Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

[Textsorte Wissenschaftskritik: Forschung und Lehre]

aus: Rolf ENDRES, Einführung in die mittelhochdeutsche Literatur, 1. Auflage Frankfurt/M. u.a. 1971, S. 18-27 (mit freundl. Genehmigung des Autors); Adaptation und Hervorhebungen von mir, W.N.)

"Was soll denn das, sich in ein Linguistik-Seminar zu setzen und Endsilben zu zählen. Die Leute sollen raus in die Welt und Sprachen oder hierzulande Türkisch lernen. das bietet sich doch an." Walter Kempowski (75) zur Verschulung der Universitäten in einem von Uwe Heinrich geführten Interview "Gegen das Vergessen" (Unicum 1/2005, Seite 13)

VORBEMERKUNG. Die folgenden Auszüge liefern genug Argumente (und Provokation!), die zum Nachdenken (und Erwidern?) Anlaß geben. Der Text eignet sich auch hervorragend für den Ausländer-Unterricht, liefert er doch eine Menge an relevanten neuen Wörtern und Wendungen, die aufgelistet, in ihrem Kontext 'abgeklopft' und paraphrasiert bzw. durch Synonyma ersetzt werden könnten. Rolf Endres promovierte 1961 in München mit seinen Studien zum Stil von Hartmanns 'Erec', war bis 1969 an der University of Sydney, danach Professor an der University of Georgia (USA, 1969-1973) und arbeitete bis 1994 am Germanistischen Institut der Universität Regensburg. Sehr lesenswert ist auch seine (1988 in 2., verb. Auflage erschienene) Einführung "Anthropologische Sprachwissenschaft I".

Endres' Worte sind ein seltener Fall wissenschaftlicher Zivilcourage (d.h. nicht gerade karrierefördernd); seine Kritik, das versteht sich von selbst, ist naturgemäß nicht auf alle Bereiche von Forschung und Lehre übertragbar. In bestimmten freilich ist sie nach wie vor aktuell.
Januar 1998 / Februar 2002      W. NÄSER

Eines der Argumente, mit denen sich viele Inhaber der Macht an den deutschen Universitäten gegen eine über kleine Zugeständnisse hinausgehende Reform wehren, ist der Hinweis auf eine drohende Verschulung des akademischen Lehrbetriebs. Die Schule wird als Schreckgespenst benützt, das man möglichst weit von sich entfernt halten will. Und Beifall kommt auf bei all denen, die unter der Schule gelitten haben und froh sind, ihr entronnen zu sein. Es ist paradox, daß diejenigen, die selbst einmal als Lehrer den Schulbetrieb gestalten werden und diejenigen, die Lehrer bilden wollen, sich mit erhobenen Händen von dem distanzieren, was ihre Lebensaufgabe oder ihr gesellschaftlicher Auftrag ist. Üble Erfahrungen haben hier zu einem Vorurteil geführt und zu falschen Schlüssen verleitet. So ist das Wort »Verschulung« mit seinem derogativen Präfix zu einer bösartigen Waffe in der Hand der Reformunwilligen geworden. Gegenüber der Klage über die drohende Verschulung und gegenüber der Spekulation auf dumpfe Ressentiments in bezug auf die Schule verdient die Erkenntnis hervorgehoben zu werden, daß die Gymnasien und die Gymnasiallehrer kein Gegenstand pauschaler Verachtung sind. Der akademische Lehrbetrieb kann sich von einem guten Oberstufenunterricht eine dicke Scheibe abschneiden. Es wäre eine Ehre für die Universität, eine gute Schule zu sein und gute Lehrer zu besitzen. Die Alternativen sind heute nicht mehr Schulbetrieb oder Universitätsbetrieb, sondern sinnvoller oder sinnloser Unterricht. Wenn die deutsche Schule schon lange in dem Geruch eines autoritären und unökonomischen Lernbetriebs steht, in den jetzt auch die deutsche Universität geraten ist, heißt das nur, daß beide reformbedürftig sind.

