Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
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Grass, Günter (*1927): Aus: Die Blechtrommel (1958/59)
VORBEMERKUNG: Am 16. Oktober 1927 wird G. in Danzig-Langfuhr geboren als Sohn eines deutschen Kolonialwarenhändlers und einer kaschubisch-polnischen Mutter; mit 10 Jahren zum Jungvolk, mit 14 zur HJ, mit 15 Luftwaffenhelfer und 1944 Panzerschütze, danach US-Kriegsgefangenschaft bis 1946. Bergarbeiter (Kali) bei Hannover, dann im Rheinland Lehre als Steinmetz und Bildhauer; 1948-52 Studium der Bildhauerei und Grafik a.d. Kunstakademie Düsseldorf (Prof. Mages u. Pankok), Reisen nach Italien u. Paris, 1952 Schüler des Bildhauers Karl Hartung. 1955 erster Lyrikband. Lebt ab 1956 in Paris, ab 1960 in Berlin, nach der Wende in Lübeck. Danach zahlreiche andere Werke (=> Verzeichnis), u.a. Katz und Maus (1961), Hundejahre (1963), Örtlich betäubt (1969), Der Butt (1977), Die Rättin (1986), Ein weites Feld (1995), "Mein Jahrhundert" (1999), auch Reden u. Sonette. In seiner umstrittenen Novelle Im Krebsgang (2002) befaßt sich G. mit einem sowjet. Kriegsverbrechen: der Versenkung des dt. Flüchtlings-Schiffs "Wilhelm Gustloff" (30.1.1945). G. wirkte auch als Zeichner und Maler (1956 erste Ausstellung von Plastiken und Grafiken in Stuttgart), das belegen auch seine illustrierten Bücher. Auszeichnungen: 1955 Hauptpreis beim Lyrikerwettbewerb des Stuttgarter Rundfunks; 1958 Literaturpreis der Gruppe 47 für das Manuskript der Blechtrommel; 1963 Aufnahme in die Berliner Akademie der Künste; 1965 Georg-Büchner-Preis u. Ehrendoktorwürde des Kenyon-College, USA; 1968 Fontane- und Theodor-Heuss-Preis, 1976 Dr.h.c. Uni Harvard; 1983-86 Präsident der Berliner Akademie der Künste (1989 Austritt), 1990 Gastdozent Poetik, Uni Frankfurt, Dr.h.c. Uni Posznán, 1992 Premio Grinzane Cavour; 1993 Premio Hidalgo, Madrid u. Premio Comites, Italien, Dr.h.c. Uni Gdansk; 1994 Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste; Medaille der Universidad Complutense, Madrid; Karel-Capek-Preis, Prag; 1995 Hermann Kesten-Medaille u. Hans-Fallada-Preis; 1996 Sonning-Preis, wichtigste kulturelle Auszeichnung Dänemarks, u. Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck; 1998 Wiederwahl in die Berliner Akademie der Künste; 1999 Poetik-Dozentur in Tübingen; Literatur-Nobelpreis. Zeitlebens politisch engagiert, unbequemer Querdenker; arbeitet ab 1961 für die SPD, reist 1970 mit Willy Brandt nach Warschau und 1973 nach Israel, verläßt die Partei 1992 aus Protest gegen den mit der Kohl-Regierung geschlossenen Asyl-Kompromiß. G. sieht die Geschichte als sich ewig wiederholender Kreislauf, damit auch eine Kontinuität vom Kaiserreich über Nazis und DDR zur Gegenwart.
Die Novelle "Katz und Maus", "Hundejahre" und die "Blechtrommel" bilden die Danziger Trilogie. Die später auch im Fernsehen ausgestrahlte Blechtrommel-Verfilmung (1979, Regie Volker Schlöndorff ) erhielt u.a. die Goldene Schale des Bundesfilmpreises, die Goldene Palme der Filmfestspiele Cannes und den Academy Award (Oscar) für den besten fremdsprachigen Film (1980). Die Romanvorlage wurde Anfang 1959 vollendet und überrascht durch ungemein frisches, lebendiges, mit Ironie durchsetztes Erzählen. Unsere Textproben entstammen dem Anfang des in drei "Bücher" geteilten Werkes. Oskar Matzerath, die kleinwüchsige Hauptfigur (Bild rechts: David Bennent), führt uns rückschauend in die Heimat das Dichters. Die Seitenangaben in [] beziehen sich auf die Luchterhand-Ausgabe vom August 1960. Textzitate nur zu internen didaktischen Zwecken.
