Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Furtwängler, Wilhelm (1886-1954): Aus dem Essay über tonale und atonale Musik (1947)
in: Gespräche über Musik, 11. Aufl. Wiesbaden 1983, 91-93

VORBEMERKUNG. Der schon in der Weimarer Republik international bekannte und geschätzte Dirigent führte seine sechs Gespräche über Musik im Jahre 1937 mit dem Schweizer Komponisten und Musikkritiker Walter ABENDROTH (1896-1973). Unser Text aus dem anschließenden Essay über tonale und atonale Musik von 1947 behandelt in noch heute aktueller Weise die Probleme der Rezeption neuer Musik und die schwierige Lage ihrer Schöpfer. W.N.

Als Dirigent habe ich meine Erfahrungen vor dem Publikum gemacht. Der moderne Musiker kommt nun einmal nicht darum herum, sich hier neben Mozart und Beethoven behaupten zu müssen. Die Trennung, die die neue und alte Musik sich unversöhnlich und unverbunden gegenüberstehen läßt, ist eine Konstruktion, die von überzeugten Reaktionären und Hyper-Fortschrittlichen gleicherweise aufgestellt wird und im Grunde nur dazu dient, die eigentliche Auseinandersetzung beider miteinander und mit dem Publikum zu verhindern. Gerade auf diese aber kommt es an. Es bleibt ihnen allen nicht erspart, einander gegenübergestellt, miteinander verglichen zu werden. Wie oft hat man die Erfahrung gemacht, daß neue Werke, die auf einem zeitgenössischen Musikfest großen Eindruck machten, später im Alltag des Musiklebens, das heißt neben den Klassikern und anderer Musik, mit einem Mal den besten Teil ihrer Wirkung verloren. Hier aber und schließlich nirgends anders ist das Forum, auf dem auch die neuen Werke sich auf die Dauer behaupten müssen. Das Musikleben, die Musik ist unteilbar, und wir können heute nicht tun, als ob die Vergangenheit, durch die wir alle hindurchgegangen sind, nicht existierte, niemals existiert habe.

Gerade das aber ist es, was zugleich die Lage des modernen Komponisten so außerordentlich erschwert - wenn man  sie etwa mit der des bildenden Künstlers, des modernen Malers oder Bildhauers vergleicht. Für jenen gibt es immer neue praktische Anlässe zur Ausübung seiner Kunst; es gibt immer Plätze, die durch Denkmäler geschmückt sein wollen, Privathäuser, die nach Kunstwerken verlangen. Die Kunst der Vergangenheit hatte ihre Aufgabe; in bezug auf das moderne Leben steht dem heutigen Künstler keine Kunst, kein Künstler irgendeiner Vergangenheit im Wege.

Der Komponist von heute aber, wenn seine Arbeit überhaupt praktischen Sinn haben soll, und wenn er aufgeführt werden will, muß gewärtigen, seinen Platz an der Sonne mit allen seinen Vorgängern - bis ins Mittelalter hinauf - zu teilen.Denn es ist üblich, daß in unseren Konzertvereinen - die Anzahl der Konzerte, die sie veranstalten, ist an sich schon begrenzt - die gesamte Musikliteratur, soweit sie bekannt ist, zu Worte kommt. Es ist wahrhaftig eine fast übermächtige Konkurrenz, eine geradezu furchtbare Auslese, der sich ein moderner Komponist ausgesetzt sieht. Denn diejenigen, die ihn zum Vergleiche nötigen, die ihm den Platz wegnehmen, sind ja zugleich die größten Meister der Musikgeschichte, die Erben glücklicher Epochen, die vergötterten Lieblinge des Publikums. Vor den größten Meisterwerken der Vergangenheit hat er sich täglich aufs neue zu rechtfertigen und zu bewähren. Wenn er vor ihnen nicht besteht, kommt er nicht mehr zu Worte, muß abtreten.

Aus dieser Notlage - man kann es nicht anders nennen - ist zu verstehen, daß in neuerer Zeit die Komponisten sich zusammenzuschließen begannen, daß sie Gruppen, Parteien bildeten mit allen Eigenheiten, allen Vorteilen, aber auch allen Lächerlichkeiten solcher. Denn Kunst ist nun einmal keine Angelegenheit der Masse; wenn irgend etwas, so ist sie Sache einer aufs äußerste gesteigerten Verantwortlichkeit des Einzelnen, und es entbehrt nicht einer leisen Komik, wenn heute, nachdem die ganze Geschichte hindurch der großen Künstler immer nur einige wenige waren, auf einmal die Genies gleich dutzendweise aus dem Boden schießen. Hieran hat die Haltung der Presse nicht geringen Anteil, die sich heute der Sache der Komponisten so nachdrücklich annimmt. Früher, im 19. Jahrhundert etwa, waren Kenner und Presse dem Neuen gegenüber eher abgeneigt; setzte es sich durch, so geschah es trotz aller Widerstände. Heute erhält es Vorschußlorbeeren. Dafür freilich ist wahres 'Sichdurchsetzen' im früheren Sinne um so seltener geworden.

Wird ergänzt * HTML + Layout: Dr. W. Näser, MR, 19.2.2002