INT. SOMMERKURS DER PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR UND MEDIEN 
Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser 
 
Text 3        Johann Friedrich von SCHILLER (1759-1805) , 
              Das Lied von der Glocke (1799) 
 
VORBEMERKUNG: 18 Jahre nach den, in unserem Sommerkurs ebenfalls behandelten, 
              "Räubern" schrieb Schiller sein weltberühmtes Gedicht: Summe der 
              Erfahrungen und Erkenntnisse eines gereiften Menschen. Während 
              die Glocke entsteht, läuft gleichsam vor unseren Augen der Film 
              des Lebens ab, von der Wiege bis zur Bahre, mit allen Höhen und 
              Tiefen, mit Glück und Verhängnis, mit allem, was wir Menschen in 
              unserem Dasein richtig und falsch machen können. Die mit * mar- 
              kierten Zeilen wurden zu "geflügelten Worten", gingen ein in 
              den Sprachschatz der Allgemeinheit, ein Beweis für stetige, bis 
              in die furchtbare Gegenwart reichende Aktualität. Ist, so können 
              wir uns fragen, das menschliche Leben ein in Varianten wiederkeh- 
              rendes, im Grundsatz zur Unverbesserlichkeit verdammtes Muster? 
              Wie stehen wir heute, wo die Zeit wieder einmal aus den Fugen 
              geraten erscheint, zu Schillers Parabel des Lebens? Können wir 
              sie noch voll akzeptieren? Wenn nicht, welche tragfähigen Werte 
              können wir dagegenhalten? Wenn ja, sind wir fähig, aus Schillers 
              Parabel zu lernen? 
 
 
                                  Vivos voco, 
                                  Mortuos plango 
                                  Fulgura frango 
 
1       Fest gemauert in der Erden 
        Steht die Form, aus Lehm gebrannt. 
        Heute muß die Glocke werden, 
        Frisch, Gesellen, seid zur Hand. 
5           Von der Stirne heiß 
            Rinnen muß der Schweiß, 
        Soll das Werk den Meister loben, 
       *Doch der Segen kommt von oben. 
        Zum Werke, das wir ernst bereiten, 
10      Geziemt sich wohl ein ernstes Wort; 
        Wenn gute Reden sie begleiten, 
        Dann fließt die Arbeit munter fort. 
        So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten, 
        Was durch die schwache Kraft entspringt, 
15      Den schlechten Mann muß man verachten, 
        Der nie bedacht, was er vollbringt. 
        Das ist's ja, was den Menschen zieret, 
        Und dazu ward ihm der Verstand, 
        Daß er im innern Herzen spüret, 
20      Was er erschafft mit seiner Hand. 
 
        Nehmet Holz vom Fichtenstamme, 
        Doch recht trocken laßt es sein, 
        Daß die eingepreßte Flamme 
        Schlage zu dem Schwalch hinein. 
25          Kocht des Kupfers Brei, 
            Schnell das Zinn herbei, 
        Daß die zähe Glockenspeise 
        Fließe nach der rechten Weise. 
 
        Was in des Dammes tiefer Grube 
30      Die Hand mit Feuers Hülfe baut, 
        Hoch auf des Turmes Glockenstube 
        Da wird es von uns zeugen laut. 
        Noch dauern wird's in späten Tagen 
        Und rühren vieler Menschen Ohr 
35      Und wird mit dem Betrübten klagen 
        Und stimmen zu der Andacht Chor. 
        Was unten tief dem Erdensohne 
        Das wechselnde Verhängnis bringt, 
        Das schlägt an die metallne Krone, 
40      Die es erbaulich weiterklingt. 
 
