SEPTEMBER-AKADEMIE 1996

EUROPA OHNE BÜRGER? - Gibt es eine europäische Zivilgesellschaft?
19.September bis 4.Oktober 1996, Julius Raab-Stiftung

Ernst-Otto Czempiel: "Perspektiven einer europäischen Friedensordnung"
Montag, 30.9.1996

Vielen Dank für die freundliche Einleitung. Meine Damen und Herren, ich bin hier glücklich, in ihrem Kreise heute abend über dieses Thema mit Ihnen reden zu dürfen, weil es ebenso wichtig wie unbekannt ist.

Wichtig, weil natürlich die Neuordnung Europas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts für die Europäer jedenfalls das Dringlichste ist, was sie vor sich haben. Und unbekannt deswegen, weil eigentlich niemand darüber redet. Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon einmal aufgefallen ist. Es wird jedenfalls in der Bundesrepublik ganz wenig über die europäische Neuordnung gesprochen. Was man hört, ist die NATO-Osterweiterung, und das ist es dann aber auch - und natürlich die europäische Integration - das hätte ich jetzt fast vergessen. Also die europäische Integration mit der Alternative, mit dem Dual, sollte ich besser sagen, Vertiefung und/oder Erweiterung. Niemand weiß, wie man das zusammen haben kann, aber jeder behauptet, indem er die beiden Begriffe zusammen verwendet, daß das dann ginge. Und so haben wir heute abend ein Thema vor uns, über das so gut wie niemand nachdenkt.

Und meine Aufforderung an Sie heute abend - oder an uns heute abend -: dann sollen wir einmal darüber nachdenken. Einmal uns Gedanken machen, was man eigentlich unter einer europäischen Friedensordnung verstehen kann. Es hat etwas mit Europa zu tun - die große Frage also: Atlantik, Wladiwostok bis Vancouver oder vielleicht nur Mitteleuropa. Das hat natürlich etwas mit Ordnung zu tun. Was heißt denn Staatenordnung? Wie sieht die aus, was ist da drin, wie muß die organisiert werden? Es hat etwas mit Frieden zu tun. Was heißt denn Frieden? Wissen Sie es? Und darüber wollen wir reden.

Ich möchte Sie gerne einladen, abzurücken von dem Vokabular, das sonst im Zusammenhang mit der Zukunft Europas angeboten wird: eben die NATO-Osterweiterung, über die wir natürlich reden werden, der Begriff der Sicherheitsarchitektur, der mich und die älteren unter Ihnen so fatal an die Zeit des Kalten Krieges erinnert - da haben wir nämlich auch von Sicherheitsarchitektur geredet, als wir über Entspannung und Abrüstung und Rüstungskontrolle gesprochen haben; Partnerschaft mit Rußland - offenbar als eine Art Palliativ [=Bemäntelung, Verhüllung] gedacht für die Osterweiterung der NATO, im Vordergrund steht jedenfalls eine Verteidigungsallianz. Eine Verteidigungsallianz, die wir während des Kalten Krieges aufgebaut haben, die wir damals auch sicherlich brauchten, weil die Bedrohung durch Sowjetunion und Warschauer Pakt natürlich eklatant war. Heute gibt es die Bedrohung ja nicht mehr, trotzdem versucht man die Verteidigungsallianz zu benutzen als ordnungspolitischen Faktor. Von der OSZE, die 1990 mit großem und richtigem Pomp aus der Taufe gehoben worden war in Paris, und die man nun, wie Sie wissen, in Ihrer Stadt hier angesiedelt hat seit langem, wird leider Gottes kaum gesprochen. Und ich frage mich, woran das liegt. Ich habe lange darüber nachgedacht, woran das liegen kann. Es gibt die verschiedensten Interpretationen: organisationssoziologischer, politisch traditioneller, auch verschwörungspolitischer Art - ich glaube das alles nicht so richtig. Natürlich kann man organisationssoziologisch und institutionenlogisch argumentieren, daß ein Instrument wie die NATO, das nun mal vorhanden ist, partout seine Existenz verlängern will und deswegen alles daran setzt, neue Szenarien zu schaffen, die die Existenz der Organisation verlängern und begründen können. Ich glaube das nicht, ich glaube vielmehr, daß es die Neuheit der Fragestellung ist. Die Tatsache, daß wir mit der europäischen Friedensordnung ein Problem vor uns haben, mit dem sich die Politik bisher nicht beschäftigt hat. Daß es diese Ratlosigkeit der Politik ist, die sie immer dazu veranlaßt, immer wieder sich an alte und bewährte Instrumentarien zurückzutasten, auch alte und bewährte Begriffe wieder aufzunehmen wie Sicherheit, Sicherheitsarchitektur, Stabilität, wie die Begriffe alle so heißen.

Wenn Sie einmal in die Geschichte zurückblicken, werden Sie sehen, daß Krieg und Frieden an sich zwei gleichermaßen unerfreuliche Zustände gewesen sind - der Krieg natürlich noch unerfreulicher als der Frieden - aber der Friede war ja wiederum auch nichts anderes als die Vorbereitung auf einen neuen Konflikt, auf einen neuen Waffengang, so daß man sich eigentlich, wenn man in dieser Periode von Frieden sprach, darauf konzentrieren konnte, das Pulver trocken zu halten, die Waffen notfalls bereit zu halten, nach Allianzpartnern zu suchen. Es hat sich eigentlich nirgendwann, so sehe ich das, die Aufgabe gestellt, Frieden zu bescheiden - also eine zwischenstaatlich Situation, von der man nicht nur wünschen kann, sondern auch annehmen muß, daß es gar keine gewaltsamen Konflikte mehr geben wird. Und das ist die Neuartigkeit dieses Problems - was machen wir, wenn wir sozusagen nichts machen; was machen wir, wenn wir keinen Konflikt haben. Wo bleibt die Außenpolitik. Was sollen wir machen, wenn wir mit Rußland wie mit den Engländern umgehen? Nur noch Handel treiben? Also ich habe ein bißchen das Gefühl, daß es den Politikern so geht wie den Artisten in der Zirkuskuppel, daß sie also ratlos vor dem Problem stehen, etwas vollkommen Unbekanntes organisieren zu müssen und daß sie in dieser Ratlosigkeit - sicherlich guten Willens - dann eben das tun, was sie immer getan haben, sich auf das stützen, was sie in den Jahren des Konflikts aufgebaut haben, ein bißchen verändern - die NATO wird sich verändern, sie hat sich ja schon verändert und sie wird sich auch weiter verändern; wie, weiß man nicht, sie wird jedenfalls nicht mehr die alte NATO mit dem Artikel 5 in der Mitte sein, aber immerhin ein bewährtes Instrument. Man wird sich aus diesem Grunde, denke ich, vornehmlich der NATO zugewendet haben, die NATO-Osterweiterung so betreiben, obwohl es niemanden so recht gibt, der erstens noch weiß, warum, und zweitens auch noch weiß, wie das dann weitergehen soll, wenn man einmal die ersten vier Staaten aufgenommen hat. Ich glaube, daß es auch Tatsache ist, daß im Westen jedenfalls die politische Klasse, die den Kalten Krieg bestritten hat, noch immer am Ruder ist, es sind immer noch dieselben politischen Eliten. Bei Ihnen auch, aber bei Ihnen fällt es nicht so ins Gewicht, weil Sie mit der Frage der europäischen Neuordnung nicht so befaßt sind wie das die NATO-Mitglieder sind. Ich habe einmal nachgezählt: Bundeskanzler Kohl ist 1982 an die Regierung gekommen, das sind jetzt 14 Jahre. 1982 war Roland Reagan in seinem zweiten Amtsjahr. Was ist alles passiert. Wir haben immer noch die selben Politiker. In Osteuropa übrigens nicht. In Rußland übrigens auch nicht. Die sind alle abserviert worden in der Phase der Perestrojka, im Umsturz des kommunistischen Systems. So ganz gelungen ist das auch nicht, wie wir wissen, aber im Westen hat sich eigentlich nicht viel verändert. Es sind die selben Leute mit den gleichen Erfahrungen, die also jetzt vor dem Phänomen stehen, eine Friedensordnung aus dem Boden zu stampfen; und daß wir all diese Unzulänglichkeiten - vor allem das Schweigen über die Inhalte einer neuen Friedensordnung damit begründen können, daß da Politiker am Ruder sind, die es eigentlich nicht wissen.

Ich bin heute morgen hier hergeflogen und habe einen Bundestagsabgeordneten getroffen - besser gesagt, er hat mich getroffen -, der bei uns im Bundestag den Unterausschuß für die UNO leitet. Und die UNO ist ja auch eines meiner Leib- und Magenthemen, über die ich seit Jahren schreibe. Und wir haben also beide festgestellt: es ist so schwer, im deutschen Bundestag irgendwas zugunsten der UNO zu sagen, weil keiner versteht, was das eigentlich für eine Organisation ist; keiner weiß, was sie eigentlich machen soll, und jeder ist mehr oder weniger bereit, sie wieder in die Ecke zu schieben, in der sie so viele Jahre gelebt hat. Ich fürchte also, daß wir hier eine Grundsatzarbeit leisten müssen; und wenn Sie mir heute abend helfen, wenn wir das zusammen schaffen, könnten wir vielleicht von hier aus eine neue Diskussion starten, die bei Ihnen sicherlich erst nach den Wahlen einsetzen wird - vorher wird sich das ja sicher nicht ändern - man sollte [ihn] jedenfalls nicht unterschätzen, den Diskurs in Akademien wie der Ihren, die intellektuelle Auseinandersetzung als Anstoß auch für die politische Diskussion. Wenn ich denke, daß die Lage seit 1989/90 in der Tat sich grundsätzlich verändert hat, daß die Art und Weise, in der der Kalte Krieg zu Ende ging, nämlich ganz leise und mit innenpolitischen Umstürzen in Osteuropa, die schließlich auch zur Beseitigung des kommunistischen Systems in Rußland geführt haben, nach der Auflösung der Sowjetunion, ein Zeichen dafür ist, daß sich die Grundlagen der Politik stärker geändert haben, als es die Politiker gerne wahrnehmen wollen, daß die Kategorien und das politische Substrat der Staatenwelt zugrunde gegangen ist, daß wir es heute mit anderen Befindlichkeiten zu tun haben, mit anderen Interessen auch der Menschen, mit größerer Bedeutung der Gesellschaften in den Staaten - ich verwende deswegen gerne den Begriff  "Gesellschaftswelt" - nicht mehr Staatenwelt und noch nicht Weltgesellschaft, aber Gesellschaftswelt; also eine Welt, die nach wie vor staatlich organisiert ist, aber in denen die Gesellschaften eine ungleich größere Bedeutung haben, als das früher je der Fall war. Heute wird Außenpolitik maßgeblich auch davon bestimmt, wie die gesellschaftlichen Anforderungen formuliert worden sind. Ich denke, daß nach 40 Jahren des Kalten Krieges - nach dem Ende des Kalten Krieges - es sehr schwer fallen wird, die Gesellschaften wieder für den Sachbereich der Sicherheit zu mobilisieren; wieder zu verlangen: das Interesse an wirtschaftlicher Wohlfahrt und wirtschaftlicher Entwicklung, Interessen auch an stärkerer Partizipation an der Herrschaft - also stärkere Demokratisierung. Ich denke, daß diese Interessen sich nicht mehr zurückdrängen lassen und daß die Anforderungen der Gesellschaften in den OECD-Staaten nicht zulassen, daß sich wieder der Sachbereich der Sicherheit mit seinen riesigen Rüstungsaufwendungen und seiner Reduzierung der individuellen Perspektiven der Existenzentfaltung in den Vordergrund schieben wird, wo er 40 Jahre lang notwendigerweise gestanden hat.

