Der Deutsche Sprachatlas als sprachgeschichtliches Dokument: Mundarten um 1880 [aus: Materialien für die Internationalen Sommerkurse, ab 1978]

Als der damals erst 24-jährige Georg WENKER 1876 seine berühmt gewordenen 40 Fragesätze konzipierte, war noch nicht abzusehen, daß seine Methode und sein späteres Hauptwerk, der DEUTSCHE SPRACHATLAS, die in den Kinderschuhen steckende deutsche Sprachgeographie nachhaltig prägen und gewaltig vorantreiben würden. Heute, im ausgehenden 20. Jahrhundert, bieten über 52.000 originale "Wenker-Bögen" aus allen damaligen deutschen Schulorten ein in seiner geographischen (und damit auch kulturräumlichen) Spannweite und Vollständigkeit einzigartiges Material von unschätzbarem Wert, das im Hinblick auf Phonologie, Morphologie, Lexik - und teilweise auch Idiomatik und Syntax - eine Bestandsaufnahme der deutschen Sprache um 1880 in allen dialektalen Varianten bereitstellt. Anhand dreier Wenker-Sätze aus rund 30 Dialektgebieten soll die Vielfalt der deutschen Mundarten exemplarisch aufgezeigt werden. In dem 1978 für den damaligen Internationalen Ferienkurs erstellten Text erscheinen die Sätze 1, 5 und 10 fast ausschließlich wie in den Original-Bögen; die mit der Verschriftlichung befaßten Lehrer versuchten stets, die individuelle Ortsmundart so präzise und aussagekräftig wie möglich in konventionelle Schreibschrift umzusetzen, woraus - vor allem im allophonischen Bereich - gewisse Ungenauigkeiten resultieren können, was jedoch für eine (exemplarische) Didaktisierung vernachlässigt werden kann.

LEGENDE
Nr.|Code|Ort                              |Mundart
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 1  SL   Schleswig                         schleswigisch
 2  HE   Helgoland                         nordfriesisch
 3  NO   Norden                            ostfriesisch
 4  HD   Heide                             Holsteinisch 
 5  ZW   Zitzewitz Krs. Stolp              Ostpommersch
 6  GE   Geesthacht                        Nordniedersächsisch
 7  BM   Bergheim                          Ripuarisch
 8  HU   Hunteburg Krs. Osnabrück          Westfälisch
 9  EM   Empelde Krs. Wenningsen           Ostfälisch
10  HW   Helsen bei Arolsen/Waldeck        Westniederdt.-Westfälisch
11  NS   Niederschönhausen                 Mittelmärkisch
12  BL   Berlin                            Brandenburg.-Berlinisch
13  KO   Koblenz                           Moselfränkisch
14  KL   Kaiserslautern                    Pfälzisch
15  GI   Gießen                            Oberhessisch
16  GK   Groß-Karben bei Frankfurt/Main    Südhessisch
17  EI   Eisenach                          Thüringisch
18  ME   Meerane                           Sächsisch
19  BU   Bunzlau			   Niederschlesisch
20  AR   Arnstein       		   Ostfränkisch
21  EC   Echterdingen			   Schwäbisch
22  CL   Cleversulzbach                    Schwäbisch
23  IN   Ingolstadt	                   Mittelbairisch
24  GT   Gauting b. München		   Mittelbairisch
25  SH   Schaffhausen			   Hochalemannisch
26  VI   Visperterminen im Wallis, CH      Höchstalemannisch
27  PD   Pfunds Krs. Landeck/Tirol         Südbairisch
28  OS   Ossiach am See                    Kärntisch
29  WI   Wien I, III und XX                Wienerisch	

Satz 1: Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum	
 1  SL  Inne Winter flegn de drögn Bläder inne Luf herum.
 2  HE  Un de Wonte(r) fledde dri Ble'n unne loch ombe.
 3  NO  's Winters flegen de sore/dröge Bladen dör de lucht herüm.
 4  HD  Zu'n Winter fleegt de dräugen Bloeder doer de Luft rum.
 5  ZW  Im Winter fleiga die drega Bläder dirch die Luft harümmer.
 6  GE  In'n Winter flä(i)gt de drögen Blöder/Bläder dörch de Luft herüm.
 7  BM  Em Wengter flege dö drügge Blädder durch dö Luhet(?) öröm.
 8  HU  In Winter fleget de dräugen Bliär der de Lucht herümme.
 9  EM  In Winter fleiget dei drögen Blär dür dei Luft herrümme.	
10  HW  Im Winter fleget de drügen Bläddere dür de Luft rümme.
11  NS  In'n Winter fliegen de drocknen Blätter in de Luft rumher.
12  BL  In'n Winta fliejen de drockene Blätta inne Luft rum.
13  KO  Em Wender fleje die trockene Bläder en der Loft herom.
14  KL  Im Winder flin'n die druckene Blerrer indr Luft erum.
15  GI  Em Wenter flähn dei trockene Blerrer dorch dei Loft erim.
16  GK  Im Winter flän die Blerrer in d'r Loft erim.
17  EI  Em Weinter fliehn de trockne Bleter derch de Loft herem.
18  ME  Im Winter fliegen de truckng Blätter dorch de Luft rum.
19  BU  Eim Winter fliegen die truknen Blattl durch die Luft rim.
20  AR  Im Wint'r fliaga di truckana Bläiter in där Luft ümri.
21  EC  En Wenter fliat dia druckana Bledder en dr Luft rom.
22  CL  Im Winder flicha die druggena Bledder in der Luft rum.
23  IN  Im Winta fliagn de truckan Blätta in der Luft rum.
24  GT  An Winta flieng de druckana Läiwa a da Luft umanand.
25  SH  Em Wenter flieja d'droggene Blätter in der Loft erom.
26  VI  Im Winter fleigunt die trochunu Bletter in der Luft umanandrn.
27  PD  Im Wintr fliaga die trukna Blöttr in dar Luft umcha.
28  OS  Im Wintr fliagn dö truckanen Blöttar in da Luft umar.
29  WI1 In Wintr fliagn d trucknan Bladln in d Luft rum.
    WI3 Im Winter fliagn die dürr'n Bladln in der Luft umananda.
    WI20 In Winter fliagn die dirr'n Bladln in der Luft umanand.