        Weiße Blasen seh ich springen, 
        Wohl! Die Massen sind im Fluß. 
        Laßt's mit Aschensalz durchdringen, 
        Das befördert schnell den Guß. 
45          Auch von Schaume rein 
            Muß die Mischung sein, 
        Daß vom reinlichen Metalle 
        Rein und voll die Stimme schalle. 
        Denn mit der Freude Feierklange 
50      Begrüßt sie das geliebte Kind 
        Auf seines Lebens erstem Gange, 
        Den es in Schlafes Arm beginnt; 
        Ihm ruhen noch im Zeitenschoße 
        Die schwarzen und die heitern Lose, 
55      Der Mutterliebe zarte Sorgen 
        Bewachen seinen goldnen Morgen. - 
        Die Jahre fliehen pfeilgeschwind. 
        Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe, 
        Er stürmt ins Leben wild hinaus, 
60      Durchmißt die Welt am Wanderstabe. 
        Fremd kehrt er heim ins Vaterhaus, 
        Und herrlich, in der Jugend Prangen, 
        Wie ein Gebild aus Himmelshöhn, 
        Mit züchtigen, verschämten Wangen 
65      Sieht er die Jungfrau vor sich stehn. 
        Da faßt ein namenloses Sehnen 
        Des Jünglings Herz, er irrt allein, 
        Aus seinen Augen brechen Tränen, 
        Er flieht der Brüder wilden Reihn. 
70     *Errötend folgt er ihren Spuren 
        Und ist von ihrem Gruß beglückt, 
        Das Schönste sucht er auf den Fluren, 
        Womit er seine Liebe schmückt. 
        O! zarte Sehnsucht, süßes Hoffen, 
75      Der ersten Liebe goldne Zeit, 
        Das Auge sieht den Himmel offen, 
        Es schwelgt das Herz in Seligkeit. 
       *O! daß sie ewig grünen bliebe, 
       *Die schöne Zeit der jungen Liebe! 
 
80      Wie sich schon die Pfeifen bräunen! 
        Dieses Stäbchen tauch ich ein, 
        Sehn wir's überglast erscheinen 
        Wird's zum Gusse zeitig sein. 
            Jetzt, Gesellen, frisch! 
85          Prüft mir das Gemisch, 
        Ob das Spröde mit dem Weichen 
        Sich vereint zum guten Zeichen. 
 
        Denn wo das Strenge mit dem Zarten, 
        Wo Starkes sich und Mildes paarten, 
90      Da gibt es einen guten Klang. 
       *Drum prüfe, wer sich ewig bindet, 
       *Ob sich das Herz zum Herzen findet! 
       *Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang. 
        Lieblich in der Bräute Locken 
95      Spielt der jungfräuliche Kranz, 
        Wenn die hellen Kirchenglocken 
        Laden zu des Festes Glanz. 
        Ach! des Lebens schönste Feier 
        Endigt auch den Lebensmai, 
100     Mit dem Gürtel, mit dem Schleier 
        Reißt der schöne Wahn entzwei. 
        Die Leidenschaft flieht! 
        Die Liebe muß bleiben, 
        Die Blume verblüht, 
105     Die Frucht muß treiben. 
        Der Mann *muß hinaus 
       *ins feindliche Leben, 
        Muß wirken und streben 
        Und pflanzen und schaffen, 
110     Erlisten, erraffen, 
        Muß wetten und wagen, 
        Das Glück zu erjagen. 
        Da strömet herbei die unendliche Gabe, 
        Es füllt sich der Speicher mit köstlicher Habe, 
115     Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus. 
       *Und drinnen waltet 
       *Die züchtige Hausfrau, 
        Die Mutter der Kinder, 
        Und herrschet weise 
120     Im häuslichen Kreise, 
        Und lehret die Mädchen 
        Und wehret den Knaben, 
        Und reget ohn Ende 
        Die fleißigen Hände, 
125     Und mehrt den Gewinn 
        Mit ordnendem Sinn. 
        Und füllet mit Schätzen die duftenden Laden, 
        Und dreht um die schnurrende Spindel den Faden, 
        Und sammelt im reinlich geglätteten Schrein 
130     Die schimmernde Wolle, den schneeigten Lein, 
        Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer, 
        Und ruhet nimmer. 
 
        Und der Vater mit frohem Blick 
        Von des Hauses weitschauendem Giebel 
135     Überzählet sein blühend Glück, 
        Siehet der Pfosten ragende Bäume 
        Und der Scheunen gefüllte Räume 
        Und die Speicher, vom Segen gebogen, 
        Und des Kornes bewegte Wogen, 
140     Rühmet sich mit stolzem Mund: 
        Fest, wie der Erde Grund, 
        Gegen des Unglücks Macht 
        Steht mir des Hauses Pracht! 
       *Doch mit des Geschickes Mächten 
145    *Ist kein ew'ger Bund zu flechten, 
        Und das Unglück schreitet schnell. 
 
        Wohl! Nun kann der Guß beginnen, 
        Schön gezacket ist der Bruch. 
        Doch, bevor wir's lassen rinnen, 
150     Betet einen frommen Spruch! 
            Stoßt den Zapfen aus! 
            Gott bewahr das Haus. 
        Rauchend in des Henkels Bogen 
        Schießt's mit feuerbraunen Wogen. 
 