Ich sehe diesen Kontrast der gesellschaftlichen Interessen an Frieden im Sinne von Verstärkung der wirtschaftlichen Entwicklungsphasen auf der einen Seite und dem Ausbau der NATO-Allianz auf der anderen Seite, als den Lackmustest dafür an, ob wir es wirklich mit einer gesellschaftlichen Veränderung zu tun haben, die sich in die Politik hinein auswirkt, oder ob es vielleicht doch nur nach 1989/90 eine Fermate gegeben hat in einer ansonsten nicht veränderten Welt.

Mit dieser eher spekulativen Frage will ich Sie heute abend nicht behelligen, sondern ich möchte mit Ihnen gerne diskutieren, was man eigentlich unter einer europäischen Friedensordnung verstehen sollte, wobei ich das erste Drittel dieser Fragestellung sehr schnell beantworten kann. Ich würde Ihnen vorschlagen, daß wir unter Europa in der Tat den Einzugsbereich des früheren Kalten Krieges verstehen, also jene Welt von Vancouver bis Wladiwostok die von 1945/47 bis 1990 sich geteilt und feindlich gegenüber gestanden hat; es ist ja diese Welt, die neu geordnet werden muß, nachdem die alte Ordnung und der Kalte Krieg - ich komme noch einmal zurück, war eine Ordnung - nachweislich zerbrochen ist. Lassen Sie uns also über diesen geographischen Bereich reden, was eben auch heißt, wir werden das Problem der Dritten Welt der früher sogenannten Dritten Welt ausklammern. Wir werden nicht über Asien, nicht über Afrika, nicht über Lateinamerika heute verhandeln, sondern über die atlantische Region, die 45 Jahre lang der Schauplatz des Kalten Krieges war.

Also müssen wir jetzt die Frage behandeln, was heißt denn Frieden und was heißt Ordnung. In der politischen Diskussion in Europa - Westeuropa vor allen Dingen - in der NATO wird nach wie vor der Begriff der Sicherheit verwendet. Eine Sicherheitsarchitektur soll geschaffen werden, eine Sicherheitspartnerschaft mit Rußland soll geschaffen werden und die Sicherheitsarchitektur soll aus den verschiedensten Organisationen bestehen, aber hauptsächlich auf der NATO beruhen. Die NATO wird die Sicherheit in Europa herstellen, deswegen soll sie auch erweitert werden - zunächst um diese berühmten vier Wishegrad-Staaten, später dann um eine bisher unbekannte Anzahl weiterer Staaten, von denen bisher wohl nur klar ist, daß die baltischen Staaten nicht dazugehören werden. Was heißt Sicherheit? Sicherheit kann nur heißen, daß ein Staat, der sicher ist, über die notwendigen Verteidigungsfähigkeiten verfügt. So jedenfalls wird es ja wohl verstanden, sonst würde man nicht eine Militärallianz als Instrument der Sicherheitsgewährleistung einsetzen. Die Militärallianz, die in der Tat Sicherheit dadurch schafft, daß sie Verteidigungsfähigkeit herstellt. Ich bin der Meinung, daß dieser Sicherheitsbegriff absolut zu kurz greift, weil er eben Verteidigungsfähigkeit meint. Wenn die osteuropäischen Staaten in die NATO wollen - und sie wollen alle in die NATO - dann haben sie jedenfalls latent die mögliche Gefährdung durch die Rückkehr Rußlands zum Imperialismus vor sich und sie versprechen sich von der Mitgliedsschaft in einer militärischen Allianz, die in ihrem Kern eine - wenn auch etwas vage formulierte - Beistandsverpflichtung aufweist, Sicherheit. Sollte Rußland auf die Idee kommen, erneut einen Angriff zu wagen, dann würde die NATO diesen Angriff entweder abschrecken oder sollte das nicht gelingen, zurückschlagen. Sicherheit also in erster Linie als Verteidigungsfähigkeit.

Ich bin der Meinung, daß man Sicherheit sehr viel umfassender formulieren müßte und zwar umfassender in dem Sinne, daß sicher nur derjenige Staat ist, der gar keine auswärtige Gefährdung mehr zu befürchten hat. Sicher ist der Staat, der keinen Gegner hat. Sicher ist ein Staatensystem dann, wenn sich alle ihre Mitglieder in einer permanenten Kooperationsstruktur gegenüberstehen, und keiner mehr das Interesse verfolgt, irgendeinen Staat - und sei es auch nur tendenziell - in der Zukunft mit militärischer Gewalt zu überziehen. Sicher also ist derjenige Staat, der keine Gefährdung mehr kennt. Sicherheit herrscht in einem Staatensystem, wenn es keine Aggressoren mehr gibt. Nun werden Sie sagen, das ist utopisch. Und dann werde ich Ihnen antworten, das ist überhaupt nicht utopisch. Denn wir haben diese Situation. Gucken Sie in die Europäische Union, zu der ja Österreich inzwischen Gott sei Dank nun auch gehört, da gibt es keine latenten potentiellen zukünftigen Aggressivitäten mehr. Schauen Sie in die atlantische Gemeinschaft - also in das amerikanisch-westeuropäische Verhältnis, schauen Sie in das Verhältnis Nordamerika-Kanada - und sie werden sehen, es ist eine Situation eingetreten, in der keine Gefährdung existiert. Wenn diese Staaten unter sich wären und nicht mit anderen Staaten noch in Beziehung stünden, würden sie gar kein Militär mehr haben, weil sie es gar nicht mehr brauchen. In der Tat sind die Westeuropäer vor sich sicher in diesem umfassenden Sinne. Und ich möchte deswegen gerne hier diesen umfassenden Sicherheitsbegriff auch für die europäische Friedensordnung vorschlagen. Eine Friedensordnung in Europa - Wladiwostok bis Vancouver - wird in dem Moment herrschen, in dem in diesem Bereich der Welt Zustände herrschen, wie wir sie innerhalb der EU schon haben. Da werden Sie sagen, das ist utopisch. Und dann werde ich sagen, das ist überhaupt nicht utopisch. Gucken Sie sich an, was 1945 mit Deutschland gemacht worden ist. Überlegen Sie mal, daß bis 1945 Westeuropa der Kriegsherd der Geschichte war. Zwei Jahrhunderte lang war Westeuropa der Kern der Weltkriege - schlimmer ging es gar nicht. Es war viel schlimmer als das, was hier im Ost-West-Konflikt zwischen Warschauer Pakt und Westeuropa geherrscht hat. Und diesen weltpolitischen Bereich hat man ab 1945 in dieser Form neu geordnet, man hat ihm eine Friedensordnung verpaßt und sie hat funktioniert. Die Deutschen, die sieben Jahre lang Krieg gegen ihre jetzigen Partner in der EU und der NATO geführt haben, haben natürlich davon profitiert. Und sie haben bewiesen, daß es möglich ist, von der Position der Aggressivität, von der Position eines Staates aus, der in der ersten Hälfte des vergehenden Jahrhunderts zwei große Weltkriege ausgelöst hat, zu einem friedlichen Staat zu werden. Warum soll das mit Rußland nicht auch passieren?

