Subject: Heart - Jeder kann sein Herz verlieren, ZDF 15.5.2000, 21.15 Uhr
Date: Tue, 16 May 2000 09:42:04 -0700
From: "Dr. Wolfgang Naeser" <naeser@mailer.uni-marburg.de>
Organization: Deutscher Sprachatlas, Univ. