Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Seelhoff, Paul: Aus: Unsere deutschen Kinder (mit Kinderbildnissen von Erna Lendvai-Dircksen). Berlin 1932
VORBEMERKUNG. Während, kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, im krisengeschüttelten Deutschland eine Vielzahl von Parteien um Macht und Einfluß kämpfte, erschien ein heute völlig in Vergessenheit geratenes Buch mit seltsam idealisierendem Text und dazu 105 ausdrucksstarken Kinderbildnissen (siehe links) der schon in der Weimarer Republik berühmten Porträtfotografin Erna Lendvai-Dircksen (1883-1962). Die folgenden Auszüge (S. 10-42; 134) sind nicht nur sprachlich, sondern vor allem auch inhaltlich höchst interessant und provozieren angesichts der gegenwärtigen Situation von Eltern und Kindern eine kritisch-vergleichende Diskussion. W.N.
Wir Erwachsenen sind mitten in der Zeit und wissen nicht viel von ihr. Wir wissen wohl, daß vor einigen Jahren ein großer Krieg war und daß uns, die wir in den Jahren dieses Krieges durch einen Zufall oder durch eine Fügung nicht den Tod erlitten, das Leben zum zweitenmal geschenkt wurde. Doch wir denken nicht viel darüber nach.
Wir wissen, daß in unseren Tagen die Menschen von einem Erdteil zum anderen zu fliegen vermögen über das Meer, über jenes Meer, das wir das Weltmeer nennen, weil wir es uns sonst in seiner Fürchterlichkeit und in all seinem Schrecken, in all seiner Herrlichkeit und in all seiner Schönheit nicht vorzustellen vermögen, in all seiner Größe und seiner Weite. Wir wissen auch, daß wir ganze Städte in wenigen Augenblicken vernichten können, wie Nero das große und gewaltige Rom anzünden ließ. Wir wissen, daß unser tapferes deutsches Volk so lange unter Hunger gehalten wurde, der viele Kinder und Frauen sterben ließ, bis daß unsere Heere zerbrechen mußten.
Aber das wissen wir ja alles, und wir wissen auch, daß der Vernichtungswille gegen die Deutschen nicht tot ist, ja, daß er nicht einmal schläft. Was wollen wir davon reden; wir wissen es ja alle.
Wir wissen auch, daß die Menschheit schon fast zugrunde gegangen ist an jenen Dingen, die sie den Deutschen tat.
Man muß sich über all diese Dinge ganz klar sein, wenn man die Gegenwart verstehen will. Man muß von ihnen wissen, wenn man versuchen will, einen Weg in die Zukunft zu finden.
Wir wissen, daß wir von unserem Zimmer aus, wenn wir an ein paar kleinen schwarzen Hartgummiknöpfen drehen, ganz Europa belauschen können; was die Leute in Prag treiben, und was für Musik sie in Edinburgh machen, und wir hören, wie sie aus einer kleinen Kapelle, die bei Rom liegt, nach der Messe herausgehen und sich räuspern, und wie sie miteinander sprechen. Das alles können wir von unserem Zimmer aus hören. Das ist uns alles so selbstverständlich. Denn wir sind mitten in unserer Zeit und wissen nicht allzu viel von ihr.
Vielleicht kommt nach dieser Zeit auch eine lange Zeit der Ruhe. Vielleicht ist es so, daß die Menschen, die in zweihundert, in dreihundert Jahren leben, auf uns weisen und sagen: "Ja, seht jene Menschen damals, was haben sie geschaffen, was haben sie ertragen, was haben sie erlebt...!"
Nur heute wissen wir nicht viel davon.
Seht, in einer solchen Zeit wachsen unsere Kinder auf, denen all das noch viel unbewußter ist als uns, von denen doch noch viele Bismarck gesehen haben. Vielleicht, daß unsere Kinder uns einmal fragen über die Dinge unserer Zeit. Was sollen wir ihnen sagen? Sie werden einem Gedanken dienen wollen. Sie werden von uns wissen wollen, wozu sie auf der Erde seien.
Was sollen wir ihnen sagen? Sollen wir ihnen sagen: Ihr seid dazu da, daß ihr Maschinen erfindet, mit denen ihr die Menschen zu Tausend in einem Augenblick zu töten vermögt? Oder sollen wir ihnen sagen, ihr müßt Maschinen bauen, mit denen ihr die Menschen langsam, aber ebenso sicher tötet? Sollen wir ihnen sagen, ihr seid dazu da, Giftgas herzustellen? Oder sollen wir ihnen sagen, ihr seid dazu da, Bücher auf Bücher mit Zahlen vollzuschreiben? Sollen wir ihnen das etwa sagen? Oder sollen wir ihnen gar sagen, ihr seid nur dazu da, für andere Völker zu arbeiten und euch zu quälen?