Es ist also gar nicht utopisch. Es ist sehr realistisch. Man muß es einmal nur so anfangen. Man muß sozusagen nicht von vornherein die Flinte in das Korn werfen, obwohl das jetzt absolut das falsche Bild ist in diesem Zusammenhang, man sollte nicht daran verzweifeln, man sollte im Gegenteil, davon ausgehen, daß das was nach 1945 im Bereich Westeuropa dem traditionellen Krisenherd gelungen ist, daß das ab 1989/90 in bezug auf Osteuropa und in Bezug auf Rußland auch gelingen kann; und zwar sehe ich die Chancen als umso größer an, als Rußland ja von selber diesen Wandel angeboten hat, den Ostblock aufgelöst hat, sich zur Demokratie bekannt hat, also die Abkehr von seiner bisherigen Vergangenheit von selbst eingeleitet hat. Deutschland mußte dazu erst gezwungen werden, durch die Niederlage und durch die Re-Edukation. Alles kam von außen. Die Osteuropäer haben es von selber gemacht, verständlicherweise natürlich. Aber die Russen haben es schließlich auch von selber gemacht. Die Ausgangsposition für so eine Friedensordnung wäre sehr viel besser. Sie ist auch kurzfristig sehr viel besser. Schauen Sie, wenn Sie einmal die Erweiterung der NATO ansehen, dann ergibt sich auch daß mit dem was die NATO dort vorhat, eine europäische Friedensordnung gar nicht erzielt werden kann. Erstens geht es ja nur um diese vier Staaten. Wenn es nicht überhaupt nur drei werden, wenn es nicht nur mehr Polen bleibt. Von allen anderen Staaten, von der Ukraine, abgesehen von den baltischen Staaten, von den südeuropäischen Staaten spricht ja überhaupt niemand. Ich bezweifle sehr stark, daß irgend jemand in den NATO-Staaten auf die Idee kommt, den Artikel 5 des Vertrages weiter auszudehnen als bis nach Warschau.

Aber selbst wenn nun dies passiert, so muß man doch sagen, daß das, was die Staaten des sogenannten Grauen Gürtels - vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer - eigentlich haben wollen, eine neue Verortung in der politischen Ordnung Europas, das wird ihnen von der NATO ja gerade nicht geboten. Die NATO ist eine klassische Militärallianz souveräner Staaten, die sich um die Innenpolitik überhaupt nicht kümmert, die sich nicht einmal um die politischen Herrschaftssysteme kümmert, sonst wäre die Türkei schon lange nicht mehr Mitglied der NATO und Griechenland über lange Jahre auch nicht - von Portugal vor Salazar wollen wir ganz schweigen. Die NATO ist eine traditionelle klassische Militärallianz, die keine politische Heimat bietet. Und genau das ist es, was die Osteuropäer brauchen - und wenn ich Osteuropa sage, dann meine ich immer den ganzen Gürtel vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer, ich will nicht immer sagen Nord-, Mittel- und Südosteuropa - ich sage einfach Osteuropa, obwohl ich natürlich auch weiß, daß dieser Begriff belastet ist, nehmen Sie ihn einfach mal so der Verständigung halber hin -, ist das Ausscheren aus der Situation in dieser Grauzone zwischen Rußland und Preußen erst, später dann zwischen der Sowjetunion und Deutschland, sie wollen einen Platz in Westeuropa, wohin sie ihrem Verständnis nach, ihren Traditionen nach und politischen Kultur nach gehören und sie wollen Teil dieses politischen Westeuropas werden. Und das kann ihnen die NATO gar nicht verschaffen. Das kann ihnen nur die Mitgliedschaft in der EU verschaffen. Und deswegen würde ich es für außerordentlich wichtig halten, daß man, ohne Beeinträchtigung der Frage, ob man dahinter oder darunter die Militärallianz der NATO auch noch erweitert, diese osteuropäischen Staaten so schnell wie möglich in die Europäische Union aufnimmt. Wir müssen noch darüber reden, wie diese Union dann aussehen kann. Das wäre zunächst ein ordnungspolitischer Beitrag, weil damit geklärt wäre, dieser Bereich Osteuropa ist Teil Westeuropas. Und wenn die Ukraine feststellen sollte, daß sie ebenfalls zu Westeuropa gehört, dann würde ich der Meinung sein, sollte sie ebenfalls - nicht heute und nicht morgen - aber doch bald Mitglied der EU werden.

Mit dieser politischen Ordnungsleistung würde man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Man würde einmal dafür sorgen, daß diese Staaten nicht mehr in jenen Grauen Gürtel liegen, wo sie sozusagen in einem politischen Niemandsland sich befinden, man würde zweitens ihnen in dem Bereich helfen, der für sie gegenwärtig der allerwichtigste ist, nämlich der Bereich der wirtschaftlichen Wohlfahrt; also der ökonomischen Entwicklung nach den langen Jahren der Entbehrung im kommunistischen Lager des Warschauer Paktes.

