Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Wilhelm, Friedrich: Schluß der Vorrede (Juni 1931) zu Band I seines Corpus der altdeutschen Originalurkunden (1932)

VORBEMERKUNG. Friedrich Wilhelms Vorwort, besonders aber der hier zitierte Schluß, ist eines der Paradebeispiele für ebenso mutige wie engagierte Zeit- und Wissenschaftskritik, gleichzeitig muten seine Gedanken seltsam aktuell an, geht es in unserer ebenso zerrissenen und von sinnlosen Diadochenkämpfen erfüllten Zeit doch um ähnliche, nicht zu sagen identische Probleme. Diesen Text zu lesen und zu diskutieren bedeutet sicher einen Gewinn, und deshalb findet er Platz in unserem Corpus. Die wenigen Fußnoten werden hier weggelassen, wichtige Begriffe hervorgehoben. W.N. 1.3.2002

[S. LXXXII] Man hat jüngst "von der Müdigkeit der nationalen Philologien" gesprochen und den starken Zulauf von Studierenden zu ihnen an den Universitäten keineswegs als ein Zeichen ihrer Blüte hingestellt. Man hat diese Philologien mit dem "Gummibaum" verglichen, der nichts dafür könne, "wenn heute so viel Gummi für moderne Fahrzeuge benötigt wird". Dieser Vergleich ist häßlich und stimmt für die deutsche Philologie nicht. Denn was die deutsche Jugend, die noch immer der Träger des Idealismus und Opfersinns ist, zum Studium eigener Vergangenheit treibt, mag das nun reine Historie oder Sprachgeschichte oder Literaturgeschichte sein, entspringt nicht dem Verlangen nach "Gummi", sondern es entspringt der Liebe zum Heimatboden, der mit so viel Schweiß und Blut erworben und festgehalten, mit soviel Mühe und Arbeit immer wieder erträgnisreich gemacht worden ist, und es entspringt der Liebe zu Vater und Mutter, zu Großeltern und Urahnen, mit denen wir bis an das Ende der Welt in Schuld und Verdienst verantwortungsvoll und rechenschaftspflichtig verknüpft sind. Denn wahre Jugend will mit Verehrung zum Alter emporblicken, will Vorbildlichkeit in ihm sehen, will an seinem abgeklärten Urteil ermunternde Wärme und Gerechtigkeit erfahren. Aber das Alter von heute, d.h. die um 1860 Geborenen, sind hart, egoistisch und neidisch geworden. Nicht weil der Weltkrieg für uns Deutsche unglücklich ausging, sondern weil diese Alten in jungen Jahren, dank des Sieges von 1870/71, ohne schwere wirtschaftliche und seelische Kämpfe früh in sichere, lebenserhaltende Stellungen kamen und in aufsteigenden Zeitverhältnissen leben konnten, die sie aber nicht als die Frucht der ausharrenden Opferwilligkeit jund Hingabe ihrer in schwierigen Umständen aufgewachsenen Väter und Großväter ansahen, sondern sich selbst zum Verdienst anrechneten. Auf solch einem geistigen Nährboden konnten Materialismus und Überhebung blühen. Das war nicht immer so. Es gab im 19. Jahrhundert auch Altersgenerationen, welche ihren Standpunkt mit Würde und Zuneigung der Jugend gegenüber zu wahren verstanden. Es ist ein Unglück der heutigen Jugend - vielleicht nicht bloß der deutschen -, daß wir einen Mangel an abgeklärten Greisen haben, aber einen Überschuß an abgebrühten.

Was man bei den nationalen Philologien als Müdigkeit deutet, scheint schon mehr eine auf Hypertrophie der Organisation zurückgehende Lähmung zu sein. Zeigt sich doch die ganze innere Unwahrhaftigkeit unserer Zeit darin, daß Männer, die die Altersgrenze, d.h. die Schlußgrenze für ihre aktive Tätigkeit im Staatsdienst an der Hochschule erreicht haben und vom Staat als nicht mehr vollkräftig zur Verwaltung eines öffentlichen Amtes angesehen werden, in Ausschüsse staatlich überwachter wissenschaftlicher Organisationen kommen, deren Hauptaufgabe es ist, für wissenschaftliche Forschung bereitgestellte Gelder gerecht zu verteilen; und daß sie hier noch langwierige wissenschaftliche Arbeiten anregen und propagieren können, die auszuführen oder gar beendet zu sehen, ihnen nach menschlichem Ermessen gar nicht mehr möglich ist. Sie belasten also Generationen, die nach ihnen leben, mit wissenschaftlichen Aufgaben, die diese jüngeren Generationen entweder gar nicht, oder doch anders in Angriff zu nehmen, die Absicht gehabt haben würden. Wir klagen mit Recht über die Fesseln des Versailler Vertrages von 1918, der der Ausfluß diabolischster Rabulistik der sündhaften, verantwortungslosen Mentalität des weißrassigen Amerika und Europa ist, aber wir schlagen die eigene Nachkommenschaft, die durch diesen Vertrag auf Generationen wirtschaftlich belastet ist, auf gleiche Weise in geistige Sklavenketten. Die Folge dieser "Wissenschaftspolitik" sind [S. LXXXIII] Anlage von Zettel- und Fragebogenarchiven, Wörterbuchkanzleien und wissenschaftliche Auskunfteien, die in einer Zeit der Not und des Hungers mit staatlichen Geldern erhalten werden müssen oder wollen und in gewisser Weise Machtzentren bilden, die nützlich sein, aber auch rein egoistisch von einer Machtgruppe zugänglich gemacht oder vorenthalten werden können.

