WÖRTER UND WENDUNGEN * WS 1994/95 * Dr. W. Näser * Di 16-18h, HS 6 Text 1: WIR LESEN UND DISKUTIEREN 1 >> Gewalt in den Medien - Grund zur Resignation? << von Bundesjugendministerin Dr. Angela Merkel [gekürzt und vereinfacht] Als Prof. Jo Groebel Anfang 1992 seine Untersuchung zur Analyse der Gewaltprofile deutscher Fernsehanstalten veröffentlichte, schreckte die 5 bundesdeutsche Öffentlichkeit auf: Das Gefühl, der Zuschauer werde im Fernsehprogramm mit zuviel Gewalt konfrontiert, ließ sich jetzt in Zahlen ausdrücken. Eine Untersuchung macht Schlagzeilen 750 Programmstunden der Sender ARD, ZDF, RTL plus, SAT 1, Tele 5 und Pro 7 10 wurden so aufgezeichnet, daß im nachhinein eine vollständige Fernsehwoche rekonstruiert werden konnte. Das Ergebnis damals: In fast der Hälfte aller deutschen Fernsehprogramme (47,7 Prozent) werden Aggressionen und/oder Bedrohungen in irgendeiner Weise thematisiert. Würde man über eine Woche hinweg übergreifend alle Gewalt-Szenen zusammenschneiden, so erhielte man 15 einen durchschnittlichen Gesamtfilm von ca. 25 Stunden pro Woche. Darin enthalten waren 481 Mordszenen wöchentlich oder rund 70 täglich. Die überwiegende Zahl der Aggressionen und Bedrohungen fand sich in fiktionalen Beiträgen (Spielfilmen, Serien). Bei rund einem Drittel aller aggressiven Sequenzen war ein unmittelbares Motiv nicht erkennbar. Meist fehlte ein 20 Begründungszusammenhang vollständig, d.h. die Aggression wurde als Stilmittel zum Selbstzweck erhoben. Bei mehr als 40 Prozent der Gewaltszenen wurde die Aggression bewußt zur Erreichung eigener materieller, ideologischer und vergleichbarer Interessen eingesetzt. Die größte Ballung körperlicher Gewalt ließ sich im Vorabendprogramm zwischen 18.00 und 20.00 25 Uhr feststellen, einer Zeit, zu der gleichzeitig die meisten Kinder vor dem Bildschirm sitzen. In diesem Zeitraum waren für geschickte Programmspringer täglich 20 direkte physische Gewalt beinhaltende Szenen konsumierbar. Obwohl es sich nur um eine quantitative Untersuchung handelte, hat die Studie von Jo Groebel die öffentliche Diskussion über das Thema Gewalt in 30 den Medien mehr beflügelt, als dies alle qualitativen Studien aus dem Bereich der Wirkungsforschung vorher vermochten. Seither habe ich als Jugendministerin Hunderttausende Unterschriften aus der gesamten Bundesrepublik gegen Gewalt im Fernsehen entgegengenommen, zuletzt am 21. Juni fünfundzwanzig Postsäcke gefüllt mit einer Viertelmillion Postkarten 35 und Coupons. Gewalt in den Medien und ihre Wirkung Wer Gewalt in den Medien anprangert, wird nicht selten darauf verwiesen, daß unsere Welt nun einmal gewalttätig sei und nichts anderes als ein Abbild der Realität gezeigt werde. Vor allem aber wurde jahrzehntelang die Wirkung von 40 Gewalt in den Medien überhaupt in Frage gestellt. Die sogenannte Katharsisthese, daß Gewalt in den Medien sogar Aggressionen abbauen helfe, ist aber inzwischen wissenschaftlich widerlegt. Nicht jeder, der mit Mediengewalt regelmäßig konfrontiert wird, wird auch zum Gewalttäter. Unbestritten ist aber, daß es in Einzelfällen direkte Nachahmungen von 45 Filmerlebnissen gibt, und sicher ist auch, daß durch Gewaltkonsum niemand friedlicher wird. Die unübersehbare Wirkung auf Kinder wird in Kindergärten und Schulen auch als das Montagssyndrom beschrieben; vor allem nach dem Wochenende sind Kinder besonders aggressiv. Das audiovisuelle Zentrum der Universität Hildesheim hat über mehrere Jahre alltägliche Gewaltszenen in 50 Kindergärten, auf Schulhöfen und in Schulklassen durch Video festgehalten. Dabei wurde festgestellt, daß gewalttätiges Verhalten weitgehend durch Fernsehkonsum erlernt wurde. Szenen aus dem Fernsehprogramm wurden zum Teil drehbuchgetreu nachgespielt. Es gibt darüber hinaus eine Reihe weiterer Ergebnisse aus empirischen 55 Forschungen im Ausland. So hat z.B. Olga Linné in Schweden festgestellt, daß Kinder, die sich in einer Konfliktsituation eher für aggressives Verhalten entscheiden, in der Regel nach dem Fernsehen sofort ins Bett gehen, also keine Möglichkeit hatten, das Gesehene im Gespräch mit den Eltern zu verarbeiten. 