Man könnte schließlich sehr schnell alle diese Staaten aufnehmen, weil niemand etwas dagegen hat. Rußland hat nicht die geringsten Einwände gegen die Ausdehnung der EU. Man könnte mit dem Baltikum anfangen und mit Rumänien und Bulgarien aufhören. Die Mitgliedschaft in der EU brauchte den Balten nicht als Trostpreis dafür angeboten zu werden, daß sie ganz offensichtlich in die NATO nicht kommen werden. Man würde Rußland nicht dadurch provozieren, daß eine Militärallianz praktisch ja dann doch bis auf seine Grenzen vorgeschoben wird. Man würde Rußland nicht dadurch düpieren, daß die 1993 noch erklärte Absicht, die Partnerschaft für den Frieden an die Stelle der von Polen und Deutschland damals propagierten NATO-Osterweiterung zu setzen, daß diese Perspektive brüsk gekündigt wird. Man würde Rußland dadurch düpieren, daß man möglicherweise die westlichen Nuklearwaffen und die dazugehörigen Transportmittel bis an die Grenzen quasi Rußlands heranrückt. Man würde Rußland nicht dadurch frustrieren, daß man ihm einen Akt entgegensetzt, der von Moskau aus nur als absolut unfreundlich und latent aggressiv verstanden werden muß. Ich komme auf die Begründung dafür noch einmal zurück.

Ist außerdem die NATO-Osterweiterung eine völlig unnötige Belastung des europäischen Systems, wohingegen die Osterweiterung der EU eine durchaus nötige Erweiterung und Vertiefung und Konsolidierung des europäischen Systems sein würde. Und nötig deshalb, weil niemand in der westlichen Welt auch kein NATO-Militär davon ausgeht, daß Rußland in absehbarer Zeit interessiert, geschweige denn imstande sein könnte noch einmal eine militärisch aggressive Politik gegen den Westen zu richten. Sie brauchen sich ja nur mit einem Blick die Verschiebung im Dispositiv der militärischen Potentiale vor Augen zu halten, um zu sehen, daß Rußland auf Jahrzehnte hin auch gar nicht kann. Wir brauchen uns um die Absicherung die Ausdehnung eines Sicherheitsprofils nach Osteuropa nicht zu kümmern, weil das Sicherheitsprofil gar nicht gefährdet ist. Wir haben Zeit. Wir können einen ordnungspolitischen Neugang wagen, in dem wir die EU über alle Staaten Osteuropas, die das wollen ausdehnen, die Zugehörigkeit zur EU könnte ein ordnungspolitischer Faktor sein. Es würde nämlich in Europa dieser Zwischenteil endlich dorthin eingeordnet, wohin er gehört und wohin er will, nämlich Westeuropa. Und die ordnungspolitische Aufgabe, die sich dann stellen würde, ist dann die Frage, wie ordnen wir die Beziehungen zwischen diesem Westeuropa, das sich bis nach Osteuropa hin ausgedehnt hat auf der einen Seite und der GUS auf der anderen Seite. Dies also wäre zunächst einmal in einer ganz politischen Sprache mit Argumenten, die ich auch der politischen Diskussion entnehme, etwas angereichert habe mit ein paar Bemerkungen über die Situation, daß sich der Friede von der Sicherheit unterscheidet. Das also wäre in der Sprache der politischen Alltagsdiskussion zunächst einmal die Alternative.

Ich gehe jetzt einen Schritt zurück und möchte gerne mit Ihnen einen anderen - einen im wissenschaftlichen Denken sehr verhafteten - Blick auf die europäische Sicherheitsfrage werfen. Wenn man eine Friedensordnung in Europa erstellen will, muß man die Grundlagen des Friedens herstellen. Man muß sich die Frage vorlegen, woraus entspringt denn Friede. Also eine Situation der permanenten Nichtgefährdung, die auf Dauer gestellte Absenz des Krieges. Was sind die Ursachen des Friedens. Und ich würde zusammen mit Dieter Senghaas den alten Satz "Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor" absolut zur Seite legen, weil er nachweislich falsch ist und nun doch schon seit Vergetius' Zeiten und ihn übersetzen in: "Wenn du den Frieden willst, dann bereite den Frieden vor!" Das muß man machen. Und ich das heißt, man muß sich die Frage vorlegen, was sind denn die Friedensgrundlagen. Die Friedensgrundlagen, so könnte man sagen, sind zunächst einmal die Beseitigung der beiden großen Gewaltursachen. Welche Gewaltursachen gibt es im internationalen System? In meiner Sicht sind es sechs. Es sind drei Zweiergruppen, auf die ich hier im einzelnen eingehen möchte. Ich möchte nur die ersten beiden Zweiergruppen mit Ihnen behandeln, weil die dritte uns ein bißchen zu weit abführt.