[22] An jenem Oktobernachmittag des Jahres neunundneunzig, während
in Südafrika Ohm Krüger seine buschig englandfeindlichen
Augenbrauen bürstete, wurde zwischen Dirschau und
Karthaus, nahe der Ziegelei Bissau, unter vier gleichfarbigen
Röcken, unter Qualm, Ängsten, Seufzern, unter schrägem Regen
und leidvoll betonten Vornamen der Heiligen, unter den einfallslosen Fragen
und rauchgetrübten Blicken zweier Landgendarmen vom kleinen aber breiten
Joseph Koljaiczek meine Mutter Agnes gezeugt.
Anna Bronski, meine Großmutter, wechselte noch unterm Schwarz
der nämlichen Nacht ihren Namen: ließ sich also mit Hilfe eines
freigebig mit Sakramenten umgehenden Priesters zur Anna Koljaiczek
machen und folgte dem Joseph, wenn nicht nach Ägypten, so doch in die
Provinzhauptstadt an der Mottlau, wo Joseph Arbeit als Flößer
und einstweilen Ruhe vor der Gendarmerie fand. []
[23] Hier muß ich den Protest meiner Mama einschieben, denn sie hat
immer bestritten, auf einem Kartoffelacker gezeugt worden zu sein. Zwar habe
ihr Vater - soviel gab sie zu - es dort schon versucht, allein seine Lage
und gleichviel die Position der Anna Bronski seien nicht glücklich genug
gewählt gewesen, um dem Koljaiczek die Voraussetzungen fürs
Schwängern zu schaffen. "Es muß in der Nacht auf der Flucht passiert
sein oder in Onkel Vinzents Kastenwagen oder sogar erst auf dem Troyl,
als wir bei den Flößern Kammer und Unterschlupf fanden." Mit solchen
Worten pflegte meine Mama die Begründung ihrer Existenz zu datieren,
und meine Großmutter, die es eigentlich wissen mußte, nickte
dann geduldig und gab der Welt zu verstehen: "Jeweß Kindchen, auf
Kastenwagen wird jewaisen sein oder auf Troyl erst, nur nich auf Acker: weil
windig war und hat auch jeregnet wie Deikert komm raus." [...]
[24] Joseph Koljaiczek blieb drei Wochen lang verborgen, gewöhnte seinem Haar eine neue, gescheite Frisur an, nahm sich den Schnauz ab, versorgte sich mit unbescholtenen Papieren und fand Arbeit als Flößer Joseph Wranka. Warum aber mußte Koljaiczek mit den Papieren des bei einer Schlägerei vom Floß gestoßenen, ohne Wissen der Behörden oberhalb Modlin im Fluß Bug ertrunkenen Flößers Wranka in der Tasche, bei den [25] Holzhändlern und Sägereien vorsprechen? Weil er [...] dort Streit mit dem Sägemeister wegen eines von Koljaiczeks Hand aufreizend weißrot gestrichenen Zaunes bekommen hatte. Gewiß um der Redensart recht zu geben, die da besagt, man könne einen Streit vom Zaune brechen, brach sich der Sägemeister je eine weiße und eine rote Latte aus dem Zaun, zerschlug die polnischen Latten auf Koljaiczeks Kaschubenrücken zu soviel weißrotem Brennholz, daß der Geprügelte Anlaß genug fand, in der folgenden, sagen wir, sternenklaren Nacht die neuerbaute, weißgekälkte Sägemühle rotflammend zur Huldigung an ein zwar aufgeteiltes, doch gerade deshalb geeintes Polen werden zu lassen.
Koljaiczek war also ein Brandstifter, ein mehrfacher Brandstifter, denn in ganz Westpreußen boten in der folgenden Zeit Sägemühlen und Holzfelder den Zunder für zweifarbig aufflackernde Nationalgefühle. Wie immer, wenn es um Polens Zukunft geht, war auch bei jenen Bränden die Jungfrau Maria mit von der Partie, und es mag Augenzeugen gegeben haben - vielleicht leben heute noch welche - die eine mit Polens Krone geschmückte Mutter Gottes auf den zusammenbrechenden Dächern mehrerer Sägemühlen gesehen haben wollen. Volk, das bei Großbränden immer zugegen ist, soll das Lied von der Bogurodzica, der Gottesgebärerin, angestimmt haben - wir dürfen glauben, es ging bei Koljaiczeks Brandstiftungen feierlich zu: es wurden Schwüre geschworen. [...].
