Dr. Wolfgang Näser: Wörter und Wendungen in aktuellen deutschen Zeitungstexten * SS 1998
Deutschlands Ausscheiden (0:3 Kroatien) in der Fußball-WM im Spiegel der Presse:
Text 8a
Deutsche Nationalmannschaft scheidet aus der WM aus
Kroatien trifft im Halbfinale auf Frankreich
DW Berlin Nach einem 0:3 gegen die kroatische Nationalauswahl in Lyon ist das deutsche Team im Viertelfinale ausgeschieden. Nach einer Roten Karte gegen Christian Wörns konnte die kroatische Elf ihre räumliche Überlegenheit ausnutzen ohne Glück blieb die Entscheidung des Bundestrainers, im letzten Moment alles auf den Angriff zu setzen. Mit diesem Spiel beendeten sowohl Kapitän Jürgen Klinsmann sowie Abwehrspieler Jürgen Kohler ihre Karriere als Nationalspieler.
DIE WELT, 6.7.98
Text 8b
Noch einmal gerannt, noch einmal gegrätscht - vergebens
Am Platzverweis zerbrach das zuvor gute Spiel der deutschen
Mannschaft - Bilic: "Es war kein böses Foul, eher falsches Timing"
Von JÖRG HUNKE
Lyon - Nur zur Erinnerung: Es war die deutsche Mannschaft, die sich
fürchtete vor den harten Strafen für Fouls bei der Weltmeisterschaft.
Bundestrainer Berti Vogts und die Spieler hatten Angst, daß sie ihre
Vorstellung vom Fußball mit Einsatz, mit Körperkontakt und
Zweikämpfen aufgeben müßten. Schiedsrichter Bernd Heynemann
flog ins Trainingslager nach Finnland, schulte die Mannschaft.
Vier Spiele lang ging alles gut, dann traf Christian Wörns seinen kroatischen Gegenspieler Davor Suker nach 40 Minuten am Schienbein und wurde vom Platz gestellt. Ein Foul, das die Deutschen aus dem Tritt brachte. Sie stolperten mit einer 0:3-Niederlage aus dem Turnier.
So mußte die Dienstreise in Frankreich wohl enden. Die Mannschaft hatte gekämpft bei diesem Turnier, auch in ausweglosen Situationen nicht aufgegeben. Noch einmal gegrätscht, noch einmal gerannt, noch einmal den kräftigen Körper in den Weg gestemmt. Das Spiel war auf Athletik, auf Zweikämpfe ausgerichtet, weil die Deutschen Nachteile hatten, wenn sie versuchten, ihre Gegner auszutricksen.
Spielerischer Leichtigkeit setzten sie Wucht entgegen. Nach den Siegen wurde von der Willenskraft gesprochen, von Einsatzbereitschaft, von deutschen Tugenden. Diesen sogenannten Tugenden zeigte der norwegische Schiedsrichter Rune Pedersen die rote Karte.
Im modernen Fußball werden die Grätscher ausgeschlossen, bleibt
kein Platz für einfache Arbeiter, der Weltverband
(Fifa) ist auf Schmusekurs gegangen, schützt die Künstler.
Das Spiel hat
Bis zum Platzverweis vermittelte die Mannschaft den Eindruck, als sei sie
mit einiger Verspätung und einigen Umwegen endlich angekommen bei der
Weltmeisterschaft in Frankreich. Die Aufgaben waren klar verteilt, die
Selbstzweifel verflogen, die Deutschen wußten, was sie wollten, und
so spielten sich auch. Hübsch anzusehen. Bis Wörns
die Hoffnungen mit Füßen trat.
Sekunden später erschien im französischen Fernsehen eine Karikatur.
Die rote Karte wurde zum Fallbeil für einen am Boden
liegenden deutschen Spieler, die Hoffnung starb, als Robert Jarni
Sekunden vor der Pause das 1:0 erzielte.
Die rote Karte sei eine Unverschämtheit gewesen, schimpfte Bundestrainer
Berti Vogts und ärgerte sich über die provokante Art der Kroaten.
Die Spieler sprachen von einer "klaren Fehlentscheidung" (Lothar Matthäus)
oder von einem "Foul, das in jedem Spiel zehnmal vorkommt" (Jürgen Kohler).
