INT. SOMMERKURS DER PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR UND MEDIEN Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser Text 6: Hans Magnus ENZENSBERGER (* 1929): Die Bewußtseinsindustrie (in: Wort und Sinn, Lesebuch für den Deutschunterricht /Oberstufe, Paderborn 1971, 503-505) 1 Kritiker pflegt man wie Obst zu sortieren und in Handelsklassen geschieden auf den Markt zu bringen, als Gesellschafts-, als Kultur-, als Buch-, als Filmkritiker; und so fort. Jeder dieser Namen scheint mir eine Schar von Urteilen und Attitüden ins kritische Geschäft ein- 5 zuschleppen, die selten deklariert, meistens stillschweigend voraus- gesetzt werden. Der Gesellschaftskritiker, als Unteroffizier einer intellektuellen Heilsarmee, hat eine Vorliebe für Slums, verabscheut den Wohlstand und hält Sattheit für ein Laster. Der Kulturkritiker läßt schlechte Laune am Kaugummi und an der Rechenmaschine aus, miß- 10 billigt die Perfektion der Technik und den Verlust der Mitte und hält sich die Ohren zu, wenn er Jazzmusik hört. Der Buchrezensent würdigt echte Werte und legt zeitlose Maßstäbe an. Der Filmkritiker geht ins Kino. Auf diese Art und Weise schafft man sich Kritik schon vom Halse, indem man sie tauft; indem sie auf die Namen hört, die man ihr gibt, 15 wird sie zu ihrem eigenen Surrogat. Ich halte dafür, daß die kritische Position unteilbar ist. Sie gäbe sich selber preis, ließe sie sich auf eine Sparte ihres Gegenübers reduzieren. Zu den großen, nie wieder auszulöschenden Folgen der Französischen Revolution gehört es, daß fortan jede Herrschaft von 20 der Zustimmung der Beherrschten abhängig ist; sie muß nach dieser Zustimmung trachten, sie muß sich unablässig selbst rechtfertigen auch dort noch, wo sie sich auf die Gewalt der Waffen stützt. Das Bewußtsein, das der einzelne sowie das Gemeinwesen von sich selber hat, ist damit zum Politikum geworden. Eine ganze Industrie ist ent- 25 standen, die nicht Güter, sondern Bewußtsein erzeugt und verändert. Sie heißt gemeinhin Kulturindustrie; aber dieser Name ist irreführend. Er verharmlost das Phänomen, indem er es ins Feuilleton verweist. Die Bewußtseinsindustrie hat den Umkreis dessen, was bei uns Kultur heißt, längst gesprengt. Journalismus und Reklame, Public relations und Pro- 30 paganda, die großen Medien Film, Funk und Fernsehen gehören ihr an; Tourismus, Mode und "Gestaltung" [Design] sind einige ihrer periphe- ren Sparten; ihr Kernstück wird eines Tages die Erziehung sein, deren Industrialisierung in unseren Tagen erst beginnt. Je weiter sich die Produktion materieller Güter ausdehnt, je müheloser sie uns mit dem 35 Notwendigen versorgt, desto deutlicher wird sich zeigen, daß die Be- wußtseinsindustrie zur eigentlichen Schlüsselindustrie der Moderne geworden ist. Ihre Zweideutigkeit liegt darin, daß sie Bewußtsein, Urteil, Fähigkeit zur Entscheidung bei einem jeden Bürger voraussetzt und sie zugleich, im Dienste der Herrschaft, zu neutralisieren geneigt 40 ist. Sie degeneriert vollends zu einem Instrument des Zwanges, wenn sie nicht einer ständigen Kritik ausgesetzt wird. Diese Kritik verliert ihren Sinn, wenn sie die Bewußtseinsindustrie in Bausch und Bogen verwirft, wenn sie nicht mit der Möglichkeit rech- net, daß die Funktion der großen Beeinflussungsapparate veränderlich 45 sei. Sie bedarf also eines utopischen Horizonts. Andererseits darf sie sich mit allgemeinen Perspektiven nicht zufriedengeben. Sie bleibt unverbindlich und wird zum Abiturientenaufsatz, wenn sie den Wider- stand des Details scheut. Sie wird sich also auf "Einzelheiten" ein- lassen müssen, die stellvertretend fürs Ganze sind. Dabei kommt es 50 darauf an, Methoden zu entwickeln, die auf andere Gegenstände über- tragbar sind und die zu einer kritischen Beobachtung der Bewußtseins- industrie überhaupt auffordern. Essay und Glosse, Analyse und Polemik sind bei dieser Arbeit Formen von gleichem Recht und gleicher Würde. Die Bewußtseinsindustrie ist aber kein perpetuum mobile, sie ist auf 55 die Zufuhr produktiver Energien allemal angewiesen. Eine ihrer wich- tigsten Energiequellen ist die Literatur. Literatur und Bewußtseins- industrie sind einander Partner und Feind zugleich, es findet zwischen ihnen ein höchst kompliziertes, aufs äußerste gespanntes Verhältnis statt. Verloren wäre eine Literatur, die auf ihre eigene Verbreitung 60 verzichten wollte, eine Literatur aber, die sich als bloße Lieferan- tin der Industrie ausliefern würde, wäre gerichtet. Ohne Einsicht in diese Zusammenhänge und Gefahren kann die neueste deutsche Literatur nicht richtig studiert und beurteilt werden. Aufs äußerste aber spitzt sich die Dialektik von Bewußtseinsindustrie und schöpferischer Arbeit 65 im Dasein der Poesie zu, sie unterliegt, wie jede geistige Äußerung, den Zwängen des historischen Augenblickes, die sie zugleich transzen- diert. Ein Buch, das sich im einzelnen, geduldig, in verschiedenen Formen, aus verschiedenen Anlässen, von verschiedenen Seiten her an diese 70 schwierigen Sachen macht, wird nichts "bewältigen" und nichts aus den Angeln heben. Seine Kritik hat nicht revolutionäre, sondern revisio- nistische Absichten; sie will ihre Gegenstände nicht liquidieren, son- dern der Revision, dem zweiten und genaueren Blick aussetzen. Sie ver- traut darauf, daß ein erwachtes Bewußtsein auf die Dauer nicht zu ma- 75 nipulieren ist; ja, daß eine Industrie, die das versucht, dem Zauber- lehrling ähnlich, Kräfte zitiert und in Bewegung setzt, denen sie nicht gewachsen ist. Der historischen List des Bewußtseins möchte die Kritik zu Hilfe kommen. Es gibt in der heutigen Gesellschaft mächtige Instanzen, die da meinen, Bewußtsein ließe sich auf Flaschen ziehen. 80 Zuweilen aber mag der unscheinbare Handgriff eines Machtlosen genügen, um die Flaschengeister zu befreien. -------------- Aufgaben: vergleiche hierzu die anderen sozial- und medienkritischen Texte. Eine DISKUSSION zu obigem Thema könnte den Unterschied zwischen dem Buch und den elektronischen Medien herausarbeiten in bezug darauf, w i e diese Medien die jeweiligen Epochen und deren Pro- bleme verarbeiten und wie sie ihre Zeitkritik "anbringen". Denken wir an die REMMERS'sche Ironie vom "Zweitbuch", so könnten wir uns natürlich fragen, ob heute, angesichts des allgegenwärtigen BILD- SCHIRMs (vgl. Text 1) und der Interessenlage der "Massen" (-> JAS- PERS), das Buch überhaupt noch eine Chance hat und, wenn ja, wie und zu welchem Zweck es sie optimal nutzen könnte. (c) WN 19061993