Die erste Zweiergruppe aus der nach der Kenntnis der Politikwissenschaft die Gewalt entstand, ist die anarchische Struktur des internationalen Systems und ihre Machtfigur. Darin ist sich die Politikwissenschaft auf der ganzen Welt einig. Auch die Theorie des Realismus, die ja sonst relativ konventionell und konservativ argumentiert, ist der Meinung, daß die hauptsächlichste Gewaltursache eine ist, die man nicht sehen kann. Eine Gewaltursache, die entsteht aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems, die ständige Ungewißheit erzeugt und deswegen alle Staaten zu einer Verteidigungsvorsorge zwingt, die jenseits ihrer Grenze als Angriffsvorbereitung gedeutet werden muß. Wir sprechen in der Politikwissenschaft hier von einem Sicherheitsdilemma. Einem Dilemma insofern, als kein Staat ihm entgehen kann. Man muß das wirklich sehr ernst nehmen. Da es im internationalen System keine Zentralregierung gibt, die für Ordnung und Sicherheit sorgt, muß jeder Staat seine eigene Sicherheit selbst gewährleisten. Er muß, weil Sicherheit das erste Ziel jedes Staates ist. Er muß notwendigerweise Verteidigungspotentiale bereitstellen. Und diese Verteidigungspotentiale werden ebenso notwendig jenseits seiner Grenze als mögliche Aggressionsvorbereitung gedeutet - sie müssen so gedeutet werden. Selbst wenn der betreffende Staat sagt, ich will mich ja nur verteidigen, muß der Nachbarstaat sagen, ja das sagst du, und was du morgen machst, das wissen wir heute nicht und du weißt es auch nicht. Und weil du das nicht weißt und weil wir nicht ausschließen können, daß morgen bei dir die Regierung wechselt, müssen wir uns darauf vorbereiten - wir werden ebenfalls Verteidigungsrüstung betreiben. Darauf wird der erste so gedachte Staat sich bestätigt sehen in seiner Vorbereitung auf eine mögliche Aggression, denn auch er deutet die Verteidigungsvorbereitungen der anderen Seite als latente Angriffsvorbereitungen: er muß es so deuten. Wir sind in der Politikwissenschaft der Meinung, daß über die Hälfte aller Kriege nur daraus entstanden sind; nur daraus. Es hat gar keine Konflikte gegeben. Es hat lediglich das Sicherheitsdilemma gegeben mit seiner Folge der Rüstungswettläufe, der Rüstungsdynamik und dem sich daran anschließenden möglichen Krieg. Wenn Sie mal die Geschichte des Kalten Krieges studieren im Detail, werden Sie sehen, daß ab Mitte der 60er Jahre genau dieser Zusammenhang greift. Es hat überhaupt keinen Konflikt mehr gegeben zwischen Liberalismus und Kommunismus - es hat nur die Rüstungsdynamik gegeben - und nur die, und die hat dazu geführt, daß exorbitante Rüstungen auf beiden Seiten angeschafft worden sind. Wir sprechen also vom Sicherheitsdilemma als einer der drei großen Gewaltursachen, und man muß diesem Sicherheitsdilemma irgendwie zu Leibe rücken, und zwar deshalb, weil es auch in der Frage der NATO-Osterweiterung jetzt schon ganz deutlich am Werke ist - Sie hören ja die russischen Bedenken. Und da kann die NATO soviel erzählen wie sie will - und sie hat ja vollkommen Recht, daß sie die NATO die Russen nicht angreifen will - natürlich will sie das nicht - gar keine Frage, jeder weiß es, auf der NATO-Seite in Rußland weiß man das auch. Man kann aber nicht ausschließen, daß sie es doch tut. Und weil man das nicht ausschließen kann, muß sich Rußland darauf einstellen. Und nehmen Sie Gift darauf - tun Sie es lieber nicht! - wetten Sie mit mir, es wird sich darauf einstellen. Weil es gar nicht anders kann. Das Sicherheitsdilemma, sagt die Wissenschaft, übt einen Zwang aus, der das Verhalten der Staaten genauso reguliert wie das der Staaten in der Wirtschaft. Also muß man sich, wenn man eine Friedensursache erfinden will, mit der Frage auseinandersetzen, wie man die Gewaltursache Sicherheitsdilemma aus der Welt schaffen kann. Glücklicherweise hat uns ein katholischer Geistlicher zu Beginn des 18. Jahrhunderts diese Aufgabe schon abgenommen, der Ihnen sicherlich bekannte Abbé de Saint-Pierre, mit seinem Plan zu einer internationalen Organisation. Ich gehe im einzelnen darauf hier nicht ein. Aber der Gedanke, der in Europa schon seit dem 15. Jahrhundert ventiliert worden ist und seitdem immer wieder aufgegriffen wurde; die Idee war zu sagen, man kann die anarchische Struktur des internationalen Systems nicht beseitigen, nicht aufheben, aber man kann sie abschwächen, indem man alle Staaten des Systems in einer Organisation zusammenführt, sie in regelmäßiger Kooperation dort anhält, die Isolierung aufbricht, in der sie sich normalerweise befinden und sie zur kontinuierlichen Kooperation veranlasse, dann entsteht eine kontinuierliche vertrauensbildende Maßnahme. Den Staat, mit dessen Vertretern ich jeden Tag in einer internationalen Organisation zusammensitze, vor dem brauche ich deswegen keine Angst zu haben, weil ich soviel von ihm weiß, daß ich das, was er von sich selber sagt, auch glaube. Ich bin nicht mehr in der Situation zu sagen, was du mir erzählst, kann ja von weiß Gott woher kommen, wahrscheinlich betrügst du mich nur, ich muß für meine Sicherheit vorsorgen. Es wird immer ein gewisser Rest bleiben, ganz aufheben läßt sich das Sicherheitsdilemma nicht. Aber abschwächen läßt es sich in einer internationalen Organisation. Deswegen ist die UNO gegründet worden; und nicht von pazifistischen Wohlmeinenden und schon gar nicht von irgendwelchen Spintisierern, sondern von Leuten wie Roosevelt und Churchill, die man ja wirklich als hartgesottene Realpolitiker ansehen kann, die der Meinung waren, man müßte endlich diese Gewaltursache aus der Welt schaffen, es müßte endlich etwas geändert werden. Und die UNO, wie die internationalen Organisationen überhaupt, wird vielfach mißverstanden. Man hält sie immer für eine Weltregierung, die sie nie sein kann. Aber was sie eigentlich sein sollte, das hat der Senator Rondenberg 1945 sehr schön gesagt, das Rathaus der Welt, wo alle Staaten zusammenkommen, miteinander beraten und auf diese Weise das Sicherheitsdilemma, eine der beiden Hauptgewaltursachen, aus der Welt schaffen. Das bedeutet, daß wir eine Friedensursache in Europa schaffen müssen, die hier in diesem europäischen Politikschauplatz das Sicherheitsdilemma beseitigt - und glücklicherweise brauchen wir sie gar nicht zu schaffen - wir haben sie schon: die OSZE. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit hier in Ihrer Stadt. 1990 ist sie gegründet worden genau zu diesem Zweck. Wenn Sie die Charta der OSZE in Paris sich einmal ansehen, finden Sie außerordentlich viel Kluges, Vernünftiges, Richtiges in dieser Charta. Man brauchte eigentlich weiter nichts zu tun, als die OSZE aus der Kümmerecke, in die man sie sehr schnell wieder gestellt hat, im Zeichen einer sich selbst so nennenden Realpolitik, die mehr auf die Militärallianz vertraut als auf die OSZE, herauszuholen und sie zu der internationalen Organisation in Europa zu machen, in der die europäischen Staaten, die den Ost-West-Konflikt geerbt haben, indem, die Staaten miteinander kooperieren und damit das Sicherheitsdilemma bannen. Wenn ich es wenigstens ein bißchen richtig deute, gibt es jedenfalls im Westen einige Leute, inzwischen auch in der Politik, die der Meinung sind, daß die Vernachlässigung der OSZE wirklich ein Kapitalfehler gewesen ist. Es war falsch, was gemacht worden ist, und sollte tunlichst schnell korrigiert werden.

Die zweite große Gewaltursache - auf den zweiten Punkt der ersten Gruppe, nämlich die Machtfigur - komme ich zum Schluß noch schnell zurück - auch darin ist sich die gesamte Politikwissenschaft auf der ganzen Welt einig, sind undemokratische, autoritäre, diktatoriale Herrschaftssysteme. Ich nehme an, daß viele von Ihnen in Academia zuhause oder tätig sind, dann werden Sie wissen, daß wir in der internationalen Diskussion seit ungefähr fünf Jahren eine ausgedehnte Debatte haben zum Thema "Demokratie und Friede". Und wenn Sie mir erlauben, daß ich Ihnen sage, daß ich in der letzten Nummer der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (Juniausgabe) dazu einen, wie ich finde, gespannte Diskussion referierenden und gleichzeitig meine Position im Detail beschreibenden Aufsatz unter dem Titel "Kants Theorem" veröffentlicht habe, dann würde ich Sie bitten, daß Sie da einmal reingucken, da finden Sie dann alle notwendigen Hinweise auf die internationale Diskussion, auf die deutsche und auf die theoretischen Aspekte der Diskussion. Ich nehme deswegen also hier nicht auf, führe sie hier nicht vor, sondern berichte hier lediglich das Ergebnis. Das Ergebnis dieser Diskussion ist: Demokratische Systeme sind friedlich.

Stimmt so nicht ganz, aber so stimmt es: Demokratien sind friedlich.

Sie können sich an einem Beispiel das selbst vor Augen führen. Der Ost-West-Konflikt ging in dem Moment zu Ende, indem in Osteuropa und dann in der Sowjetunion das kommunistische Herrschaftssystem durch ein demokratisches [ersetzt wurde]. Alles ist geblieben. Die Länder sind geblieben, die Leute sind geblieben, die Politiker sind zum Teil geblieben. Was sich geändert hat, ist das Herrschaftssystem. Genau dasselbe passierte mit Deutschland 1948: Die Deutschen waren 1948 genauso wie 1944, Deutschland war zwar geteilt, aber das Land war genau das gleiche, die Wirtschaftsstruktur so, wie sie immer [gewesen] war; was sich geändert hat, war das Herrschaftssystem. Und wenn unsere westlichen Alliierten sich im Moment auf die Deutschen verlassen, dann deswegen, weil sie wissen, die Deutschen haben glücklicherweise ein demokratisches Herrschaftssystem. Das bedeutet, die zweite große Gewaltursache, nämlich undemokratische und autoritäre, diktatorische Herrschaftssysteme, läßt sich beseitigen durch die Strategie der Demokratisierung. In dem Moment, in dem alle osteuropäischen Staaten und die GUS demokratische Herrschaftssysteme haben, wird es von dieser Seite aus keine Aggressionen mehr geben. Punkt! So ist es. Überlegen Sie einmal ein Gedankenspiel: Rußland hätte heute ein Herrschaftssystem wie die Amerikaner da bräuchte doch Polen keine Angst zu haben. Also die zweite Friedensursache, die man herstellen muß: die Demokratisierung der Herrschaftssysteme. Man muß, wenn man an der Friedensordnung Europas arbeiten will, mit Volldampf diese Demokratisierung betreiben. Das tun die westlichen Staaten in gewisser Weise, aber sie tun es in einem ganz kleinen Umfang. Er reicht überhaupt nicht aus und entspricht jedenfalls in gar keiner Weise der großen Aufgabe, die sich stellt, so schnell wie es irgendwie geht, den von ihnen selbst eingeschlagenen Weg zur Demokratisierung abzuschließen und zu Ende zu gehen. Aber ich sage noch mal, wenn alle GUS-Staaten demokratische Herrschaftssysteme haben, vergleichbar etwa mit jenen, die wir gegenwärtig in Westeuropa haben, dann herrscht in Osteuropa Sicherheit. Keiner muß mehr Angst haben, daß irgendwo in 10 Jahren oder 20 vielleicht doch in Moskau oder irgendwo ein imperialer Gedanke sich erneut Bahn bricht. Insofern habe ich zu Beginn, als ich auf der politischen Ebene sprach, Ihnen schon dieses Beispiel gebracht. Wenn wir nach Westeuropa gucken, dann haben wir ja eine solche Friedensstruktur. Jetzt wissen wir, was die Friedensstruktur in Osteuropa herstellen könnte: nämlich die Demokratisierung aller Herrschaftssysteme. Daraus ergibt sich die europäische Friedensordnung oder besser gesagt, es ergeben sich die beiden Ursachen, die eingerichtet und hergestellt werden müssen, um in Europa eine Friedensordnung herzustellen aus der Beseitigung dieser beiden Gewaltursachen. Anarchie des internationalen Systems abbauen durch Kooperation in einer internationalen Organisation, Aggressivität eliminieren durch Demokratisieren der Herrschaftssysteme. Wer in Europa eine europäische Friedensordnung herstellen will, muß diese beiden Aufgaben bewältigen, das muß er tun. Nur das muß er tun! Aber das muß er tun!

