Textsorte Stimmungsbild (Idylle):

In unserem Garten
geschrieben am 13. September 1959

VORBEMERKUNG. Es mutet seltsam an, das zu lesen, was man vor 47 Jahren geschrieben hat, zwei Generationen zurück, als das Leben noch "analog" funktionierte, nicht bestimmt war vom sich rasend steigernden Prozessortakt, als man noch Zeit hatte, Eindrücke zu verarbeiten, auf und in sich wirken zu lassen. Unser damaliger Deutschlehrer in der Untersekunda, der kleine, akribische Leo Müller, gab uns als Hausaufsatzthema ein sogenanntes Stimmungsbild auf - ob es so etwas in der gegenwärtigen Deutschdidaktik noch gibt, weiß ich nicht. Während die meisten in unserer Klasse sich eifrig bemühten, aus der Literatur abzuschreiben und Autoren wie Ganghofer wiederauferstehen zu lassen, ging ich einen anderen, viel einfacheren, aber vielleicht auch schwierigeren Weg. Ich setzte mich auf die kleine Bank, die hinter dem Haus, in dem wir zur Miete wohnten, oben einen schmalen, bescheidenen Garten abschloß, in dem meine Mutter Gemüse anbaute, aber auch Blumen gepflanzt hatte. Dort ließ ich alles auf mich einwirken, was ich sah und hörte, ganz ohne den heute üblichen Walkman und andere Ablenkungen - ein aus heutiger Sicht möglicherweise gänzlich "uncooles", weil nicht gerade spektakuläres und sehr unschuldiges Vergnügen. Resultat war der folgende Text, den ich als Zeugnis jener Zeit ins Netz stellen möchte, ohne jegliche Bedenken, wie man dieses "Werk" eines damals gerade 16-Jährigen bewerten möge.              

WOLFGANG NÄSER, Marburg, 21.12.2006


Wieder einmal habe ich meine Arbeit beendet und lehne mich behaglich im Sessel zurück. Ich überlege, was ich mit meiner Freizeit anfangen könnte. ich könnte lesen, Radio hören, ins Kino gehen, einen Spaziergang machen. Das sind alltägliche Dinge. Aber was kann man nicht alles in seinem Garten schauen und erleben? Mit diesem Gedanken will ich einmal in unseren Garten gehen, nicht, um zu arbeiten, sondern, um ihn in seinen mannigfachen Wundern zu erleben.

Unser Garten, dessen schmucke kleine Beete mit allerlei verschiedenen Steinen und Steinkräutern eingefaßt sind, ist nicht groß. Trotzdem enthält er viele Pflanzen und Blumen. Die Bank, auf der ich sitze, ist von hohem, wehrhaftem Rosengebüsch umgeben; in allen Farben schimmern die zarten Rosenblüten, in tiefem, glutvollem Rot, in zartem Rosa und in kräftigem, leuchtendem Gelb.

Neben mir erstreckt sich ein Beet mit kleineren Gewächsen, mit kleinen Steinrosen, mit Zwergastern, deren volle, üppige Blüten langsam im Winde schaukeln, Apfelblüten und Stiefmütterchen. Wenn man letztere betrachtet, stellt man fest, daß sie nicht zu Unrecht ihren Namen tragen. Wie kleine Gesichter nicken mir ihre Blüten zu. Kleinen Tannenbäumen gleich, überragen Farne schützend die kleinen Pflanzen.

Fast wie Schwertlilien sehen die gegen den Himmel gerichteten, scharfen Blätter der Gladiolen aus, majestätisch schaukeln ihre dunkelrot leuchtenden Blüten im Winde; Asternblüten in allen Farben, vom satten Dunkelblau bis zum kräftigen Gelb und zum strahlenden, fröhlichen Weiß, nicken sich auf langen braunen Stengeln zu.

Und dieser Reichtum von mannigfachen Arten feinadriger Blätter, die man an all den wunderbaren Blumen schauen kann: kleine, kreisförmige des Steinkrautes, rauhe, zungenförmige der Herbstaster, feingezackte, fleischige der Rose, lange, grünweiße der Ziergräser, die gefiederten der Farne und die schwertförmigen, spitzen Blätter der Gladiole.