Bessere Worte fand der Kroate Slaven Bilic. "Es war kein böses Foul,
eher falsches Timing von Christian Wörns. Und dann hat Suker seinen
Job erfüllt." Er fiel auf den Rasen und stand erst wieder auf, als
Wörns den Platz verlassen mußte.
Doch die Niederlage allein auf einen Pfiff des Schiedsrichters
zurückzuführen, auf einen ungeschickten Zweikampf, das wäre
zu einfach. Oft genug haben Mannschaften mit einem Spieler weniger gewonnen.
Doch die Idee von Vogts, immer Überzahl am Ball zu schaffen, viel zu
laufen, um den Gegner in die Enge zu treiben, konnte im Viertelfinale nicht
mehr funktionieren. So viel Kondition hat nicht einmal der dreimalige
Weltmeister.
Den deutschen Spielern fehlte die technische
Qualität, Ballbesitz über einen längeren Zeitraum zu
sichern, schöpferische Pausen einzulegen, den Gegner zu überraschen.
Sie gaben den Ball oft freiwillig her, weil sie glaubten, daß sie ihn
schnell zurückbekommen würden. Gegen die geschickten Kroaten
funktionierte diese Spielweise nicht mehr.
Trotzdem gaben sie nie auf, erarbeiteten sich durch Oliver Bierhoff und Dietmar
Hamann, der mit einem Freistoß nur den Pfosten traf, sogar gute Chancen,
den Ausgleich zu erzielen. Doch diesmal fehlte die
Präzision, das kalte Herz im
Abschluß. Zwei Jahre lang hatte die Mannschaft kaum Torchancen
benötigt, um erfolgreich zu sein, an diesem Abend erlaubte sie sich
den Luxus, die Fehler des Gegners nicht zu bestrafen.
In der Vergangenheit hatte Vogts oft Glück, das Spiel frühzeitig
durchschaut und die richtigen Spieler eingewechselt zu haben. Diesmal erzielte
Goran Vlaovic den zweiten Treffer nach 80 Minuten, kurz zuvor hatte Vogts
mit Olaf Marschall den vierten Stürmer eingewechselt (zuvor schon den
Leverkusener Ulf Kirsten).
Auf Bewährtes konnte sich die Mannschaft nicht mehr verlassen an diesem
Abend in Lyon. Jürgen Klinsmann konnte als Kapitän niemandem helfen,
Thomas Häßler verließen frühzeitig die Kräfte,
und Andreas Möller hatte sein Selbstvertrauen schon vorher verspielt.
Lothar Matthäus und Jürgen Kohler versuchten, die Mannschaft zu
retten. Doch auch sie sind zu alt. Wie auch ihre Art,
Fußball zu spielen. So konnten sie vor acht Jahren ihre Gegner
überraschen und Weltmeister werden, doch die Zeiten
haben sich geändert. Auch auf dem Fußballplatz.
Nur, die Erkenntnis kommt zu spät.
© DIE WELT, 6.7.1998
Text 8c
Verbrauchtes Glück
Von Ludger Schulze
Auch das gehört zu einer Fußball-Weltmeisterschaft: die mit dem
Abpfiff einsetzende Trauerarbeit der
Anhängerschaft. Still in sich hineinweinende oder laut schluchzende
Menschen setzen den emotionalen Schlußpunkt,
und sie zeigen, wie tief ihnen das Schicksal ihrer Lieblinge ans Herz geht.
Die deutschen Fans hingegen haben das Stade Gerland von Lyon verlassen wie
ein Museum moderner Kunst: ein bißchen ratlos und
bedröppelt, aber auch fast ein wenig
erleichtert, daß der Besuch ’rum ist. Eine
Träne in schwarz-rot-gold war nicht zu sehen.
Das Publikum hatte begriffen. Denn das
Ausscheiden der Deutschen liefert keinen Stoff für
Legenden, es korreliert genau mit den Möglichkeiten. Bei diesem
Turnier durfte sich das DFB-Team unter die besten Acht einreihen, während
andere, etwa die hochgelobten Spanier, die jugendfrischen Engländer,
die künstlerischen Jugoslawen oder die ballverliebten Nigerianer schon
im Achtelfinale oder früher gehen mußten. Die Auswahl von Berti
Vogts hat in der ersten Hälfte gegen die Kroaten ihre weitaus beste
Darbietung gezeigt, gewiß. Aber in Anbetracht der Vorleistungen hätte
sie unter den vier besten Mannschaften der Welt wenig verloren gehabt, dorthin
wäre die Auswahl von Berti Vogts nur durch ein Übermaß an
günstigen Fügungen gelangt. Sie hat die sogenannten deutschen Tugenden
eingebracht, Kampfgeist und Behauptungswillen, viel mehr stand ihr nicht
zur Verfügung. Und das Glück, treuer
Begleiter des DFB-Teams über Jahrzehnte, war diesmal
aufgebraucht.