Wenn wir das unseren Kindern sagen werden, so werden sie uns nicht verstehen. Und die, dien schon größer sind und uns doch vielleicht verstehen, die werden mit trostlosen Augen in endlose Weiten sehen. [...]
Wer kennt nicht jene wundersame Zeichnung des Hans Thoma. Ein Kind, das deutsche Kind, sitzt im aufgesperrten Rachen eines Ungeheuers und spielt ganz unbesorgt auf einer Flöte, voller Vergessenheit und Seligkeit.
So ist das auch jetzt mit dem deutschen Kind. Es weiß kaum davon, wie sehr wir Erwachsenen uns quälen und mühen, es über das schlimme Wasser der Zeit an das friedsame, bessere Ufer zu bringen. Mit großen, ganz unbekümmerten Augen schaut es uns an und weiß nichts von der Gegenwart, nichts von seiner Zukunft und nichts von seiner Vergangenheit. [...]
Wie sehr auch unsere Vorfahren das Kind als Träger der Zukunft hüteten, zeigen jene Bestimmungen, die schon im späteren mittelalterlichen Deutschland zum Schutz des ungeborenen Kindes erlassen wurden. So durfte die das Kind erwartende Mutter fast in ganz Deutschland auch in der Fastenzeit, wenn sie danach Verlangen hatte, Wildbret essen. Die Frau, die ein Kind erwartete, durfte von ihrem Mann mehr Wergeld denn sonst verlangen, und wenn sie, glücklich über das kommende Kind, ihrem Mann Mitteilung machen konnte von ihrem Zustand, so war dieser verpflichtet, ihr ob dieser Freudenbotschaft ein besonderes Geschenk zu machen. Aber auch der Gedanke, daß psychische Einflüsse das werdende Kind schädigen oder ihm nützen könnten, ist nicht erst ein Gedanke moderner ärztlicher Erziehung. Schon Erasmus von Rotterdam (1467-1536) sagte, es sei damit nicht allein getan, wenn die Mutter alles meide, was ihr Befinden störe und sie aufrege, sie müsse vor allem auch ein ruhiges Gewissen haben, vor allem dürfe ihre Seele nicht durch Zorn, Haß, Neid oder gar noch andere Laster erregt werden, solange sie das Kind trage. Wahrscheinlich hat dieser seltsam kluge Mann ob der Unruhe seines unsteten Lebens über sich und seine Herkunft nachgedacht, und es läßt sich leicht erraten, zu welchen Schlüssen er, der uneheliche Sohn einer Arzttochter, hierbei gekommen ist.
Das Wort von der Erziehung vor der Geburt ist in unseren Tagen viel in Gebrauch. Das Werden des Kindes, es ist nichts anderes denn ein Formen des Kindes durch die Mutter. Auf jedes Bilden wohl läßt sich Nietzsches Wort vom Schaffen in der Ruhe anwenden, auf keines aber so sehr wie auf den Zustand der Frau, wenn sie ein Kind erwartet, wie es auch Paula Messer-Platz in ihrem Buch "Vorgeburtliche Erziehung" tut: "Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigsten Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muß, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken. Doch hat schon jeder einzelne, welcher in Kopf und Herz ruhig und stetig ist, das Recht, zu glauben, daß er durch die Bewahrung dieser Tugend eine höhere Aufgabe erfüllt."
Durchdrungen von der Wichtigkeit dieser höheren Aufgabe waren auch jene betenden Frauen, die so zu Gott sprachen: "Behüte uns vor einem ungeheuren Anblick, vor Schrecken und Unfall. Wehre dem höllischen Mordgeist und allen seinen Werkzeugen, daß er auf keinerlei Weise an Mutter und Kind, ja keine Macht an uns allen finden möge..."So beteten die erwartenden Frauen im Meininger Land in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in einem ihnen vorgeschriebenen Kirchengebet. Auch hier herrschte die Sorge um das kommende Kind als Träger des Zukünftigen alle Gedanken.
Mutter und werdendes Kind läßt Agnes Miegel in unseren Tagen so sprechen, und ihre Worte sind durchglüht wie jenes alte Kirchengebet von heiligster Sorge um die Zukunft dessen, das da kommen will:
"Ich bin ein Seelchen, fein und traut, das heiß verlangt nach deiner Seelen, bin eines Stimmchens Zwitscherlaut und will so vieles dir erzählen. Sieh nicht, wie hell die Sonne scheint, sieh nicht, wie sich die Blüten heben, hör', wie in deinem Schoße weint bittend das ungeborene Leben."
