Fragen und Antworten zur erneuten Rechtschreibreform-Diskussion

Entwurf von Wolfgang Näser (Marburg), 11. August 2004

  1. Der Spiegel und der Axel-Springer-Verlag ließen verlauten, dass sie zur alten Schreibform zurückkehren wollen. Wie bewerten Sie die Entscheidung 6 Jahre nach Inkrafttreten der Rechtschreibreform?
    * Es ist nie zu spät dafür, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Außerdem sind im Primarschulbereich, wo die Grundlagen der Rechtschreibung vermittelt werden, nicht allzuviele Regeln zu revidieren. Nach lernpsychologischen und physiologischen Erkenntnissen ist gerade bis zum 10. Lebensjahr das menschliche Gehirn am aufnahme- und leistungsfähigsten, so daß die Schüler nicht überfordert werden. Außerdem geht es, und das wird bewußt übersehen, bei der Rechtschreibreform nicht um einen reduzierten Bereich, sondern um alle Gebiete und Nuancen der deutschen Sprache. Die, die heute in der Grundschule Deutsch lernen, wollen und sollen auch später, wenn sie sich viel elaborierter und differenzierter ausdrücken, eine Sprache verwenden, die sich in über 1.200 Jahren zu einem kunstvollen Instrument entwickelt hat.
  2. Warum gedeiht die Debatte um die Rechtschreibreform in diesem Ausmaß so spät?
    * Weil viele Verantwortliche es versäumt haben, sich rechtzeitig einzumischen und definitiv Partei zu ergreifen; andere, die wie ich jahrelang gegen die Reform angekämpft und das Gefühl gewonnen hatten, wie Don Quixote gegen Windmühlenflügel zu kämpfen, haben resigniert. Gegen Dummheit kämpfen selbst Götter vergebens, sagt man.
  3. Wie bewerten Sie als Philologe/Germanist die Rechtschreibreform?
    * Grundsätzlich negativ. Wie ich in meiner Website aufgezeigt habe, gehen viele wertvolle Differenzierungs-Signale verloren, die Behandlung der Eigennamen (z.B. die grimmschen Märchen) und Fremdwörter (Latinlover, Standingovations) ist nicht gerade kulturvoll, durch Inkonsequenzen der Zusammen- und Groß-/Kleinschreibung wird Konfusion geschaffen. Übrigens waren in der Anfangszeit noch verheerendere Reformen angedacht, so wollte man die Konjunktion daß künftig d-a-s schreiben. Und ich sehe auch weder Sinn noch Vernunft darin, wie vorgeschlagen in einem Brief die Anrede "Sie" klein zu schreiben, weil das möglicherweise Verwirrung anrichtet.
  4. Ist es nun sinnvoller, die Reform zu reformieren? Oder sollte man gleich ganz zur alten RS zurückkehren?
    * Jedes weitere Herumbasteln kostet Zeit und vor allem Geld - denken Sie nur an die vielen teuren Gremiensitzungen und die damit verbundene Logistik in den letzten rund zehn Jahren. Man sollte zur sogenannten klassischen Schreibung zurückkehren. Das Argument, dies sei zu teuer, zählt nicht. Es war ja auch nicht zu teuer, schon neue Bücher drucken zu lassen, als längst noch nicht klar war, daß bzw. ob sich die Reform letztendlich durchsetzen würde.
  5. Was Ist Ihr Eindruck: Wie ist die Mehrheitsmeinung unter den Germanisten (Verlage, Schriftsteller, Intellektuelle eindeutig positioniert?)
    * Die Meinung zur Reform richtet sich z.T. danach, welche Interessen mit der Durchsetzung gekoppelt sind. Für viele Verlage, vor allem Wörterbuchverlage, war die Reform ein großes Geschäft. Die Schriftsteller wurden sich zu spät der Konsequenzen bewußt. Die Intellektuellen waren teils zu abgehoben oder zu weltentrückt, um sich einmischen zu können. Die Politiker machten die Reform mindestens teilweise zur Machtfrage. Jetzt, wo nicht nur das kulturelle Aushängeschild FAZ, sondern auch der Spiegel und der Axel-Springer-Verlag endlich zur bewährten klassischen Rechtschreibung zurückkehren, handelt die Kultusbürokratie in einer Mischung aus Naivität, Einfalt und kindlicher Obstinatheit; und wenn Doris Ahnen behauptet, das deutsche Volk habe andere Sorgen als per Referendum über die Reform zu entscheiden, dann dokumentiert sie mit ihrer Äußerung die bereits bekannte Angst führender Politiker vor der Volksmeinung und einen arroganten Umgang mit der Macht, die, wie das Beispiel Schleswig-Holstein seinerzeit bewies, den Volkswillen brutal ignoriert und mit Füßen tritt.
  6. Die Reform hatte ja durchaus auch logische Korrekturen vorgenommen, wie z.B. Wortstammableitungen wie "nummerieren" oder "platzieren" oder das am häufigsten genannte Bsp. Auto fahren und radfahren. Weshalb sollte man dennoch zur alten Schreibweise zurückkehren?