Wer ist dafür verantwortlich? In 16 Ländern hat man diese Frage
in gewohnter Art entschieden. Dort mußte der Trainer gehen, oder er
hat freiwillig die Konsequenz gezogen. Was hat Berti Vogts falsch gemacht?
Bei intensiver Fehlersuche wird man fündig. Er selbst hat einen Fehlgriff
dadurch eingestanden, daß Steffen Freund nicht eine Minute auf dem
Rasen zutraute. Mehmet Scholl mitzunehmen wäre die bessere Wahl gewesen.
Vogts hätte möglicherweise seinen Stammlibero Olaf Thon nicht opfern
sollen, und vielleicht wäre er in der einen oder anderen Partie mit
einer anderen Auswechslung besser beraten gewesen. Aber das wär’s dann
auch schon. Berti Vogts hat gute Arbeit geleistet, wenngleich sein Abschied
von der WM recht kleinkariert ausfiel. Man kann ihm kaum fachliche Mängel
anhängen. Dafür, daß die Bundesliga keine jüngeren,
stärkeren Spieler ausbildet, darf man ihn nicht büßen lassen.
Der DFB hat keinen Anlaß, seinen Cheftrainer vor
die Tür zu setzen. Und Berti Vogts selbst hat bereits
angekündigt, daß er seine Tätigkeit von sich aus nicht beenden
wird.
Das ist vernünftig. Denn die Aufgabe eines beinahe kompletten Neuaufbaus
der Nationalmannschaft erfordert geradezu herkulische Kräfte. Die kann
der künftige Bundestrainer nur in einem milden Klima
reduzierter Erwartungen aufbringen. Mit seiner
Rentnerband hat der deutsche Fußball im Konzert
der ganz Großen noch ein paar Takte vor dem großen Finale mitspielen
können; eine Nachwuchscombo aber wird lange üben
müssen, um den Gleichklang mit der Weltspitze zu erlangen. Wird
das erfolgsverwöhnte deutsche Publikum die notwendige Geduld mit den
Eleven aufbringen und deren Lehrern? Wird es die Mängel der Jungen
tolerieren und akzeptieren, daß sich das Nationalteam, anders als in
bisheriger schöner Regelmäßigkeit, möglicherweise einmal
nicht für ein internationales Turnier qualifiziert?
Vieles spricht dafür, den Neubeginn mit einem unverbrauchten Mann zu
wagen. Aber noch mehr spricht für Vogts. Seine Fähigkeiten als
Förderer von Talenten sind unbestritten, das Nachwuchskonzept für
die kommenden Jahre stammt aus seiner Feder. Die gesamte Organisationsstruktur
des Deutschen Fußball-Bundes ist auf Berti Vogts zugeschnitten; ein
neuer Mann stünde auch strukturell vor der Stunde
null.
Eine denkbare Lösung freilich könnte in der Zusammenarbeit eines
Herrn X mit dem jetzigen Cheftrainer bestehen. Gelänge es dem DFB, einen
Mann von Charakter und Reputation eines Jupp Heynckes in der Rolle des
sportlichen Leiters mit seinem einstigen Mönchengladbacher Kumpel Berti
Vogts als Supervisor des deutschen Fußballs zusammenzuspannen, wäre
dies ein absoluter Glücksfall.
Wer immer die Geschicke der Nationalmannschaft lenken wird, eines wird er
verinnerlichen müssen: die goldenen Jahre des deutschen
Fußballs sind vorbei; Niederlagen gehören zum Sport
auch für die Deutschen.
Text 8d
"So jammern nur schlechte Verlierer - Jetzt schieben sie alles auf
den Schiri und die FIFA"
0:3 gegen Kroatien verloren, das Ende einer schlechten WM für Deutschland
kam schon im Viertelfinale. Und danach waren Bundestrainer Berti Vogts
und seine Spieler auch noch schlechte Verlierer. Es gab Vorwürfe
und Verdächtigungen in Richtung Schiedsrichter und FIFA! Hört
bloß auf zu jammern - ihr habt einfach schlecht gespielt!
