes Kind kann ein Tyrannosaurus werden und sehen, was geschieht, wenn es seinem Nachbarn in den Schwanz beißt." 85 Seit im Jahr 2010 die letzte Dorfschule mit Großrechnern verkabelt wurde, hat "learning by doing" den alten Frontalunterricht nahezu vollkommen abgelöst - Lernen im interaktiven Simulationsprogramm ist vom Vorschulalter an eine Selbstverständlichkeit. Geschichtlich wiederholte sich mit der Technologie der virtuellen 90 Realität das, was dem Kino genau 100 Jahre zuvor widerfahren war: Kamera und Projektor waren schon entwickelt, aber es gab noch keine Filme - das Kino vegetierte als technische Kuriosität in der Halb- welt der Vergnügungshallen, Rummelplätze und Biergärten dahin. Es dauerte zehn Jahre, bis John P. HARRIS in Pittsburgh einen Lagerraum 95 zu einem "Nickelodeon" eröffnete - und mit dem Film "The Great Train Robbery" 1.000 Dollar die Woche einnahm. Kurze Zeit später gab es in den Vereinigten Staaten 8.000 Nickelodeons (Eintritt: ein Nickel), innerhalb von zwei Jahrzehnten war Kino zu einer großen Industrie und einer neuen Kunstform herangewachsen. 100 Auch das Medium der virtuellen Realität erlebte seine Spielhallen- Kindheit und erfuhr spöttische Verachtung als technischer Tinnef und entseelte Maschinenkunst. Und doch dauerte es längst keine 20 Jahre, bis es die Kultur eroberte - als ästhetische Umwertung aller Werte durch die Aufhebung der Trennung von Zuschauer und Schauspieler, 105 Subjekt und Objekt, Realität und Imagination. Skeptiker waren lange der Meinung, daß die virtuelle Realität wegen gigantischer Kosten auf ewig in der Entwicklungsphase steckenbleiben würde. Doch sie hatten die Rechnung ohne die Innovationsbeschleuni- gung gemacht, die bis zur Jahrtausendwende den Preis für ein Cyber- 110 space-taugliches Graphik-Computer-System von 70.000 auf 700 Dollar herunterbrachte. Was zur allgemeinen Verbreitung des neuen Mediums führte - nicht als Fortsetzung des Einbahn-Mediums FERNSEHEN mit anderen Mitteln, sondern als ultimative, dreidimensionale Vollendung des TELEFONs. 115 Die Bildschirme wurden groß, schnell und hochauflösend genug, um die Leute immer stärker zu fesseln - ein Umstand, der allgemein beklagt wurde, weil er die Depersonalisierung und Entfremdung der Menschen förderte. Und wer weiß, wie lange die Menschheit vor der Mattscheibe gefesselt geblieben wäre, hätten nicht ein paar MS-DOS-Hexer im Si- 120 licon Valley aus ihren Personal-Computern Inter-Personal-Computer gebastelt und etwas ganz Entscheidendes erreicht: Wenn die Leute etwas sagten, begannen die Bildschirme zu antworten. Es wurde plötz- lich jedem möglich, wozu angeblich nur die kleine Alice im Märchen fähig sein sollte: in das Wunderland hinter dem Spiegel einzutreten. Mathias BRÖCKERS, 37, lebt in Berlin und ist Kultur-Redakteur bei der "tageszeitung"