155     Wohltätig ist des Feuers Macht, 
        Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht, 
        Und was er bildet, was er schafft, 
        Das dankt er dieser Himmelskraft, 
        Doch furchtbar wird die Himmelskraft, 
160     Wenn sie der Fessel sich entrafft, 
        Einhertritt auf der eignen Spur 
        Die freie Tochter der Natur. 
       *Wehe, wenn sie losgelassen 
        Wachsend ohne Widerstand 
165     Durch die volkbelebten Gassen 
        Wälzt den ungeheuren Brand! 
        Denn die Elemente hassen 
        Das Gebild der Menschenhand. 
        Aus der Wolke 
170     Quillt der Segen, 
        Strömt der Regen, 
        Aus der Wolke, ohne Wahl, 
        Zuckt der Strahl! 
        Hört ihr's wimmern hoch vom Turm? 
175     Das ist Sturm! 
        Rot wie Blut 
        Ist der Himmel, 
        Das ist nicht des Tages Glut! 
        Welch Getümmel 
180     Straßen auf! 
        Dampf wallt auf! 
        Flackernd steigt die Feuersäule, 
        Durch der Straße lange Zeile 
        Wächst es fort mit Windeseile, 
185     Kochend wie aus Ofens Rachen 
        Glühn die Lüfte, Balken krachen, 
        Pfosten stürzen, Fenster klirren, 
        Kinder jammern, Mütter irren, 
        Tiere wimmern 
190     Unter Trümmern, 
        Alles rennet, rettet, flüchtet, 
        Taghell ist die Nacht gelichtet, 
        Durch der Hände lange Kette 
        Um die Wette 
195     Fliegt der Eimer, hoch im Bogen 
        Sprützen Quellen, Wasserwogen. 
        Heulend kommt der Sturm geflogen, 
        Der die Flamme brausend sucht. 
        Prasselnd in die dürre Frucht 
200     Fällt sie, in des Speichers Räume, 
        In der Sparren dürre Bäume, 
        Und als wollte sie im Wehen 
        Mit sich fort der Erde Wucht 
        Reißen, in gewaltger Flucht, 
205     Wächst sie in des Himmels Höhen 
        Riesengroß! 
        Hoffnungslos 
        Weicht der Mensch der Götterstärke, 
        Müßig sieht er seine Werke 
210     Und bewundernd untergehn. 
 
       *Leergebrannt 
       *Ist die Stätte, 
        Wilder Stürme rauhes Bette, 
        In den öden Fensterhöhlen 
215     Wohnt das Grauen, 
        Und des Himmels Wolken schauen 
        Hoch hinein. 
 
        Einen Blick 
        Nach dem Grabe 
220     Seiner Habe 
        Sendet noch der Mensch zurück - 
        Greift fröhlich dann zum Wanderstabe, 
        Was Feuers Wut ihm auch geraubt, 
        Ein süßer Trost ist ihm geblieben, 
225    *Er zählt die Häupter seiner Lieben, 
        Und sieh! ihm fehlt kein teures Haupt. 
 
        In die Erd ist's aufgenommen, 
        Glücklich ist die Form gefüllt, 
        Wird's auch schön zutage kommen, 
230     Daß es Fleiß und Kunst vergilt? 
            Wenn der Guß mißlang? 
            Wenn die Form zersprang? 
        Ach! vielleicht, indem wir hoffen, 
        Hat uns Unheil schon getroffen. 
 
235     Dem dunkeln Schoß der heilgen Erde 
        Vertrauen wir der Hände Tat, 
        Vertraut der Sämann seine Saat 
        Und hofft, daß sie entkeimen werde 
        Zum Segen, nach des Himmels Rat. 
240     Noch köstlicheren Samen bergen 
        Wir trauernd in der Erde Schoß 
        Und hoffen, daß er aus den Särgen 
        Erblühen soll zu schönerm Los. 
 
        Von dem Dome, 
245     Schwer und bang, 
        Tönt die Glocke 
        Grabgesang. 
        Ernst begleiten ihre Trauerschläge 
        Einen Wandrer auf dem letzten Wege. 
 
250     Ach! die Gattin ists, die teure, 
        Ach! es ist die treue Mutter, 
        Die der schwarze Fürst der Schatten 
        Wegführt aus dem Arm des Gatten, 
        Aus der zarten Kinder Schar, 
255     Die sie blühend ihm gebar, 
        Die sie an der treuen Brust 
        Wachsen sah mit Mutterlust - 
        Ach! des Hauses zarte Bande 
        Sind gelöst auf immerdar, 
260     Denn sie wohnt im Schattenlande, 
        Die des Hauses Mutter war, 
        Denn es fehlt ihr treues Walten, 
        Ihre Sorge wacht nicht mehr, 
        An verwaister Stätte schalten 
265     Wird die Fremde, liebeleer. 
 