Niederlagen bei einer WM hinterlassen Narben und setzen Emotionen frei. In
der Hitze der Nacht ist vieles verständlich und verzeihlich. Nicht aber,
wie sich die Deutschen nach dem 0:3 gegen Kroatien aufführten.
So jammern nur schlechte Verlierer!
Den Anfang machte Berti Vogts. Endlose Minuten vergingen, bis der Bundestrainer
in den Katakomben des "Stade Gerland" von Lyon auf das Podium kletterte.
Plötzlich waren der Weltverband
Vogts nagelte los: "Möglicherweise hat es irgendwelche Anweisungen
gegeben. Vielleicht ist der deutsche Fußball zu erfolgreich gewesen
und sollte jetzt bestraft werden."
Und noch krasser: "Wenn es einen Schuldigen gibt, dann ist er nicht bei meinen
Spielern zu suchen. Andere können spucken, kratzen, beißen. Bei
uns interessiert das nicht."
Dabei wußte jeder auf dem Platz seit dem ersten WM-Spiel, daß
solche Fouls wie das von Wörns mit Rot bestraft werden. Aber gestern
legte Vogts sogar noch nach: "Es wurden sehr seltsame Entscheidungen gegen
uns gefällt. Ein brutales Foul von Roberto Carlos gegen Dänemark
wurde nicht bestraft. Aber die Brasilianer tragen ja gelbe und wir weiße
Trikots. Die der Erfolgreichen.."
Bringt der Bundestrainer da nicht etwas durcheinander? Brasilien ist Weltmeister
und das "erfolgreiche" Deutschland flog 1994 ebenfalls schon im Viertelfinale
raus.
Also nichts als plumpe Verdächtigungen. Doch den Paß, den Vogts
einmal gespielt hatte, nahmen seine Profis gekonnter auf als zuvor auf dem
grünen Rasen.
So wütete Lothar Matthäus: "Suker war nur darauf aus zu provozieren.
Hat 90 Minuten lang Rot gefordert. Nicht nur gegen Bierhoff. Hat beim dritten
Tor vorher die Hand zu Hilfe genommen und dafür nicht mal Gelb gesehen.
Eine Frechheit, daß ein Schiri, der zuhause in Norwegen nur drittklassige
Spiele leitet, bei einer WM pfeifen darf."
Jürgen Kohler: "Wieso werden immer nur wir Deutsche betrogen?
Schöne Grüße an die Herren aus der Schweiz."
Die schüttelten über das deutsche Gezeter aber nur den Kopf.
FIFA-Sprecher Andreas Herren gestern: "Der Vorwurf der Mauschelei ist absolut
aus der Luft gegriffen." FIFA-Pressesprecher Keith Cooper eisig: "Vogts
hätte diese Dinge wohl kaum gesagt, wenn er einige Minuten länger
nachgedacht hätte."
Peinlich auch dies: Bundeskanzler Helmut Kohl war der einzige Deutsche
in Lyon, der den Kroaten öffentlich zu ihrem Sieg gratulierte.
Was denen auch sauer aufstieß. Sie reagierten mit Hohn und Spott.
Torjäger Davor Suker: "Ein Dankeschön an Berti Vogts. Mit seinen
Aussagen, kroatische Spieler würden zu provokativer Spielweise neigen,
hat er unsere Motivation um 200 Prozent erhöht."
Suker gab allerdings augenzwinkernd zu, daß Kroatiens Taktik schon
darauf angelegt war, deutsche Fouls zu provozieren. Danach aber gleich wieder
dies: "Warum lamentieren die Deutschen jetzt über den Schiri? Haben
sie nach unserem Ausscheiden bei der EM 1996 auch nicht getan."
Doch auch Kroatiens Verbandspräsident leistete sich einen peinlichen
Fehltritt. Branko Miksa jubelte: "Heute ist Berlin gefallen."
Es gibt also auch schlechte Sieger...
Quelle: BILD Hamburg, 6.7.98 [Re-edited 6.7.98
WN]
WN 07071998
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FIFA und der norwegische Schiedsrichter Rune Pedersen fürs Ausscheiden
verantwortlich.
Aufgaben zu [8a] bis [8d]: