Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Bonhoeffer, Dietrich (1906-1945), aus: Haftbericht (1944/45)
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
Erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiß an jedem neuen Tag.
(Dezember 1944)
VORBEMERKUNG: Bonhöffer wird als sechstes Kind eines
bekannten Psychiaters und Neurologen in Breslau geboren, studiert ab 1923
Theologie in Tübingen und Berlin; dort Promotion 1927 und Habilitation
1930. 1928 wird er Vikar in Barcelona, lernt 1930 in New York die Ziele der
Ökumene kennen, wird 1931 Privatdozent und Studentenpfarrer in
Berlin und betreut - nach vergeblichem Optimismus - 1934 zwei Gemeinden in
London. 1935 leitet er ein Predigerseminar der (als Nachfolge des
Pfarrer-Notbundes 1934 zusammen mit
Martin
Niemöller in Barmen gegründeten) sog.
Bekennenden
Kirche. Aufgrund seiner europaweiten, ökumenischen Beziehungen
fungiert er (ab 1940) als Informant zwischen dem oppositionellen Kreis in
der militärischen Abwehr und einzelnen Widerstandsgruppen im
Ausland. 1942 trifft er in Schweden George Kennedy Allen Bell (1883-1958),
den Bischof von Chichester; beide erörtern Friedenspläne nach einer
Ausschaltung Hitlers. "Er war es", sagte Bell 1948, "durch den ich in engster
Freundschaft den wirklichen Charakter des Konfliktes erkennen lernte [...].
Er war glasklar in seinen Überzeugungen. So jung er war, so demütig
blieb er. Er sah die Wahrheit und sprach sie aus, ohne einen Anflug von Furcht."
Das britische Außenministerium weigert sich jedoch, mit einer neuen
deutschen Regierung Frieden zu schließen, ohne daß diese
bedingungslos kapituliert.
Schon ab 1940 unter Beobachtung, wird er im Frühling 1943 wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet und in das Militärgefängnis Berlin-Tegel eingeliefert. Nach strenger Isolierhaft wird er im Okt. 1944 in den berüchtigten Gestapo-Keller (Prinz-Albrecht-Straße) überstellt und danach ins KZ Buchenwald. Einen Tag nach der Verschleppung durch die SS wird er am 9. April 1945 zusammen mit Admiral CANARIS und anderen Verschwörern im KZ Flossenbürg (Bayern) gehängt. Sein "Haftbericht", den wir in Auszügen lesen und diskutieren, schildert in nüchterner, leidenschaftsloser Form die Verhältnisse in der Berliner Zeit. W.N.
Die Aufnahmeformalitäten wurden korrekt erledigt. Ich wurde für die erste Nacht in eine Zugangszelle eingeschlossen; die Decken auf der Pritsche hatten einen so bestialischen Gestank, daß es trotz der Kälte nicht möglich war, sich damit zuzudecken. Am nächsten Morgen wurde mir ein Stück Brot in die Zelle geworfen, so daß ich es am Boden auflesen mußte. Der Kaffee bestand zu einem Viertel aus Kaffeesatz. Von außen drangen in meine Zelle zum erstenmal jene wüsten Beschimpfungen der Untersuchungsgefangenen durch das Personal, die ich seither täglich von morgens bis abends gehört habe. Als ich mit den anderen Neueingelieferten anzutreten hatte, wurden wir von einem Schließer als Strolche etc. etc. tituliert, jeder wurde nach dem Grund seiner Verhaftung gefragt: als ich sagte, daß mir dieser nicht bekannt sei, antwortete der Schließer höhnisch lachend: »Den werden Sie schon bald genug erfahren!« Es dauerte ein halbes Jahr, bis ich einen Haftbefehl erhielt. Beim Durchgehen der verschiedenen Büros wollten gelegentlich Unteroffiziere, die meinen Beruf erfahren hatten, sich kurz mit mir unterhalten. Es wurde ihnen bedeutet, daß niemand mit mir sprechen dürfe. Während des Badens tauchte plötzlich ein mir unbekannt gebliebener Unteroffizier auf und fragte mich, ob ich Pastor N[iemöller] kenne; als ich dies bejahte, rief er: »Das ist ein guter Freund von mir« und verschwand wieder. Ich wurde in die abgelegenste Einzelzelle auf dem obersten Stock gebracht; ein Schild, welches jedem den Zutritt ohne besondere Genehmigung verbot, wurde angebracht. Es wurde mir mitgeteilt, daß mein Schriftverkehr bis auf weiteres gesperrt sei, daß ich nicht, wie alle anderen Häftlinge, eine halbe Stunde des Tages ins Freie dürfe, worauf ich der Hausordnung gemäß einen Anspruch habe. Ich erhielt weder Zeitungen noch Rauchwaren. Nach 48 Stunden wurde mir meine Bibel zurückgegeben. Sie war darauf untersucht worden, ob ich Säge, Rasiermesser etc. eingeschmuggelt hatte. Im übrigen öffnete sich die Zelle in den nächsten zwölf Tagen nur zum Essenempfang und zum Heraussetzen des Kübels. Es wurde kein Wort mit mir gewechselt. Ich blieb ohne Mitteilung über Grund und Dauer meiner Haft. Wie ich aus Bemerkungen entnahm und wie sich auch bestätigte, war ich auf der Abteilung für die schwersten Fälle untergebracht, wo die zum Tode Verurteilten und an Händen und Füßen Gefesselten lagen.