Die Schar der konservativen Dozenten begehrt auf, wenn ein Lehrplan für die einzelnen Studienjahre vorgeschlagen wird. Sie wollen nicht zur »Durchnahme« gewisser Stoffe gezwungen sein. Sie wollen den Zeitpunkt und den Stoff ihrer Vorlesungen frei wählen können. Nur so glauben sie, die Forschung weiter treiben zu können. Nur so gelingt es, eine öde Wiederholung des angeblich gesicherten Kompendienwissens zu vermeiden und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Argumentation erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Es ist aber leider eine Tatsache, daß die bisherige Lehr- und Forschungsfreiheit eine Freiheit für wenige war. Sie hat besonders im Bereich der Altgermanistik zur Pflege immer abgelegenerer Gebiete geführt, weil das Gebiet der »Blütezeit« der mittelhochdeutschen Literatur irrtümlich für ausgeschöpft erklärt wurde und weil von interessierter Seite der Irrtum gepflegt wird, nur durch die Beschäftigung mit unbekannten und unbearbeiteten Gebieten lasse sich ein Fortschritt der Wissenschaft erzielen. Der Irrtum liegt darin, daß eine Vergrößerung der ohnehin unüberschaubaren Masse der Kenntnisse mit Fortschritt der Wissenschaft gleichgesetzt wird. Fortschritt liegt aber heute vor allem in einer sachgerechteren Behandlung und kritischeren Bewertung des Bekannten. Zahlreiche Doktoranden verbringen Jahre ihres Lebens mit der Sichtung und Katalogisierung spätmittelalterlicher deutschsprachiger Predigt- und Traktatliteratur, ohne Schlüsse aus der Tatsache zu ziehen, daß die Hoffnung auf ungehobene Schätze den Aufwand nicht lohnt, da es ja wahrhaftig genug bekannte Schätze im Bereich der deutschen Literatur des Mittelalters gibt. Ganze Scharen von Germanisten schwärmen aus, um z. B. festzustellen, in welchen Landstrichen Deutschlands man für »Huhn« die Bezeichnung »Henne« oder »Hauhn« oder »Putte« oder »Hinkel« gebraucht. Die Mitarbeiter beim »Deutschen Sprachatlas« und »Deutschen Wortatlas« verwenden die beste Zeit ihres Lebens darauf, um mit großer Akribie nicht etwa Dialekte, sondern Dialektgrenzen festzustellen. Für die Initiatoren solcher Unternehmen, die große Summen Geld verschlingen, ist es ein gewichtiges Problem, ob man in einem bestimmten schlesischen Dorf »Kopweh« oder »Kopschmarzen« oder »Kopwiehtun« nicht etwa sagt, sondern gesagt hat. Junge akademische Lehrer werden auf die Fachsprachen der mittelalterlichen Handwerker, Maler, Mediziner oder Alchimisten »angesetzt«. Der Gelehrte, der diese Arbeiten betreut, vergißt natürlich nicht, immer wieder auf die große Bedeutung der mittelalterlichen Fachsprachen für die Gesamtentwicklung der deutschen Sprache hinzuweisen. Und seine Paradebeispiele sind überzeugend.

Man kann verstehen, daß Professoren in Zorn geraten, wenn ihnen die Verfolgung ihrer Partikularinteressen, denen sie Karriere und wissenschaftlichen Ruf verdanken, durch die Gesellschaft erschwert wird. Es kommt hier darauf an, ihnen klar zu machen, daß sie ein weniger angefeindetes und glücklicheres Leben führen können, wenn sie die Richtung ihrer Partikularinteressen mitbestimmen lassen von den Interessen der Studenten und der Gesellschaft. Die heutige Gesellschaft ist schlecht beraten, wenn sie vor allem die Pflege abgelegener Gebiete mit Karriere, Ruf und einer einzigartigen Machtstellung honoriert. Wer in germanistisches Neuland vorstoßen will, verdient natürlich Förderung. Sie darf jedoch nicht darin bestehen, daß andere Menschen von ihm abhängig werden, die die Gewinnung von kargem Neuland als unwichtig betrachten angesichts der fetten Weiden, die ungenutzt zur Verfügung stehen.