Bei solcher krankhafter Organisierungsarbeit wächst die Abneigung gegen die Forscherarbeit des Einzelnen. Er soll von der wissenschaftlichen Organisation aufgefressen werden, wie die Fabrik den selbständigen Meister auffrißt, oder, läßt er sich das nicht willig gefallen, in einem Winkel verenden läßt. Ein hochmütiges wissenschaftliches Generalstäblertum macht sich in schimmerndem Prunk von Titeln und Kleidern an der Spitze solcher Organisation breit, und ein befracktes Aufsichtsratswesen blüht in industriellen Formen, verteilt seine Gnaden und verweigert zürnend seine Huld und denkt über die wissenschaftlich arbeitende Jugend, über den wissenschaftlichen Hilfsarbeiter wie der Industrieprotz über den Arbeitnehmer und in letzter Zeit auch über den Staatsbeamten. Auf diese Weise demoralisiert man die Jugend, die selbständig werden soll, macht sie zu willigen, sich selbst erniedrigenden künftigen Jasagern und Feiglingen, die sich wie das Würmchen im Staube winden, wenn der Machthaber droht, die wirtschaftliche Grundlage ihrer Existenz zu nehmen. Eitlen Laffen und Hypokriten mag solches Treiben imponieren. Männern, die nach Aufrichtigkeit suchen, widert das an und erfüllt sie mit ernstester Sorge für die Zukunft.

Stille Arbeit ohne Reklame, ohne Propaganda und ohne zur Schau getragene Betriebsamkeit haben von jeher die Wissenschaft groß gemacht und bei der Wahrheitssuche gehalten. So wird es auch bleiben! Denn nur der Glaube daran, daß es eine Wahrheit gibt, verleiht die Berechtigung wissenschaftlichen Zweifelns und Forschens. Nur wo dieser Glaube ist, stellt sich zugleich jene hoffende Demut gegenüber dem menschlichen Fehlen ein, dem eigenen wie dem der langen Reihe der Vorfahren:

Irrtum verläßt uns nie, doch führt ein höherer Wille
Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.

Freiburg i. Br., am 5. Juli 1931, am Tage der Geburt meines in Gott ruhenden Vaters.     Friedrich Wilhelm  


Zum Verfasser: Eduard Ottomar Friedrich Wilhelm wurde am 22.2.1882 in Jena geboren, interessierte sich früh für mittelhochdeutsche Texte, studierte an 1900 an der Jenenser Universität, promovierte im Juli 1903 summa cum laude und habilitierte sich bereits drei Jahre später, begründete aus krit. Haltung heraus später die Publikationsreihen Münchener Museum, /Texte /Archiv, heiratete 1913 und diente im 1. Weltkrieg (1914-1918) freiwillig als Sanitäter. Im Sept. 1920 wurde er Ordinarius für deutsche Philologie an der Univ. Freiburg i.Br.; Nach langem Siechtum (das sich bereits 1930 abzeichnete) starb W. am 30.5.1939 (weitere Informationen in der von Richard NEWALD verfaßten Vorrede [VII bis XXXVI] von Bd. 2 des "Corpus", Lahr 1943). S.a. links: aus Kürschners Dt. Gelehrten-Kalender 1931, Sp. 3278

Worterklärungen: abgebrüht: stumpfsinnig, gefühllos, [und daher] skrupellos (eine oft Politikern nachgesagte Charaktereigenschaft); jdn. anwidern: bei jdm. Ekel, tiefstes Mißfallen erregen; demoralisieren: entmutigen; Demut f.: Ergebenheit, Bescheidenheit, Einsicht in existentielle Notwendigkeiten; diabolisch: teuflisch; Diadochenkämpfe: Konkurrenzkämpfe (um eine Nachfolge); Hypertrophie: Übermaß, Übersteigerung; Hypokrit: Heuchler, sich in seinen Aussagen verstellender Mensch; jdm. [mit etw.] imponieren: jdn. beeindrucken; Industrieprotz: hier 'hochmütiger, angeberischer, arroganter Spitzenmanager, Konzernherr'; Laffe: sich übertrieben modisch kleidender, nur auf Geltung bedachter, egozentrischer Mensch; Mentalität: Geistesart, -haltung; Philologien: Text- und Literaturwissenschaften; etw. propagieren: für etw. werben, sich für etw. einsetzen; Rabulistik: Spitzfindigkeit, Wortklauberei, rechthaberische Redeweise; Reklame: Werbung; Überhebung: Überheblichkeit, Hochmut, Arroganz

Wird ergänzt * HTML, Layout, Hervorhebungen, Worterklärungen: Dr. W. Näser, MR, 1.3.2002 * Stand 23.4.2002