Und wenn Sie jetzt noch einmal von dieser gewonnenen Warte den Blick werfen auf das was gegenwärtig auf Europa sich so vorbereitet, dann werden Sei sehen, wie weit entfernt wir von der Herstellung dieser Friedensursachen sind, wenn wir uns auf die Osterweiterung der NATO kaprizieren und auf die Eliminierung oder weitere Schwächung der OSZE. Es wird sozusagen das Gegenteil dessen getan, was getan werden muß. Es wird nicht ganz ausreichen. Selbst wenn durch eine - man muß ja wahrscheinlich schon sagen Fügung des lieben Gottes - ein Wandel in den westeuropäischen Hauptstädten stattfinden sollte und alle folgen nun dem, was ich heute hier vorgetragen habe, es wird nicht ausreichen. Es gibt - ich habe Sie darauf hingewiesen - diese Zweiergruppen, und ich habe aus den zwei Zweiergruppen immer nur die wichtigste Ursache herausgenommen. Ich möchte wenigstens eine mit Ihnen noch rasch behandeln, bevor ich meine Darlegung hier beschließe, und zwar den zweiten Teil aus der ersten Gewaltursachen-Gruppe, die da entsteht aus der anarchischen Struktur des internationalen Systems. Ich habe vorhin schon gesagt, der zweite Teil ist die Machtfigur. Ich verkürze das ein bißchen und vereinfache es auch und trage Ihnen nur Folgendes vor. Wenn Sie den Blick in das Europa der Gegenwart richten, dann sehen Sie auf der westlichen Seite einen sehr homogenen Staatenblock in der Europäischen Union und in der NATO, die Staaten ziemlich fest miteinander verbunden, ökonomisch außerordentlich hochstehend, technologisch im Zenit; und ihm gegenüber steht ein Konglomerat kleiner und kleinster Staaten, inhomogen, unterentwickelt, zum Teil verarmt. Wenn Sie das BSP pro Kopf sich ansehen, dann bleibt es 1990 in den Staaten der EU bei 15.500$, bei den Staaten der GUS bei 5.000$ und darunter. Dazu haben Sie eben dieses Konglomerat der osteuropäischen Staaten, Sie haben das Konglomerat der GUS. Kurz und schlicht, Sie haben als Gegenüber dieses reichen homogenen und kooperativ integrativen Blocks eine Fülle von großen und kleinen, unterentwickelten, armen, gegenüber Westeuropa absolut verarmten Staaten. Hier ist eine Asymmetrie entstanden. Diese Asymmetrie als Machtfigur ist ebenfalls konflikttreibend, kriegstreibend - nicht so stark wie die beiden anderen Faktoren, die ich genannt habe, aber sehr wohl konflikt- und gewalttreibend. Dies kann so nicht bleiben. Wir müssen also eine Ordnung erfinden, die auf den beiden Seiten des Kontinentes zumindest eine gesellschaftlich symmetrische Figur aufweist. Für Westeuropa habe ich die Bestandteile dieser Figur schon genannt. Wir haben die EU, die sich vertieft und sich gleichzeitig erweitert. Da sich die Union, wenn sie sich jetzt in einer Währungsunion wirklich zu einer Union entwickelt, so nicht nach Osten erweitern kann, wird man wohl zwischen Vertiefung und Erweiterung unterscheiden müssen. Was sich erweitert, ist die alte europäische Gemeinschaft, als Freihandelszone und Zollunion. Was sich vertieft, sind die sechs, die sieben, die neuen, die 12 die 15, die 16 - Sie können sich aussuchen, welche Gruppierung Sie als besonders wahrscheinlich ansehen. Aber es wird auf der westlichen Seite bis hin zum Bug dann die Europäische Gemeinschaft geben, und ein Bestandteil dieser Europäischen Gemeinschaft wird die Europäische Union sein. Wenn man nach Symmetrie sucht, würde das bedeuten, daß man sich anstrengen müßte, aus der GUS einen ähnlichen Verbund entstehen zu lassen. Die Rolle der integrierten EU in der EG soll in der GUS von Rußland eingenommen werden. Die Staaten der Europäischen Gemeinschaft würden äquivalent von den GUS-Staaten nachgeahmt werden. Das würde bedeuten, wir müßten zusätzlich zur Demokratisierung uns sehr darum kümmern, daß der Lebensstandard in Osteuropa und auch in den GUS-Staaten, jedenfalls in denen bis zum Ural, sich möglichst bald und möglichst grundlegend hebt. Dann würde in Europa eine Machtfigur entstehen, die einigermaßen äquivalent ist, einigermaßen gesellschaftlich symmetrisch. Es gibt Ausnahmen: die Landmasse Rußlands kann an Westeuropa nicht kompensiert werden. Umgekehrt kann die überlegende Bevölkerungszahl Westeuropas von Rußland nicht kompensiert werden. In Rußland gibt es ungefähr 160 Millionen, die vereinigte EU würde über 400 Millionen Leute haben. Die GUS hätte 300 Millionen, die erweiterte EU hätte immer noch 400 Millionen. Also ganz symmetrieren kann man es nicht. Aber wenn der Lebensstandard auf beiden Seiten einigermaßen gleich ist, also wenn es den GUS-Mitgliedern so gut geht, wie den Ärmeren in der EU jetzt, dann wäre das Armutsgefälle, diese bedeutendste Asymmetrie, die wir gegenwärtig in der europäischen Machtfigur haben, beseitigt.

Langfristig würde dann die europäische Friedensordnung, wenn man sich einmal die Mühe macht, darüber nachzudenken, so aussehen, wie ich sie eben geschildert habe. Es gäbe in Europa von Wladiwostok bis Vancouver nur demokratische Herrschaftssysteme, sie würden im Osten in der Gemeinschaft unabhängiger Staaten kooperieren, im Westen in der Europäischen Union - und die würden beide zusammen und natürlich zusammen mit Amerika und Kanada in der OSZE kooperieren, um das Sicherheitsdilemma zu beseitigen. Das würde dann eine Ordnung sein, die von sich aus den Anspruch erheben dürfte, eine Sicherheitsordnung zu sein, weil sie nach menschlichem und nach wissenschaftlichem Ermessen nur noch Frieden produzieren kann. Vielen Dank.

Quelle: September-Akademie (s.o.), WWW-Server (16.4.99). Korrekturen und Hervorhebungen von mir, W.N.