        Bis die Glocke sich verkühlet, 
        Laßt die strenge Arbeit ruhn, 
        Wie im Laub der Vogel spielet, 
        Mag sich jeder gütlich tun. 
270         Winkt der Sterne Licht, 
            Ledig aller Pflicht 
        Hört der Pursch die Vesper schlagen, 
        Meister muß sich immer plagen. 
       *Munter fördert seine Schritte 
275     Fern im wilden Forst der Wandrer 
        Nach der lieben Heimathütte. 
        Blökend ziehen 
        Heim die Schafe, 
        Und der Rinder 
280     Breitgestirnte, glatte Scharen 
        Kommen brüllend, 
        Die gewohnten Ställe füllend. 
        Schwer herein 
        Schwankt der Wagen, 
285     Kornbeladen, 
        Bunt von Farben 
        Auf den Garben 
        Liegt der Kranz, 
        Und das junge Volk der Schnitter 
290     Fliegt zum Tanz. 
        Markt und Straße werden stiller, 
        Um des Lichts gesellge Flamme 
        Sammeln sich die Hausbewohner, 
        Und das Stadttor schließt sich knarrend. 
295     Schwarz bedecket 
        Sich die Erde, 
        Doch den sichern Bürger schrecket 
        Nicht die Nacht, 
        Die den Bösen gräßlich wecket, 
300     Denn *das Auge des Gesetzes wacht. 
 
       *Heilge Ordnung, segenreiche 
       *Himmelstochter, die das Gleiche 
        Frei und leicht und freudig bindet, 
        Die der Städte Bau gegründet, 
305     Die herein von den Gefilden 
        Rief den ungesellgen Wilden, 
        Eintrat in der Menschen Hütten, 
        Sie gewöhnt zu sanften Sitten 
        Und das teuerste der Bande 
310     Wob, den Trieb zum Vaterlande! 
 
        Tausend fleißge Hände regen, 
        Helfen sich in munterm Bund, 
        Und in feurigem Bewegen 
        Werden alle Kräfte kund. 
315     Meister rührt sich und Geselle 
        In der Freiheit heilgem Schutz. 
        Jeder freut sich seiner Stelle, 
        Bietet dem Verächter Trutz. 
        Arbeit ist des Bürgers Zierde, 
320     Segen ist der Mühe Preis, 
        Ehrt den  K ö n i g  seine Würde, 
        Ehret  u n s  der Hände Fleiß. 
 
       *Holder Friede, 
       *Süße Eintracht, 
325     Weilet, weilet 
        Freundlich über dieser Stadt! 
        Möge nie der Tag erscheinen, 
        Wo des rauhen Krieges Horden 
        Dieses stille Tal durchtoben, 
330     Wo der Himmel, 
        Den des Abends sanfte Röte 
        Lieblich malt, 
        Von der Dörfer, von der Städte 
        Wildem Brande schrecklich strahlt! 
335     Nun zerbrecht mir das Gebäude, 
        Seine Absicht hat's erfüllt, 
        Daß sich Herz und Auge weide 
        An dem wohlgelungnen Bild. 
            Schwingt den Hammer, schwingt, 
340         Bis der Mantel springt, 
        Wenn die Glock' soll auferstehen, 
        Muß die Form in Stücken gehen. 
 
        Der Meister kann die Form zerbrechen 
        Mit weiser Hand, zur rechten Zeit, 
345     Doch wehe, wenn in Flammenbächen 
        Das glühnde Erz sich selbst befreit! 
        Blindwütend mit des Donners Krachen 
        Zersprengt es das geborstne Haus, 
        Und wie aus offnem Höllenrachen 
350     Speit es Verderben zündend aus; 
       *Wo rohe Kräfte sinnlos walten, 
       *Da kann sich kein Gebild gestalten, 
        Wenn sich die Völker selbst befrein, 
        Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn. 
 
355     Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte 
        Der Feuerzunder still gehäuft, 
        Das Volk, zerreißend seine Kette, 
        Zur Eigenhilfe schrecklich greift! 
        Da zerret an der Glocke Strängen 
360     Der Aufruhr, daß sie heulend schallt 
        Und, nur geweiht zu Friedensklängen, 
        Die Losung anstimmt zur Gewalt. 
 
        Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, 
        Der ruhge Bürger greift zur Wehr, 
365     Die Straßen füllen sich, die Hallen, 
        Und Würgerbanden ziehn umher, 
       *Da werden Weiber zu Hyänen 
        Und treiben mit Entsetzen Scherz, 
        Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, 
370     Zerreißen sie des Feindes Herz. 
        Nichts Heiliges ist mehr, es lösen 
        Sich alle Bande frommer Scheu, 
        Der Gute räumt den Platz dem Bösen, 
        Und alle Laster walten frei. 
375    *Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, 
       *Verderblich ist des Tigers Zahn, 
       *Jedoch der schrecklichste der Schrecken, 
       *Das ist der Mensch in seinem Wahn. 
        Weh denen, die dem Ewigblinden 
380     Des Lichtes Himmelsfackel leihn! 
        Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden 
        Und äschert Städt' und Länder ein. 
 
        Freude hat mir Gott gegeben! 
        Sehet! wie ein goldner Stern 
385     Aus der Hülse, blank und eben, 
        Schält sich der metallne Kern. 
            Von dem Helm zum Kranz 
            Spielt's wie Sonnenglanz, 
        Auch des Wappens nette Schilder 
390     Loben den erfahrnen Bilder. 
 
        Herein! Herein! 
        Gesellen alle, schließt den Reihen, 
        Daß wir die Glocke taufend weihen, 
        CONCORDIA soll ihr Name sein, 
395     Zur Eintracht, zu herzinnigem Vereine 
        Versammle sie die liebende Gemeine. 
        Und dies sei fortan ihr Beruf, 
        Wozu der Meister sie erschuf! 
        Hoch überm niedern Erdenleben 
400     Soll sie in blauem Himmelszelt 
        Die Nachbarin des Donners schweben 
        Und grenzen an die Sternenwelt, 
        Soll eine Stimme sein von oben, 
        Wie der Gestirne helle Schar, 
405     Die ihren Schöpfer wandelnd loben 
        Und führen das bekränzte Jahr. 
        Nur ewigen und ernsten Dingen 
        Sei ihr metallner Mund geweiht, 
        Und stündlich mit den schnellen Schwingen 
410     Berühr im Fluge sie die Zeit, 
        Dem Schicksal leihe sie die Zunge, 
        SELBST herzlos, ohne Mitgefühl, 
        Begleite sie mit ihrem Schwunge 
        Des Lebens wechselvolles Spiel. 
415     Und wie der Klang im Ohr vergehet, 
        Der mächtig tönend ihr entschallt, 
        So lehre sie, daß nichts bestehet, 
        Daß alles Irdische verhallt. 
 
        Jetzo mit der Kraft des Stranges 
420     Wiegt die Glock mir aus der Gruft, 
        Daß sie in das Reich des Klanges 
        Steige, in die Himmelsluft. 
            Ziehet, ziehet, hebt! 
            Sie bewegt sich, schwebt! 
425     Freude dieser Stadt bedeute, 
        F r i e d e  sei ihr erst Geläute. 
 
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Bande                       [menschliche, moralische, gesellschaftliche] 
Beruf (397)                 hier: Aufgabe, Zweck 
                            Bindungen, Verpflichtungen 
Bilder (390)                hier: bildender Künstler (der die Glocke mit 
                            einem historischen Motiv geschmückt hat) 
des Tages Glut              der rote Schein der untergehenden Abendsonne 
die Nachbarin ...(401)      prädikativ: als Nachbarin 
Gebäude (335)               hier: hölzerne Ummantelung der Glockenform 
gelichtet                   er-, beleuchtet 
Gemeine (396)               [Kirchen-]Gemeinde 
irren                       hier: ziellos umherlaufen, herumirren 
kund werden                 hier: offenbar werden, sich zeigen 
Lein (130)                  das Leinen, der Leinenstoff, die Leinwand 
Leu                         Löwe 
Lebensmai (99)              Frühling, erste, unbeschwerteste Zeit des Lebens 
Reihen                      [obsolet für] Reigen, alter Rundtanz mit Musik 
Schwalch                    Qualm, Ruß 
Sparren (201)               Dachsparren, Teil des hölzernen Dachgerüsts 
Strahl                      Blitz 
überglast                   mit (ehemals flüssigem) Glas bedeckt, überzogen 
Vesper                      Abendstunde, Zeit des Abendgottesdienstes (18 Uhr); 
                            die "Orgelvespern" (G.M. Blank) in der Marburger 
                            Kugelkirche finden jeweils eine Stunde früher 
                            statt 
Vivos voco/mortuos plango/  die Lebenden rufe ich/die Toten beklage ich/die 
            fulgura frango  Blitze breche ich (Inschrift der großen Glocke 
                            im Münster zu Schaffhausen 
zeugen                      Zeugnis ablegen, künden