Diese Art von freier Forschung und freiem Forscherdasein ist allerdings durch die Forderung nach einem sinnvollen akademischen Unterricht in Gefahr, solange der neulandliebende Einzelgänger auch Studentenmassen unterrichten will und muß. Vieles, was augenblicklich in der Altgermanistik mit großem Arbeitsaufwand getan wird, eignet sich nicht als Gegenstand eines sinnvollen Unterrichts. Aber was hier in Gefahr gerät, ist doch wohl ein Irrweg der germanistischen Forschung. Die Hinwendung zu abgelegenen Gebieten, z. B. zu zweit- und drittrangiger Literatur des Spätmittelalters oder zur althochdeutschen Ortsnamenkunde ist vor allem ein Zeichen der Hilflosigkeit vieler Germanisten gegenüber der diskussionswürdigen Literatur. Die Forscher graben sich in Gebiete ein, wo zunächst einmal Material gesichtet und eventuell eine Edition vorbereitet wird. Nur wenige Auserwählte und Gleichgesinnte können ihnen hier folgen. Hier öffnet sich ein Weg, sich der lästigen Diskussion mit grundsätzlich Andersdenkenden zu entziehen. Der Gelehrte, der seine Vorlesung auf Texte und Sekundärliteratur aufbaut, die kaum einer seiner Hörer gelesen hat, ist vor Kritik verhältnismäßig sicher. Der »Experte« besitzt eine unangreifbare Stellung, wenn der »Laie« mit ihm nur über sein Spezialgebiet sprechen darf. Das Spezialwissen ist oft die Waffe, mit der der Wunsch des Laien nach Kritik und ihr dumpf gefühltes Unbehagen beiseite geschoben wird, etwa nach dem Muster »Dazu fehlen Ihnen die Voraussetzungen ...« oder »Man muß sich jahrelang um diese Frage bemüht haben...« Natürlich leistet dieser Experte dem kritischen Denken Lippendienste und lädt zu Fragen und Einwänden ein. Aber er sorgt doch dafür, daß seine Vorlesungszeit bis zur letzten Minute mit seinen eigenen Ausführungen gefüllt wird, so daß am Ende aus zeitlichen Gründenkeine eingehende Diskussion mehr möglich ist. Das gleiche gilt für Seminarübungen, in denen er die meiste Zeit dem bloßen Verlesen von einem oder gar von mehreren Referaten vorbehält und hartnäckig die Möglichkeit übersieht, daß Referate auch vervielfältigt und einen Tag vor der Seminarsitzung verteilt werden können.

Vorlesungen sind immer noch weithin die Zelebrierung eines oft mühsam erworbenen Spezialwissens, das der Vorlesende nicht grundsätzlich in Frage gestellt sehen möchte. Er hat es nämlich mit saurem Schweiß oft nur deswegen erworben, weil er es selbst nie kritisch in Frage gestellt hat. Furcht vor dem Blick in die Wertlosigkeit und die Ichbezogenheit des eigenen Tuns spielt hier auch mit. Daß Gelehrte, die seit Jahrzehnten diesem Verhaltensmuster folgen, von der Forderung nach einem sinnvollen akademischen Unterricht sich in den Tiefen ihrer Existenz bedroht fühlen, ist verständlich. Sie sind zutiefst erschreckt, weil die Sinnlosigkeit und die Engstirnigkeit ihrer Interessen ans Tageslicht kommen könnte. Was sie fürchten und wogegen sie mit Klauen und Zähnen kämpfen, ist die öffentliche Enthüllung einer Lebenslüge. Sie besteht in der Überzeugung, daß die Fortführung aller Zweige der bisherigen Germanistik ein hohes Gut der Menschheit sei.