[35] Man hat die Leiche meines Großvaters nie gefunden. Ich, der ich
fest daran glaube, daß er unter dem Floß seinen Tod schaffte,
muß mich, um glaubwürdig zu bleiben, hier dennoch bequemen, all
die Versionen wunderbarer Rettungen wiederzugeben.
Da hieß es, er habe unter dem Floß eine Lücke zwischen den
Hölzern gefunden; von unten her gerade groß genug, um die
Atmungsorgane über Wasser halten zu können. Nach oben hin soll
sich die Lücke dergestalt verengt haben, daß es den Polizisten,
[36] die bis in die Nacht hinein die Flöße und sogar die
Schilfhütten auf den Flößen absuchten, unsichtbar blieb.
Dann, im Schutz der Dunkelheit - so hieß es weiter - habe er sich treiben
lassen, habe zwar erschöpft, doch mit einigem Glück das andere
Mottlauufer und das Gelände der Schichauwerft erreicht, habe
dort im Schrottlager Unterschlupf gefunden und sei später, wahrscheinlich
mit Hilfe griechischer Matrosen, auf einen jener schmierigen Tanker gelangt,
die schon manch einem Flüchtling Schutz geboten haben sollen.
Andere behaupten: Koljaiczek, der ein guter Schwimmer mit einer noch besseren
Lunge war, unterschwamm nicht nur das Floß; auch die beträchtliche
restliche Breite der Mottlau durchtauchte er, schaffte mit Glück das
Festgelände der Schichauwerft, mischte sich dort, ohne Aufsehen zu erregen,
unter die Werftarbeiter und schließlich unters begeisterte Volk, sang
mit dem Volk "Heil dir im Siegerkranz", hörte sich noch
beifallsfreudig des Prinzen Heinrich Taufrede auf Seiner Majestät
Schiff "Columbus" an, verdrückte sich nach geglücktem Stapellauf
mit der Menge in halb getrockneten Kleidern vom Festgelände und avancierte
am nächsten Tag schon - hier trifft sich die erste mit der zweiten
Rettungsversion - zum blinden Passagier auf einem der berüchtigten
griechischen Tanker.
Der Vollständigkeit halber sei hier noch die dritte unsinnige Fabel
erwähnt, die meinen Großvater gleich Treibholz in die offene See
treiben ließ, wo ihn prompt Fischer aus Bohnsack auffischten
und außerhalb der Dreimeilenzone einem schwedischen Hochseekutter
übergaben. Dort, auf dem Schweden, ließ ihn die Fabel dann langsam
und wunderbarerweise wieder zu Kräften kommen, Malmö erreichen
- und so weiter, und so weiter.
Das alles ist Unsinn und Fischergeschwätz. Auch gebe ich keinen Pfifferling
für die Aussagen jener in allen Hafenstädten gleich
unglaubwürdigen Augenzeugen, welche meinen Großvater kurz nach
dem ersten Weltkrieg in Buffalo / USA gesehen haben wollen. [37] Joe
Colchic soll er sich genannt haben. Holzhandel mit Kanada gab man als
sein Gewerbe an. Aktien bei Streichholzfirmen. Begründer von
Feuerversicherungen. Schwerreich und einsam beschrieb man meinen
Großvater: in einem Wolkenkratzer hinter riesigem Schreibtisch sitzend,
Ringe mit glühenden Steinen an allen Fingern tragend, mit seiner Leibwache
exerzierend, die Feuerwehruniform trug, polnisch singen konnte
und Phönixgarde hieß.
Der Kartenauszug (aus: ANDREES Allgemeiner Handatlas in 221 Haupt- und 192 Nebenkarten, 6., völig neubearb. u. verm. Auflage, Berlin u. Leipzig 1914, Bl. 45/46 West- und Ostpreußen, R.45) entspricht einer Fläche von etwa 28 x 28 km
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Wird ergänzt * Abschrift, Layout, Zusätze, Vorwort (c) Dr. W. Näser, Marburg, Stand: 12.10.2011