    * Nummerieren kommt von lateinisch numerus, und das wird mit einem /m/ geschrieben. Plazieren ist aus dem Französischen abgeleitet (placer, placement); Auto fahren und Rad fahren sollten entweder beide zusammen oder getrennt geschrieben werden. Solche Änderungen entstehen aus dem Sprachgebrauch und verfestigen sich ebenso wie die Tatsache, daß wir nach "trotz" heute auch den Dativ gebrauchen. Das sind aber nur marginal wichtige Beispiele. Zu wesentlicheren verweise ich auf den Duden-Text in meiner Website: rs-duden.htm. Ich weiß nicht, ob Sie die vorgeschlagene primitivdeutsche Schreibung Portmonee gut finden oder Krepps (mit 2 p) für Crepes oder ob sich Ihnen nicht auch da der Magen umdreht.
  7. Wie können ausgewiesenen Fachleuten solche Fehler unterlaufen? Bsp.: wohl verdient, nichts sagend...  
    * Weil viele sogenannte Fachleute und Medienmacher die deutsche Sprache nicht im erforderlichen Maße beherrschen. Beispiele: der philosophische Fakultätentag (wer ist hier philosophisch?); die Verbesserungsvorschläge der Reform (wer verbessert hier wen?), der Testversuch, das exemplarische Beispiel, die Rückfront (Rückvorderseite), das unreflektiert nachgeplapperte realisieren für 'erkennen, sich bewußt werden', das absolute Partizip: kaum zurückgekommen, dauerte die Paßkontrolle unverhältnismäßig lang usw. Kurzum: es fehlt allerorten an Sprach-Bewußtsein. Und warum? weil dieses an Schulen so gut wie nicht mehr, an Universitäten zu wenig vermittelt wird. Sonst gäbe es nicht das schockierende Phänomen, daß, wie von mir schon vor 28 Jahren beobachtet, einige Deutsch-Lehramts-Studentinnen im 6. Fachsemester nicht einmal den Unterschied zwischen Haupt- und Nebensatz kannten.
  8. Wie kann beispielsweise Sechstklässlern vermittelt werden, dass sie demnächst wieder anders schreiben müssen, als jahrelang erlernt? Sind weiterhin die Kosten für neu zu druckende Bücher so gering, dass kein finanziell übermäßiger Kraftakt unternommen werden muss?
    * 1. Wie schon gesagt, sind nicht allzuviele Regeln umzulernen und ist das kindliche Gehirn extrem leistungsfähig. Viele Kinder kennen ja schon im Grundschulalter -zig Automarken und hunderte von Popstars auswendig. Japanische Kinder müssen in diesem Alter mindestens 2.000 Kanji-Zeichen lernen, dazu noch die Silbenschriften Katakana und Hiragana, und niemand hält das dort für eine Überforderung. Andere Kinder wachsen zwei- oder sogar dreisprachig auf und meisternn diese Herausforderung spielend.
    2. Außerdem gibt es noch alte Schulbücher, wenn sie nicht in dem für Deutschland typischen vorauseilenden Gehorsam voreilig vernichtet wurden. Außerdem ist alles relativ. Ein Eurofighter kostet 230 Millionen Euro, ein Uboot der U31-Klasse 500 Millionen Euro, deren Anschaffung stört offenbar niemanden, und da sind die paar (kleingeschrieben!) Millionen für Schulbücher doch Peanuts.
  9. Wie ist Ihre Prognose über die weitere Vorgehensweise in der Angelegenheit Rechtschreibreform?
    * Eine eindeutige Prognose läßt sich hier nicht stellen. Entscheidend ist das Verhalten der sogenannten Kultusbürokratie, d.h. ob hier Einsicht geübt oder weiterhin gemauert wird. Des weiteren sollten alle Verantwortlichen sich einmischen und Flagge zeigen, auch wenn dies der Karriere nicht immer nützt. Es kann nicht so weitergehen, daß z.B. in einer Universitätsstadt wie Marburg mit rund 19.000 Studenten nur wenige wie ich aktiv gegen die Reform angehen und man sich in einer Eliteschule wie dem Gymnasium philippinum vornehm zurückhält. Gedankenlosigkeit tötet, heißt es. Die deutsche Sprache ist unser wichtigstes Kulturgut. Wer damit umgeht wie mit einem alten Putzlappen, handelt zumindest in dieser Hinsicht als Totengräber unserer Kultur.

28.7.2000 Hans Magnus Enzensberger schreibt in der FAZ:
"Auch Ministern sollte man, eingedenk menschlicher Schwäche, das Recht auf Dummheit nicht absprechen. Wenn jedoch sechzehn unter ihnen sich in einem Club ohne Verfassungskompetenz treffen, um per Dekret über die Landessprache zu verfügen, so stellt sich die Frage, warum sie glauben, ihre Dummheit in den Dienst der Kultur stellen zu müssen. Nach ihren Verlautbarungen zu schließen, die gewöhnlich die linkische Gangart der Bürokratie bevorzugen, ist es mit ihrer Beherrschung der deutschen Sprache nicht weit her. Das erklärt vielleicht, warum sie sich von selbsternannten Experten haben über den Tisch ziehen lassen, denen selbst die Autoren von Trivialromanen an Sprachgefühl und historischer Delikatesse weit überlegen sind."

Fragen: Sebastian Frank, UniRadio Berlin-Brandenburg (Berlin-Lankwitz)