Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Delius, Friedrich-Christian (* 1943): Aus: Die Birnen von Ribbeck (1991)
VORBEMERKUNG. Der aus Hessen stammende Autor lebt heute in Berlin; unsere Textprobe, "eine Liebeserklärung an ein Dorf und an den Dichter Fontane" (Rückentext) schildert in eindringlicher, packender, aufrüttelnder Sprache Situation und Stimmung, als "kurz nach dem Fall der Mauer Wessis in das havelländische Ribbeck einfallen". In einem Monolog, der sich vom Anfang bis zum Ende des Buches hinzieht, "verschafft sich ein einheimischer Bauer Gehör - und wie!" (ebd.). Auf nur drei Seiten, d.h. rund 4 Prozent des Werkes, spannt sich ein Bogen vom Weltkriegsfiasko bis zur Realität des Arbeiter- und Bauernstaates und zurück. W.N.
[...] wer möchte da nicht wie Möwen und Krähen abheben aus dem gealterten, vergifteten Land, alle Mauern vergessen, die stabilen an den fernen Grenzen, die bröckelnden am Pferdestall, hinweg über die Felder, die Dörfer, noch einmal geboren werden, noch einmal von vorn anfangen oder im Schloß aufwachsen, einmal im Leben, noch vor dem Kerker des Alters, im Schloß wohnen, nicht wie damals, als Möbel, Kleider, Bilder rausgeräumt waren in den Scheunen oder weg mit den Armeelastwagen, die Bücher verheizt im bitteren Winter mit Koksgabeln rein in den Ofen, alles weg bis zur letzten Gardinenstange, zwischen dicken Wänden gehaust ohne Tische und Betten und Lampen und Licht, die Fenster zugenagelt mit Brettern, einmal im Leben im Schloß gewohnt und dann so, und du wußtest nicht, ob du dankbar sein solltest, weil nicht erschossen, nicht verbrannt und nicht gehenkt, nach all den Streifschüssen hungernd und frierend in einen verworrenen Frieden gestolpert,
den die hundert oder mehr Soldaten der Wehrmacht nicht abwarten wollten und gegen die Generäle, die auf Sterben oder Sieg setzten noch ganz am Ende, im Wald da hinten sich verschanzten und verraten wurden, und die SS mit Lastwagen ran und eingekesselt die Männer, Benzin drauf und alle verbrannt in den letzten Tagen vor dem Frieden und kein Korn als Versteck für die Flüchtenden auf den Feldern, und wir mit Fuhrwerken und Mistwagen mußten, Kopftuch um den Mund, nach Tagen die verkohlten Leichen mit Handschuhen und Schippen aufsammeln und auf den Friedhof kippen die stinkenden Körper, daß dir heute noch schlecht wird, wenn du das verwitterte Holzkreuz siehst mit dem rostigen Stahlhelm drauf, und keine Tafel erinnert, wie viele hier liegen warum,
dagegen versprachen sie dir Frieden, Wärme, Brot, Möbel nach all der Quälerei, und du wolltest ein neues rotes Leben, nie mehr die ganze Familie in einem Zimmer, nie mehr Kartoffelschalen mit der Bürste abreiben und dann auf der Ofenplatte braten, Mehlsuppen und die magerste Milch, nie mehr barfuß im Sommer, zwischen den Zehen quetscht dir die Kuhscheiße durch, barfuß zur Schule nach Berge drei Kilometer hin, drei Kilometer zurück, und in Holzpantinen im Winter, Draht druntergenagelt gegen das Eis, da ging es aufwärts mit der Bodenreform, eine Kuh, ein Schwein, ein Feld und dann hochgearbeitet, bitter, langsam, aber hoch, und das Gefühl: du kannst Weizen und Bohnen und Mais hochziehn, das Vieh wird fetter und die Milch, wenn das Soll dir nicht ins Genick haut,
ein neues Leben vorwärts, aufwärts, brüderlich, was des Volkes Hände schaffen, und deine Hände kräftig dabei, Anpacken, Mitmachen, Aufbauen, und dreißig Jahre später
wachst du auf und hast deinen Namen noch und giltst auf allen entscheidenden Papieren der LPG als Vollbeschäftigte Einheit und berechenbare Arbeitskraft, immer gut für Höchstertrag, aber wenn du ans Fuhrwerk Flieder stecktest am verbotenen Feiertag, scheißt der mit dem Parteiabzeichen dich an: Flieder ab oder 50 Mark, und wenn du die Pferde anspanntest, mal rausfahrn mit dem Kremser am Vatertag, stoppten dich gleich hinterm letzten Haus die Volkspolizisten, rissen am Zaumzeug und wiesen dich zurück ohne Grund oder der Grund war: du sollst nicht feiern, und wegen einmal Meckern am Brot nie mehr nach Berlin, und bei jedem Schritt gedeckelt wie ein Kind, eingesperrt ins Gehege wie das bessere Vieh, im Land der Hosenscheißer selber Hosenscheißer, niedergemacht und ausgeliefert den falschen Leuten, und noch mal erniedrigt, weil du nicht einmal brüllen konntest gegen die,
und aus Quatsch, denn es tat sich ja nichts, aus Protest gegen die Leere zwischen Hühnern und Spatzen, gegen das Verschwinden zwischen Plan und Verdacht, gegen das Kriechen vor den Lügen, faßten wir endlich selbst einen Plan heimlich beim Bier, einen Birnbaum zu setzen an die alte Stelle neben der Kirche, seit mehr als zwanzig Jahren war der Platz frei, wo der erste Baum stand, dessen Stumpf ihr besichtigen könnt, und der zweite, der vom Russen abgehackt wurde aus bösem Willen gegen Ribbeck, wie manche sagen, aber denen war Ribbeck egal und die Birnen, da hatten sie nichts andres zu tun, sie haben ihre Panzer und Autos rund um die Kirche gejagt und geparkt, und da blieb kein dünner Baum verschont, ob Birne, Lebensbaum, Linde, [...]
Wird ergänzt * HTML + Layout Dr. W. Näser, MR, 18.2.2002