Die Autorität des Lehrers beruht heute nicht mehr auf Distanz und priesterlicher Pose, sondern auf Sachkenntnis und Diskussionsbereitschaft. Für die Universitätslehrer bietet sich die Chance, aus dieser Tatsache die praktischen Konsequenzen für den Gesprächs- und Unterrichtsstil zu ziehen. Die Dozenten befinden sich im Irrtum, die glauben, zur Aufrechterhaltung ihrer Autorität »Souveränität« in der Handhabung der Methoden oder gar ein »phänomenales« Wissen vorgaukeln zu müssen - was ja meist nur möglich ist, indem sie sich in ein System von Phrasen und Ausreden einnebeln. Gerade die Phrasenhaftigkeit und unbewußte Unaufrichtigkeit ihrer Argumentation hat ja ihre Autorität untergraben. Die Lehrenden tun sich selbst einen Dienst, wenn sie sich auf eine permanente Diskussion mit den Studenten einlassen. Mit Hilfe studentischer Gesprächspartner kann ihr besseres Ich und ihre Menschlichkeit zum Durchbruch kommen, die so lange unter Standesdünkel, Auserwähltheitsbewußtsein, Überspanntheit der Ziele, übertriebenem Ehrgeiz und unter Anwandlungen von Zynismus und Resignation gelitten haben. Je mehr die Lehrenden in persönlichen Kontakt mit den Lernenden kommen, desto weniger werden sie es nötig finden, brüchige Fassaden unter Berufung auf das wissenschaftliche Niveau und den Leistungsstand mit großer Anstrengung aufrecht zu erhalten. Die Studenten haben großes Verständnis für die Begrenztheit der Fachkenntnisse eines jungen, weltaufgeschlossenen Germanisten mit Familie. Von ihnen geht der Druck nicht aus, der viele unserer Assistenten und jungen Dozenten zu überlasteten und gereizten Arbeitstieren macht. Der Dozent, der auf einem eng begrenzten Gebiet zu menschlich und gesellschaftlich relevanten Fragestellungen vorstößt, tut mehr für die Studenten u n d sein Forschungsgebiet als derjenige, der die Halbheit im Hundertfältigen pflegt.

Hinsichtlich der Verringerung der Distanz zwischen Lehrenden und Studierenden sollte sich die Universität der Schule annähern. Diese Verringerung der Distanz darf aber nicht so aussehen, daß lediglich Tutoren und Akademische Räte das persönliche und kritische Gespräch mit den Studenten führen, während der Professor weiterhin für die Äußerungen in seinen Vorlesungsmonologen von den Studenten nicht belangt werden kann. Es ist ein Mißbrauch einer guten Einrichtung, wenn Tutorenkurse oder Begleitkurse den Professor vor der direkten Kritik der Studenten abschirmen. Das Gespräch ist das kostbarste, was die Universität zu bieten hat. Es in weitem Umfang en Studenten und den unteren Dienstgraden der Universitätshierarchie zu überlassen, verrät Diskussionsunlust und Verantwortungsscheu bei den Herrschenden. Für den akademischen Lehrer genügt es heute nicht mehr, sich allein vor dem Dienstherrn zu verantworten. Der Professor, der das Gespräch mit den Studenten sucht, wird vor allen seinen Hörern in direkter Konfrontation für das gerade stehen wollen, was er in seinem Fachgebiet sagt und tut. Er wird nach der Vorlesung deswegen stets genug Zeit für Zweifel und Fragen zur Verfügung stellen. Er wird Einwände nicht nur widerwillig tolerieren, sondern sie öffentlich honorieren, indem er sie ernst nimmt. Bleiben kritische Fragen aus, so kann der am Gespräch interessierte Dozent den Text seiner Vorlesung vervielfältigen und ihn eine Woche, bevor er sie hält, verteilen, damit die Studenten Zeit haben, Einwände vorzubereiten. Dieses Verfahren läuft natürlich auf eine Ersetzung der Vorlesung durch eine vorbereitete Diskussion hinaus, denn die Verlesung eines Textes, der den Studenten schon bekannt ist, wird bald als überflüssig empfunden werden. Die Zeit für die Verlesung ihrer Texte können die Dozenten einsparen und zur Pflege des Gesprächs verwenden. Wenn sie auf dem Katheder zusätzlich ihr Bekennertum pflegen und ihre Persönlichkeit darbieten wollen, sei ihnen gerne eine gewisse Redezeit vergönnt - solange ihre Bekenntnisse nach der Verkündigung einer Diskussion unterliegen.

