Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Eich, Günter (1907-1972): "Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist" (1953)

"Ich beneide sie alle,
die vergessen können,
die sich beruhigt schlafen legen
und keine Träume haben."

VORBEMERKUNG: Der am 1. Februat 1907 im brandenburgischen Lebus geborene Lyriker, Hörspielautor und Prosaist studiert Sinologie, Jura und Volkswirtschaft. Schon 1929 schreibt er (zusammen mit Martin Raschke) ein Hörspiel: das "Leben und Sterben des Sängers Caruso" (gesendet 1931). Seit 1932 arbeitet er als freier Schriftsteller und produzierte von 1933 bis 1940 nicht weniger als 160 Hörspiele: wie die Berliner Morgenpost es formuliert, "Fließbandarbeiten für den Lebensunterhalt". Bis 1940 entstehen monatliche Folgen des "Königswusterhäuser Landboten", der mit 75 Sendungen umfangreichsten Funkserie der damaligen Zeit. Als Teilnehmer des 2. Weltkriegs gerät er in amerikanische Gefangenschaft; zwei Jahre später gehört er zu den Gründern der "Gruppe 47" und tritt 1951 dem PEN-Club bei.. In der Nachkriegszeit prägt der Lyriker mit Gedichten wie "Inventur" und "Latrine" (1948, aus "Abgelegene Gehöfte") eine nüchterne, vorherigen Schwulst ausmerzende Schreibweise, die als "Kahlschlagliteratur" bekannt wird. Zwischen 1948 und 1958 entstehen weitere 50 Hörspiele, Kurzhörspiele und Hörspielserien. 1953 heiratet er die (1996 mit dem Großen Österreich. Staatspreis für Literatur ausgezeichnete) Schriftstellerin Ilse Aichinger. Seit 1955 Mitglied der Bayer. Akademie der Schönen Künste, erhält er 1959 den Georg-Büchner-Preis und sagt in seiner Dankesrede u.a.: "Es hat noch nichts Inhumanes auf der Welt gegeben, keine Gewissenlosigkeit, kein Blut und keinen Terror, das nicht durch kunstvolle Beweisführung als gut und richtig gerechtfertigt worden wäre." Was er schreibe, meint Eich, seien "Maulwürfe"; schädlich seien sie, "man soll sich keine Illusionen machen. Über ihren Gängen sterben die Gräser ab, sie machen es freilich nur deutlicher. Fallen werden gestellt, sie rennen blindlings hinein." Eich stirbt am 20. Dezember 1972 in einem Salzburger Sanatorium.

Das aufrüttelnde Zitat "Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt" stammt aus seiner schockierendsten Arbeit, dem im August 1950 konzipierten, vom NWDR am Donnerstag, dem 19. April 1951 um 20.50 Uhr als Ursendung ausgestrahlten Hörspiel "Träume", das mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet und 1953 auch bei Suhrkamp in Frankfurt veröffentlicht wird. Fünf Szenen entsprechen hier fünf Alpträumen aus fünf Erdteilen; auch die untenstehenden Zeilen entstammen diesem Werk und widerspiegeln gerade jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, eine bestürzende Aktualität. W.N.

Denke daran, daß der Mensch des Menschen Feind ist
und daß er sinnt auf Vernichtung.
Denke daran immer, denke daran jetzt,
während eines Augenblicks im April,
unter diesem verhangenen Himmel,
während du das Wachstum als ein feines Knistern zu hören glaubst,
die Mägde Disteln stechen
unter dem Lerchenlied,
auch in diesem Augenblick denke daran!
Während du den Wein schmeckst in den Kellern von Randersacker
oder Orangen pflückst in den Gärten von Alicante,
während du einschläfst im Hotel Miramar nahe dem Strand von Taormina,
oder am Allerseelentage eine Kerze entzündest auf dem Friedhof in Feuchtwangen,
während du als Fischer das Netz aufholst über der Doggerbank,
oder in Detroit eine Schraube vom Fließband nimmst,
während du Pflanzen setzt in den Reis-Terrassen von Szetschuan,
auf dem Maultier über die Anden reitest, --
denke daran!
Denke daran, wenn eine Hand dich zärtlich berührt,
denke daran in der Umarmung deiner Frau,
denke daran beim Lachen deines Kindes!
Denke daran, daß nach den großen Zerstörungen
jedermann beweisen wird, daß er unschuldig war.
Denke daran:
Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini,
aber in deinem Herzen.
Denke daran, daß du schuld bist an allem Entsetzlichen,
das sich fern von dir abspielt --

Worterklärungen (=> Duden-Universalwörterbuch, 1994):
s. abspielen
: geschehen
Allerseelen
«o. Art.; mit Attr.: das nächste A., des nächsten A.» [gek. aus: Allerseelentag, für kirchenlat. omnium animarum dies] (kath. Kirche): Gedenktag für alle Verstorbenen (gewöhnlich am 2. November).
aufholen (Seemannsspr.) nach oben holen, in die Höhe ziehen: die Segel, den Anker a..
Getriebe, das; -s, - [zu treiben]: 1. Vorrichtung in Maschinen o.~ä., die Bewegungen überträgt u. die betreffende Maschine o.~ä. funktionstüchtig macht: ein hydraulisches, automatisches G.; das G. des Autos ist synchronisiert; (fig.) das G. einer Massengesellschaft
knistern «sw. V.; hat» [lautm. für einen helleren Klang]: a) ein [durch Bewegung verursachtes] helles, kurzes, leise raschelndes Geräusch von sich geben: Papier, Seide knistert; das Feuer knistert im Ofen; es herrschte eine knisternde (erregte, prickelnde) Spannung, Atmosphäre
Maulwurf, der [volksetym. von: moltwerf, spätahd. mul(t)wurf, eigtl. = Erd(auf)werfer]: 1. unter der Erde lebendes, Insekten u. Regenwürmer fressendes Tier mit kurzhaarigem, dichtem Fell, kleinen Augen, rüsselförmiger Schnauze u. kurzen Beinen, von denen die vorderen zwei als Grabwerkzeuge ausgebildet sind
Maultier n. Kreuzung von Eselhengst u. Pferdestute.
Sinologie, die; - [-logie]: Wissenschaft von der chinesischen Sprache u. Kultur.
widerspiegeln «sw. V.; hat»: 1.~a) das Spiegelbild von jmdm., etw. zurückwerfen: das Wasser spiegelt die Lichter wider/(seltener:) widerspiegelt die Lichter; b) «w. + sich» als Spiegelbild erscheinen; sich spiegeln (2~a): der Himmel spiegelt sich in der Lagune wider. 2.~a) zum Ausdruck bringen, erkennbar werden lassen: der Roman spiegelt die Verhältnisse wider; seine Augen spiegelten seine Freude wider; b) sich -- erkennbar werden: dieses Erlebnis spiegelt sich in seinem Werk wider.

Wird ergänzt * Layout + Erläuterungen: (c) W. Näser, MR, 4.3.2002 / Stand 8.5.2002