Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002
Halm, August (1869-1929): Vom Schicksal der Musik Beethovens.
Aus: Beethoven (1927)
VORBEMERKUNG. Der Komponist, Musikästhetiker und Musikerzieher A. Halm wirkte 1903-06 am Landerziehungsheim Haubinda, 1906-10 und 1920-29 an der freien Schulgemeinde Wickersdorf 1) und war Wortführer der musikalischen Jugendbewegung. In seinen Büchern setzte er sich ein für eine neue, die inneren Formen erfassende Musikästhetik. Seine Sprache ist direkt, zupackend, einleuchtend, eben die eines Pädagogen. Und deshalb findet nachstehender Textauszug Eingang in mein Corpus. W.N.
Friedrich Nietzsche nennt einmal einige erlauchte Denker als solche, an denen er sich immer wieder orientiert, die er bei wichtigen Entscheidungen befragt. Darunter ist Pascal; was dieser sagt, ist gewiß von dem, was Nietzsche sagt, so weit entfernt als nur möglich. Nietzsche will ihm ja auch gar nicht Gefolgschaft leisten; aber er will ihn in seiner geistigen Nähe. haben, um sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Ich habe selbst lange Zeit hindurch Beethovens Musik widerstrebt, und hätte ihn rundweg meinen Feind genannt, wenn ich die Unbescheidenheit, ja Anmaßung dazu aufgebracht hätte (denn ein Feinschaftsverhältnis würde doch eine ungefähre Ebenbürtigkeit voraussetzen). Mein Gefühl sah ihn als Feind; nur verbot mir besonnene Überlegung, ihn so zu nennen. In dieser Zeit nun habe ich keines Meisters Musik so viel gespielt als eben Beethovens, von dem ich also weder loskam noch auch loskommen wollte: denn beides, Gefühl wie Verstand, hielt mich an seinen Werken fest, als eben solchen, an denen ich mich orientieren mußte.
Nehmen wir an, eine Sintflut stünde uns bevor und wir, als einige Auserwählte, wüßten darum, kennten auch einen Berg Ararat, an den sie nicht hinreichen wird; wir müßten, ein kleines Völkchen, uns auf die Enge seines Raumes zusammendrängen und dürften von der ganzen Musik nur die Werke zweier Meister mitnehmen. Welche würden wir wählen; welche Musik also halten wir für diejenige, die wir für die Nachwelt vor aller anderen retten müßten, weil sie den Bestand der Musik am besten gewährleistet, weil sie am deutlichsten verkündet, was eigentlich Musik sei? Ich würde sagen: Bach und Beethoven. Und das gewiß nicht aus persönlicher Zuneigung; es gibt Musik, die mir viel näher steht, und hätte ich nur für meinen Bedarf zu wählen, wäre ich z.B. allein auf eine öde Insel verbannt und dürfte ebenfalls nur zweier Meister Werke mit mir führen, so würde ich, auf Beethoven verzichtend, Bach und Bruckner wählen. Ich finde Bruckners Symphonien vollkommener, schöner, erhabener als die Symphonien Beethovens; sie sind aber, gerade in ihrer Vollkommenheit, ein Einzelfall, von dem aus, wie ich mehr und mehr glaube, keine Wege mehr weiter führen; oder: sie scheinen mir selbst nicht mehr eigentlich produktiv, sondern vielmehr das Endziel einer gewaltigen Produktivität zu sein. Denke ich mich so als einsamen Verbannten auf irgendeinem Salas y Gomez, so dürfte ich freilich ausschließlich für mich selber sorgen, und ich würde mich ganz gewiß an Bruckners Geist mehr erbauen und trösten als an Beethovens. Zu wissen, daß die Musik einmal zu solcher Vollendung und Größe emporwachsen konnte, und dieses Bild immer wieder vor Augen und Ohren haben zu dürfen: das wähle ich als das für mich und meine hier vorgestellte Lage Wichtigste. Anders aber müßte ich wählen, wenn ich, wie im ersten Fall, mein Gewissen zu befragen hätte und mich für den Bestand der Musik verantwortlich fühlen müßte: hier hätte Bruckner vor Beethoven zu weichen.