Vielerlei Insekten mit glitzernden Flügeln schwirren in der Luft herum und vollführen im Sonnenlicht einen fröhlichen, unbeschwerten Tanz. Bienen kriechen in die sich ihnen darbietenden Blüten und saugen den süßen Nektar auf. Von Pflanze zu Pflanze spannen sich feine, kunstvolle Spinnenfäden, deren Erbauer auf ihnen die waghalsigsten Kunststücke vollführen. Plötzlich verfängt sich eine Fliege in einem versteckt angelegten Netz, und schnell eilt eine Spinne herbei, um sie sorgfältig und geschickt einzuwickeln und in ein kleines Paket zu verwandeln. Überall erfüllt sich das ewig gültige Naturgesetz: der Schwächere unterliegt!

Schwarze, dunkelblaue und braune Käfer kriechen über den Boden, winzige Spuren hinterlassend, und in einer Ecke des Gartens wimmelt der Boden von flinken Ameisen, kleinen Arbeitern, die sich niemals eine Pause gönnen.

Unter einer Pflanze raschelt es: ein Vogel auf Futtersuche, sein prächtiges Gefieder leuchtet im Sonnenlicht. Er läßt sich von mir nicht stören; mit schnellen Bewegungen hüpft er über den Boden, dreht sein Köpfchen nach rechts, dann nach links und scharrt mit dem Fuß ein kleines Loch in die Erde. Es dauert nicht lange, und er hat einen langen, in der Sonne glänzenden Regenwurm gepackt. So schnell, wie er gekommen ist, ist er auch wieder verschwunden.

Wenn man aufmerksam ist, kann man auch kleine Schnecken beobachten, die mit gleichmäßigen Wellenbewegungen über den Boden kriechen und ein schleimiges Band hinter sich lassen.

Viele kleine Wunder kann man in einem Garten schauen und erleben, an die man im alltäglichen Leben nicht denkt, und so wird mir diese Stunde im Garten immer im Gedächtnis bleiben.


Kommentar
"Als Stimmungsbild etwas überladen, aber sonst (sprachlich) recht gut" kommentiert Leo Müller diese kurze Arbeit. Etwas wehmütig habe ich sie abgetippt, einer Zeit gedenkend, in der die heranwachsende Jugend noch mit derartigen Tätigkeiten und Eindrücken leben und zufrieden sein konnte. Wir waren 16 Jahre und noch so unschuldig. Es gab nicht die aufreizende Nabelschau, das die eigene eklatante Unsicherheit überspielende, verlogene Erwachsensein-Getue der erst 15-Jährigen, das als Symbol persönlicher Autonomie mißverstandene Handy, die Discos, die Partydrogen, die lebensverachtenden Computer-Killerspiele zum Abreagieren.

Mit anderen Worten: uns war es noch vergönnt, Kinder zu sein und eine Jugend zu haben. Ein so billiges, aber auch kostbares Vergnügen, das heute vielen jungen Menschen genommen wird, ohne daß sie es bemerken. Die gelangweilten Gesichter mancher 15- und 16-Jährigen von heute sprechen Bände. Sie haben schon alles gehabt, sind - auch in sexueller Hinsicht - oft schon radikal desillusioniert und abgestumpft. Was nicht cool ist, ist nicht in. Was in ist, bestimmen die, die das große Geld machen. Was in ist, erfahren sie aus den Medien. Sie imitieren es ohne nachzudenken. Immer schneller, immer rauschhafter, lassen sich zudröhnen vom MP3-Player, haben das Handy am Ohr, High-Tech-Smalltalk füllt die Kassen der Provider. Und es wird geraucht, wider jede Vernunft, egal was auf den Packungen steht, denn Rauchen ist Freiheit, ist Emanzipation, Emanzipation von der Vernunft.

Ist das wirklich so? Fast. Es gibt auch die jungen Menschen, die helfen, die malen, gestalten, musizieren, die ihre Zeit nicht am Joystick verplempern, nicht jeden Trend mitmachen, sich nicht kommerziell verdummen lassen. Denen es egal ist, ob sie cool sind oder nicht. Die einfach auf ihr Herz hören und auf das, was man früher, in grauer Vorzeit, gesunden Menschenverstand nannte (falls Eltern, die diesen Namen noch verdienen, sich die Zeit nahmen, ihre Kinder solchermaßen zu erziehen). Es gibt noch Hoffnung, wenn man die, die noch wachsen und deren Wesen sich noch formen muß, ganz einfach sich in Ruhe entwickeln läßt.

Ich wünsche dies allen jungen Menschen, die zufällig über diese Zeilen stolpern. Ich wünsche ihnen alles erdenkliche Gute. W.N.