[...] Kein Wort der großen Literatur aller Völker und aller Zeiten gehört so sehr zu der echten und wahren Mutterliebe wie jene Stelle des ersten Korintherbriefes:
"Doch ich will euch noch einen Weg zeigen, hoch über alles. Wenn ich mit Menschenzungen und mit Engelzungen rede und habe keine Liebe, so bin ich tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich Weissagungen habe, und weiß die Geheimnisse alle, und die ganze Erkenntnis, und wenn ich den ganzen Glauben habe zum Bergeversetzen und habe keine Liebe, so bin ich nichts... Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig; sie suchet nicht das ihre."
Glücklich das Haus, dem eine solche Mutter gegeben ist.
Wie mit der Mutter, so ist es mit dem Vater. Er soll nicht nur Geld verdienen, nicht nur das Schiff in Fahrt halten. Ohne ihn sind die Kinder doch abseits vom Leben. Denn ein rechter Vater ist ihnen Mittler von allem, bis sie imstande sind, ihre Wege selbst zu finden. So möge ein rechter Vater eines rechten deutschen Kindes sein, wie Albrecht Dürer seinen Vater uns schildert:
"Dieser mein Vater hatte großen Fleiß auf seine Kinder, sie auf die Ehre Gottes zu ziehen. Denn sein höchstes Begehren war, daß er seine Kinder mit Zucht wohl aufbrächte, damit sie vor Gott und den Menschen angenehm würden. Darum war sein täglich Sprach zu uns, daß wir Gott lieb sollten haben und treulich gegen unseren Nächsten handeln. Und sonderlich hat mein Vater an mir einen Gefallen, da er sah, daß ich fleißig in der Übung zu lernen war. Darum ließ mich mein Vater in die Schule gehen, und da ich schreiben und lesen gelernet, nahm er mich wieder aus der Schul und lernet mich das Goldschmiedhandwerk."
Welche tiefe Einfachheit ist in Dürers Worten. Und doch umfassen sie Anfang und Ende einer rechten Kindheitserziehung. Glücklich das deutsche Kind, dessen Schritte so von einem rechten Vater geleitet werden.
[...] Die gemeinsame Erziehungsarbeit der Eltern an den Kindern, ohne Stock und ohne Schelten, ist Zukunftsarbeit, ist wahrhaft nationale Tat. So, wie Luther es sagt.
"Nicht Zorn und Mißmut, nicht Schelten und Zanken vermögen die Kinder zu führen. Wer zornig herrschet, der macht übel Ärger; die Erfahrung lehrt, daß durch Liebe weit mehr ausgerichtet werden könne als durch knechtische Furcht und Zwang. Daraus, daß die Kinder mit Ungestüm erzogen werden, kommt, daß ihr Gemüt, weil es noch zart ist, ganz in Furcht und Blödigkeit gerät, und erwächset in ihnen ein Haß gegen die Eltern, daß sie entlaufen und tun, was sie sonst nimmermehr getan hätten. Denn was vor Hoffnung mag sein an einem Menschen, der einen Haß und Mißtrauen hat zu seinen Eltern und ganz an ihnen verzaget? Ein Kind, das einmal blöde und kleinmütig worden ist, dasselbe ist zu allen Dingen untüchtig und verzagt und fürchtet sich alle Zeit, so oft es etwas tun oder angreifen soll. Und das noch ärger ist, wo eine solche Furcht in der Kindheit bei einem Menschen einreißet, die mag schwerlich wieder ausgerottet werden sein Leben lang. Denn weil sie zu einem jeglichen Worte des Vaters oder der Mutter erzittern, so fürchten sie sich auch hernach ihr Leben lang vor einem rauschenden Blatt."
Macht die deutsche Jugend wieder stolz und frei, damit sie sich nicht vor einem jeden rauschenden Blatt fürchte! Die Erziehung zum wahrhaft freien Menschen, nicht befangen in Doktrinen, frei von Scheuklappen, muß in Deutschland wieder Ziel aller Erziehungsarbeit werden. Dann wird es wieder aufwärts gehen.
Alle, die da meinen, die Jugend, das kostbarste Gut unsres Volkes, für ihre besonderen Wünsche einspannen zu müssen, versündigen sich am Volk, dem sie zu dienen vorgeben. Nur dann wird das deutsche Volk wieder stolz und frei sein, wenn seine Jugend stolz und frei ist. Ist die Jugend aber verwirrt und unfrei in ihrer Geistigkeit, so kann's nimmermehr gut gehen.
Wird ergänzt * HTML, Bild-Scan + Hervorhebungen: Dr. W. Näser, MR 15.2.2002