60 Der Amerikaner McLeod hat herausgefunden, daß der Zusammenhang zwischen Konsum gewalttätiger Filme und Sendungen und aggressivem Verhalten von Jugendlichen um so geringer ist, je mehr die Eltern nicht-aggressives Verhalten betonen. Und Greenberg hat mit Kollegen in seiner empirischen Untersuchung nachweisen können, daß sich Kinder in möglichen 65 Konfliktsituationen dann weniger für Gewalt entscheiden, wenn sie intensive Kontakte zu ihren Eltern haben. Vor allem diese empirischen Forschungsergebnisse belegen, wie groß die Verantwortung der Eltern beim Medienkonsum ihrer Kinder ist. Die Wirkung von Gewalt in den Medien hängt deshalb von verschiedenen 70 Faktoren ab: erstens vom Inhalt des Films bzw. der Sendung, also vom Handlungskontext sowie von Art und Weise der Gewaltdarstellung, zweitens von der Persönlichkeit des jeweiligen Zuschauers und drittens von der Situation, in der gesehen wird, zum Beispiel allein, mit den Eltern, mit Freunden usw. [...] Wie können wir Gewalt in den Medien eindämmen? 75 In Diskussionen mit Bürgern über dieses Thema herrscht bei dieser Frage immer sehr schnell Einigkeit: Die Politik muß dafür sorgen, daß Gewalt in den Medien abgebaut wird, notfalls durch Zensur. Das ist glücklicherweise nicht möglich. Presse- und Meinungsfreiheit sind garantierte Grundrechte und wesentliche Elemente unserer Demokratie. Das heißt nicht, daß die Politik 80 keine Verantwortung übernehmen kann oder will. Aber die beschriebenen rechtlichen Rahmenbedingungen haben gezeigt, wo die Grenzen zu ziehen sind. Der Rundfunkstaatsvertrag ließe sich zwar im Bereich des Jugendschutzes verbessern. Jede Verbesserung, die ja nur in einer Verschärfung der geltenden Richtlinien bestehen könnte, könnte aber mit einem 85 verfassungsrechtlichen Risiko behaftet sein, und die Länder zeigen keine Neigung, dieses Risiko einzugehen. Die Politiker können und müssen sich aber an der Diskussion um Gewalt in den Medien beteiligen, und sie können dazu beitragen, daß aus dieser Diskussion heraus der Druck auf die Medien, ihrer Verantwortung gerecht zu werden, 90 wächst. [...] Auch die Mediennutzer haben Verantwortung und können Medieninhalte beeinflussen durch ihre Kaufentscheidung bzw. mittelbar durch die Beeinflussung der Einschaltquoten. Unterschriftenaktionen oder der Aufruf von Eltern- und Verbraucherverbänden, Produkte, die für die im Umfeld von 95 gewalttätigen Filmen und Sendungen geworben wird, zu boykottieren, haben Wirkung gezeigt. [...] Medienerziehung Um Eltern für den richtigen Umgang ihrer Kinder mit Medien zu sensibilisieren hat das Bundesjugendministerium den Film "Manchmal hab ich 100 große Angst" produzieren lassen. Er zeigt die Auswirkungen gewalttätiger Bilder auf Kinder und soll bei Elternabenden in Kindergärten und Schulen einen Beitrag zur Medienerziehung leisten. In Kürze wird auch eine Broschüre zu diesem Thema erscheinen. Medienerziehung ist auch zunehmend ein Thema in der Jugendarbeit. Sie muß 105 auf Zusammenhänge zwischen Gewaltbereitschaft und Gewaltkonsum reagieren. Ein Beispiel hierfür ist der Jugendfilmclub in Köln. Der Jugendfilmclub versteht sich als Ansprechpartner für Kinder- und Jugendeinrichtungen in Köln sowie als medienpädagogische Bildungs- und Beratungsstelle. Er bietet Filmvorführkurse sowie Videoeinführungs- und -aufbaukurse für Pädagogen, 110 Multiplikatoren und Jugendliche an. Hinzu kommen spezielle Computerkurse sowie Seminare zur Filmarbeit und Fernseherziehung. +---------+ Stellen Sie eine 4alphabetische 5 Liste aller Ihnen unbe- ¦AUFGABE: ¦ kannten WÖRTER und WENDUNGEN zusammen; geben Sie DEUTSCHE +---------+ Worterklärungen; überprüfen Sie sorgfältig im WÖRTERBUCH alle Ihnen 4unbekannten 5 bzw. 4zweifelhaft erscheinenden 5 SCHREIBUNGEN. (c) Wolfgang Näser 080396