Das bedeutet natürlich, daß die selbstherrliche und aggressive Persönlichkeit, die unreflektierte Ressentiments, Vorurteile, Ideologien und Dogmen unter dem Mantel des wissenschaftlichen Lehramtes versteckt an den Mann bringen will, sich plötzlich zur Diskussion gestellt sieht. Es ist kein Wunder, daß hier von einem bestimmten Menschentyp Widerstand geleistet wird. Die unrichtigen Behauptungen von der generellen Unwissenheit, Unreife, Oppositionslust und Arbeitsscheu der Studenten werden hervorgeholt, um den Versuch einer durchgreifenden Änderung des Arbeitsstiles möglichst früh abzuwürgen. Gegen diese Behauptungen darf auf etwas hingewiesen werden, was dem pädagogisch gebildeten Lehrer längst bekannt ist: Es ist seine Aufgabe, Arbeitsfreude zu erwecken und die auf Unwissenheit beruhende Unsicherheit der Schüler zu beseitigen. Wenn ein akademischer Lehrer die Unwissenheit und Arbeitsunlust seiner Studenten beklagt, gesteht er damit vor allem seine eigene Unfähigkeit ein, Interesse zu wecken und Diskussionsgrundlagen in faßlicher Form bereitzustellen. Wenn er den Sinn der von ihm verfolgten Ziele seinen Studenten überzeugend darstellen kann und in Form von Fakten und Fragen Arbeitsmaterial anbietet, stellt sich in der Regel Mitarbeit und Arbeitsfreude ein.

Gegen den eben skizzierten Arbeitsstil wird eingewendet, daß er wegen der ins einzelne gehenden Diskussionsvorbereitung zu viel Lenkung enthalte. Wir glauben nicht, daß die Spontaneität der Diskussion durch gezielte Fragestellungen und durch von einem Fachkenner ausgewähltes Material leidet. Elementare Diskussionsbeteiligung in Form von Zustimmung und Ablehnung ist überhaupt erst möglich, wenn gewisse Ziele und Richtungen präsentiert und in ihrer Tragweite abschätzbar werden. Wenn Positionen erkennbar werden, stellen sich auch Alternativen ein. Die Suche nach Gegenmaterial wird provoziert. Wenn sie von den Lehrenden gefördert wird, vergrößert sich die Chance, etwas zu finden, was man ursprünglich gar nicht gesucht hat. Schöpferisches Denken, Entdeckergeist und freie Forschung wird für den Studenten durch einen klar umrissenen und didaktisch soliden Ausgangspunkt in jedem Fall gefördert, in vielen Fällen überhaupt erst ermöglicht.