Vor etwa 20 Jahren galt ein Zweifel an Beethoven als Zeichen von völligem Mangel jeden Musikverständnisses, jeder Empfänglichkeit für musikalische Wirkung, ja beinahe als Symptom von Irrsinn oder Stumpfsinn. Als ich es einmal wagte, Zweifel öffentlich zu äußern, habe ich mir auch empfindlich geschadet. Das ist etwas anders geworden; vor einigen Jahren bekannte Busoni in einem Aufsatz, daß er Mozart höher schätze als Beethoven, und zwar meinte er etwas Ähnliches wie das, was ich damals meinte - nur daß ich nicht Mozart zum Gegengott wählte. Busoni spricht von der Haltung und Gesinnung und urteilt hier, daß Mozart der Überlegene, der Edlere, der größere Überwinder sei; Beethovens Heftigkeit, Gewalt und Gewaltsamkeit bedeutete nicht die große Kraft, die in Mozarts Selbstbeherrschung liege. So etwas kann man ja sagen (oder wenigstens heute, und von einem Busoni ließ man es sich sagen), und ich will es weder bestreiten noch unterschreiben. Aber das will ich sagen, daß es darauf nicht in erster, und wiederum auch nicht in letzter Linie ankomme; vielleicht ist auch Mozart so ein Einzelfall wie Bruckner gewesen. (Daß mir Bruckner sehr viel mehr ist als Mozart, will ich nur der Ehrlichkeit halber bekennen.)
Zu Beethoven führen, musikgeschichtlich betrachtet, direkte Linien nur von [Carl] Philipp Emanuel Bach, dem Erfinder der Sonatenform 2) , und von Haydn, dem ersten großen Könner dieser Form; und zwar führt nicht etwa nur eine Linie von Philipp Emanuel über Haydn, sondern auch eine direkte von Philipp Emanuel, ohne daß die Haydn berührte.
Davon wäre später noch zu reden; für jetzt führe ich das nur in dem Sinn an, daß die Erscheinung Beethovens nicht einen abwegigen Sonderfall der Musikgeschichte, sondern sozusagen einen Normalfall, ja einen der wenigen Normalfälle bedeutet, und einen Sonderfall nur insofern, als seine Musik eben ganz ausnahmsweise gut, gelungen, gesund, zielbewußt und gekonnt ist. [..]
August Halm schließt sein Buch mit folgenden Worten (S. 336):
Was uns angeht und uns obliegt, und was uns wahrlich zusetzen und heiß machen sollte, ist die Einsicht: Nichts von der ganzen Musik, die wir kennen, wenn es uns Beethovens Musik raubte, böte uns Ersatz für diese; verlören wir den Zugang zu Beethoven: keiner größeren, keiner jämmerlicher unverantwortlichen geistigen Verarmung könnten wir uns selber schuldig machen.
Nicht einmal Bach böte einen Ersatz. Ich verehre ihn als den Meister
aller Meister, und halte seine Musik für die edlere. Was aber Beethoven
gelang, so vollkommen gelang, daß wir die Idee fast mit Händen
greifen können, das ist die Musik der Phasen, der
Verwandlungen, der Zeiten und Lebensalter, die dennoch
eine untrennbare, eine grandiose Einheit bildet: eine Errungenschaft in der
Geschichte des Musik-Geistes, die an Wert durch keine andere überwogen
wird.
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1) 1906 gründet Gustav Adolf Wyneken (1875-1964) zusammen
mit Paul Geheeb die "Freie Schulgemeinde Wickersdorf" im Thüringer Wald.
Dieses reformpädagogische Projekt hat - im Sinne einer Weltanschauung
- die Erziehung als Formung des Menschen zum Ziel: das Verhältnis
zwischen Lehrer und Schüler soll auf Kameradschaft und
Führertum basieren in einer Schule mit Koedukation und
fortschrittlicher Sexualerziehung. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt
auf der künstlerisch-musischen Erziehung.
2) Exposition - Durchführung - Reprise (Wiederaufnahme) / Coda (Schluß)
Wird ergänzt * HTML: Dr. W. Näser, MR 18.2.2002 * Stand: 2.2.2k5