In der ersten Nacht in meiner Zelle konnte ich wenig schlafen, da in der Nebenzelle ein Häftling mehrere Stunden hintereinander laut weinte, ohne daß sich jemand darum kümmerte. Ich glaubte damals, das würde auch zu den allnächtlichen Erlebnissen gehören; es hat sich jedoch in all den folgenden Monaten nur noch einmal wiederholt. Von dem eigentlichen Betrieb im Hause bekam ich in diesen ersten Tagen völliger Isolierung nichts zu sehen; nur aus dem fast ununterbrochenen Schreien der Schließer formte ich mir ein Bild von den Vorgängen. Der wesentliche Eindruck, der bis heute derselbe geblieben ist, bestand darin, daß hier der Untersuchungshäftling bereits als Verbrecher behandelt wird und daß praktisch für den Gefangenen keine Möglichkeit besteht, sich bei ungerechter Behandlung zu seinem Recht zu verhelfen. Später hörte ich mehrfach Gespräche von Schließern, in denen sie ganz unverblümt sagten, bei einer eventuellen Meldung eines Gefangenen über ungerechte Behandlung oder gar darüber, geschlagen worden zu sein - was an sich streng verboten ist -, würde man doch niemals dem Gefangenen, sondern immer ihnen glauben, zumal sich immer ein Kamerad finden werde, der unter Eid für sie aussagen würde; ich habe auch von Fällen erfahren, in denen diese üble Praktik befolgt worden ist. [...]
Tonangebend sind diejenigen Schließer, die den Gefangenen gegenüber den übelsten und brutalsten Ton anschlagen. Der ganze Bau hallt von wüsten Schimpfworten ehrenrühriger Art, so daß auch ruhigere und gerechtere Schließer sich davon angeekelt fühlen; aber sie können sich kaum durchsetzen. Gefangene, die später freigesprochen werden, müssen sich hier während monatelanger Untersuchungshaft wie Verbrecher beschimpfen lassen und sind allem völlig wehrlos ausgeliefert, da Beschwerdemachen des Gefangenen rein theoretisch ist. Private Besitzverhältnisse, Zigaretten, Versprechungen für später spielen eine erhebliche Rolle. Der kleine Mann ohne Beziehungen etc. muß alles über sich ergehen lassen. Dieselben Leute, die sich an anderen Gefangenen austoben, begegnen mir mit kriecherischer Höflichkeit. Versuche, mit ihnen ein vernünftiges Wort über die Behandlung aller anderen Gefangenen zu sprechen, scheitern daran, daß sie im Augenblick alles zugeben, aber eine Stunde später dieselben wie vorher sind. Ich darf nicht unterlassen zu sagen, daß auch eine Anzahl der Schließer ruhig, sachlich und nach Möglichkeit freundlich mit den Gefangenen umgeht; aber sie bleiben meist in untergeordneten Posten. [...]
Der Gefangene kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß er die ihm zustehenden Rationen nicht voll erhält. [...] Ein gelegentlicher Vergleich zwischen Gefangenen- und Personalkost ist einfach verblüffend. Unter aller Kritik ist das Sonntags- und Feiertagsmittagessen; es besteht aus einer völlig fett-, fleisch- und kartoffellosen Wasserkohlsuppe. An diesen Tagen werden keine Essensproben vorgenommen. Daß die Verpflegung bei längerer Haft für junge Leute völlig unzulänglich ist, scheint mir unzweifelhaft. Eine Gewichtsstatistik der Gefangenen wird nicht geführt. Obwohl es sich um Untersuchungsgefangene handelt und noch dazu um Soldaten, die zum Teil direkt zur Truppe entlassen werden, ist es streng verboten, sich Eßwaren schicken zu lassen; das wird den Häftlingen unter Androhung schwerer Strafen mitgeteilt. Eßwaren, selbst Eier und belegte Brote, die den Häftlingen von Angehörigen bei Besuchen mitgebracht werden, werden zurückgewiesen. Das schafft bei Besuchern und Häftlingen große Verbitterung. [...]
Der weitaus größte Teil der Untersuchungshäftlinge verbringt den Tag ohne jede Arbeit, obwohl die meisten um Arbeit bitten. Sie erhalten aus einer sehr mittelmäßigen Bücherei in der Woche drei Bücher. Beschäftigungsspiele jeder Art (Schach etc.) sind auch in den Gemeinschaftszellen verboten und werden dort, wo Häftlinge sich solche behelfsmäßig angefertigt haben, weggenommen, die betreffenden Häftlinge werden bestraft. Eine gemeinnützige Beschäftigung für die ca. 700 Gefangenen, wie sie z.B. in der Anlegung von Luftschutzunterständen bestehen würde, wird nicht unternommen. Gottesdienste gibt es nicht. Die zum Teil sehr jugendlichen Gefangenen (u.a. Flakhelfer) müssen unter dem Mangel an Beschäftigung und Betreuung besonders in langer Einzelhaft Schaden an Körper und Seele leiden. [...]
In den Wintermonaten mußten die Gefangenen oft mehrere Stunden lang im Dunkeln sitzen, da aus Trägheit des Personals das Licht in den Zellen nicht eingeschaltet wurde. Wenn die Gefangenen, denen das Recht auf Beleuchtung zusteht, sich in solchen Fällen durch Herausstecken der Fahne oder durch Klopfen bemerkbar machten, wurden sie vom Personal wütend angeschrien und das Licht wurde bis zum nächsten Tag nicht eingeschaltet. Auf die Pritschen dürfen sich die Gefangenen erst beim Zapfenstreich legen, so daß sie die Stunden bis dahin völlig im Dunkeln sitzen müssen. Das ist innerlich sehr zermürbend und erzeugt nur Bitterkeit. [...]
Wird ergänzt * Quelle: Internet * Layout W. Näser, MR, 4.3.2002 * Stand: 4.7.2002