[...] Zur Durchsetzung eines sinnvollen akademischen Unterrichts an den deutschen Universitäten stehen den Studenten eine Reihe von Mitteln zur Verfügung. Es ist erfreulich, daß Formulierungen wie »studentische Mitbestimmung in den Seminaren« oder »kollektive Arbeitsweisen« oder »Demokratisierung an der Basis« heute in aller Munde sind. Diese Schlagwörter weisen auf berechtigte Reformforderungen hin. Das beste Mittel, sie durchzusetzen, ist das Bündnis mit den reformwilligen Dozenten. Die realistische, menschenfreundliche und den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen angemessene Germanistik der Zukunft darf auf die Zustimmung der Mehrheit der Universitätsangehörigen rechnen. Das autoritäre, kontaktscheue und menschenverachtende Einzelgängertum ist sich seiner selbst nicht mehr sicher. Es schlägt wild um sich, lacht irr auf, verzweifelt an den Studenten, haut mit der Faust auf den Tisch - und ist sich seiner Zukunftslosigkeit doch bewußt. Viele Dozenten beginnen schon heute, unauffällig eine Änderung ihres Arbeitsstiles durchzuführen, um aus der Schußlinie zu gelangen. Diese Tendenz wird sich ohne jede physische Gewalt verstärken, wenn die Studenten lernen, ihre Forderungen in den einzelnen Fächern und im alltäglichen Seminarbetrieb zu präzisieren. Noch herrscht einige Ratlosigkeit darüber, was eigentlich zu geschehen habe, um »studentische Mitbestimmung in den Seminaren« zu verwirklichen. Noch wagen es die Studenten nicht, sich das stumpfsinnige Verlesen von Referaten zu verbieten. Noch warten sie in den Seminaren geduldig und meist vergeblich ein ganzes Semester lang darauf, daß die menschliche und gesellschaftliche Relevanz eines Themas geklärt werde. Noch bestehen die Studenten nicht darauf, vor Beginn eines Seminars vom Dozenten auf diskussionswürdige Alternativen hingewiesen zu werden. Noch ist zu wenig bekannt, daß eine »kollektive Arbeitsweise« nicht nur die Konstituierung einer autoritätsfeindlichen und menschenfreundlichen Gruppe voraussetzt. Jede Gruppenarbeit ist themagebunden. Erregende Fragestellungen müssen im Mittelpunkt stehen. Wenn sie nicht aus der Gruppe kommen, kann und soll sie solche Fragestellungen vom Fachkenner verlangen und sein Angebot prüfen. Noch wagen es viele Dozenten ungehindert, ihre eigene Meinung als Selbstverständlichkeit zu präsentieren und gegenteilige Meinungen zu ignorieren. Sie brauchen offensichtlich einen Anstoß, um eine größere Distanz zu ihren Lieblingsgedanken zu gewinnen. Studenten, die ohne umfangreiches Fachwissen bei der Gestaltung eines Seminars mitwirken wollen, müssen realisierbare Alternativen anbieten können. Nur so ist eine sinnvolle Mitbestimmung denkbar. Wenn weder die studentische Arbeitsgruppe noch der Dozent in einem Thema umstrittene Fragen entdecken, die zu Entscheidungen herausfordern und den Menschen als Person zur Geltung kommen lassen, muß diese Lage durch hartnäckiges Fragen bewußt gemacht und das Thema gegebenenfalls als unfruchtbar zurückgewiesen werden.

[...] Der Krampf der Überforderung, von dem Dozenten, Assistenten und Studenten heute gleichermaßen befallen sind, wird sich jedenfalls lockern. Die Schaumschlägerei wird unter den kritischen Fragen aller Interessierten entlarvt werden können. Das hohle Pathos und das gefühlige Gerede wird in der Sonne der rationalen Kritik vertrocknen. Die Gemeinschaft der germanistischen Universitätsangehörigen wird insgesamt etwas ehrlicher, etwas nachdenklicher und etwas rücksichtsvoller werden. Bevor man sich verbissen in die Arbeit stürzt, wird man Rechenschaft fordern und geben über die Durchführbarkeit und den Gewinn eines Projekts für das arbeitende Individuum und für die Gesellschaft. Es wird nicht mehr möglich sein, daß ein Vortrag vor Fachkollegen über die Behandlung der mittelalterlichen Dichtung an den höheren Schulen folgendermaßen anhebt: »Es kann nicht Aufgabe dieses Referats sein nachzuweisen, daß die mittelalterliche Dichtung auch für unsere Zeit noch Wert und Bedeutung habe, da ihr Wert und ihre Bedeutung fraglos außer aller Zeit und über alle Zeit hinweg eigenständig und unersetzlich in sich zu bestehen vermag. Zu fragen haben wir vielmehr danach, wie die Schule ihre Aufgabe, diesen Besitz gegenwärtig und unverlierbar zu erhalten, erfüllen kann.«

Aufgaben zur Textanalyse:

  1. Suchen Sie die für diesen Text konstitutiven (bestimmenden, wichtigen) Wörter und Wendungen. Erstellen Sie eine entsprechende, mit deutschen Erklärungen (Interpretamenten) versehene Wortliste.
  2. Ordnen Sie das lexikalische Material des Textes nach Zugehörigkeitsgruppen.
  3. Untersuchen Sie Satzbau und Stil des Textes.
  4. Zum Inhalt:
    - Worum geht es hier?
    - Welches ist das Anliegen des Autors?
    - An welche Zielgruppe wendet / richtet sich der Text?
    - Formulieren Sie Thesen zum Inhalt.
    - Schreiben Sie einen kurz zusammenfassenden Abstract.
    - Referieren Sie den Inhalt mit eigenen Worten und versuchen Sie eine kritische Stellungnahme / Interpretation.

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