Satz 5: Er ist vor vier oder sechs Wochen gestorben. 
 1  SL  He is för veer oder sühs Week'n dod bläw'n.
 2  HE  He es vör stjur odder ssöss Wecken störrewen.
 3  NO  He is för fêr of ses Wäk stürfen.
 4  HD  He is voer veer oder süs Weeken dod blewen.
 5  ZW  Hei is ver veier (Weka) storwen.
 6  GE  He is vür veer oder süß Wäken storb'n.
 7  BM  Dia es für vier udder sechs Weihn gestorfe.
 8  HU  He is vor veer odder seß Wieken stirben.
 9  EM  Hei iß var veier oder ses Weken estorben.
10  HW  He is vür veer oder seß We(i)cken gesturben.
11  NS  ER is vor vier od sechs Wochen geschtorben.
12  BL  Ea is voa via oda sechs Wochen jestorben.
13  KO  Ä es fur vier oder sechs Woche gestorwe.
14  KL  Er is vorr vier orrer sechs Woche gestorb.
15  GI  Er es vor veier awwer sechs Woche gestoarwe.
16  GK  He es vor vier awer sechs Woche gestorwe.
17  EI  Aa es vor vier odder sächs Wochen gestorben.
18  ME  Aorr is vaorr vier aber sechs Wuchn gestorm.
19  BU  A is vor vier oder sechs Wuchen gesturben.
20  AR  Ar it voar viar od'r sechs Wucha g'schtorbn.
21  EC  Ear ischt voar vier oder segs Wocha gstorba.
22  CL  Er ist vor viar oder sechs Wucha gschtorba.
23  IN  Er is vór vier oder sechs Wocha gschtorm.
24  GT  Er is vor vier oder segs Wocha gschtarm.
25  SH  Ar esch ver viar eder sex Wocha gschtorwen.
26  VI  Är ischt vor viar olt sägsch Wuchu gschtorbu.
27  PD  Er ischt vor viar odr söx Wocha gstorba.
28  OS  Er is vur vier oder sechs Wochn gsturbn.
29  WI1 Er is vur vier oder segs Wochn gsturm.
    WI3 Er is vur vier oder sechs Wochn gsturbn.
    WI20 Er is vur via oda sechs Wochn gsturm/åkråtzt.

Satz 10: Ich will es auch nicht mehr wieder tun. 	  
 1  SL  Ick willt ock nich wedder dohn.
 2  HE  Ek wellet ock gor niwwer do.
 3  NO  Ik wil't ok nich wer don.
 4  HD  Ik will dat ok ni mehr weller dohn.
 5  ZW  Jit will dat ok nig mer werra daua.
 6  GE  Jet will datt ook nich mehr wedder dohn.
 7  BM  Ich well öt och net nie widder dunn.
 8  HU  Ik will it aak nich mer wier dohn.
 9  EM  Ik will et ok nich mohr wier daun.
10  HW  Ik will et auk ni mai widder dhoun.
11  NS  Ick will et ooch nich mehr wedder duhn.
12  BL  Ick will et ooch nich mea wieda dhun.
13  KO  Ech well et och net nich widder dohn.
14  KL  Ich wills aach nett meh wirrer duh.
15  GI  Eich wills aach net mie daun.
16  GK  Ich wills ag näit mie wirrer dou.
17  EI  Ech wells au nett miehn wetter thun.
18  ME  Ich wills o nich widder machng.
19  BU  Ich wils ock nich meh wieder thun.
20  AR  I wills aa nit mear wiadr thun.
21  EC  I wills au (...) do(u)a.
22  CL  I wills a nimme dou.
23  IN  I wills a nimma doa.
24  GT  I wuis nie mehr thoa.
25  SH  Ech wells nemmi düen.
26  VI  Ich will sus öü nime tüö.
27  PD  I will es auch numma wiedr tia.
28  OS  I wills a niamer tan.
29  WI1 I wüls a inimma tuan.
    WI3 I wülls a nimmermehr tuan.
    WI20 I wir_s a nimma wieda tuan.
(c) Wolfgang Näser 1978 / 17081996; wird ggf. ergänzt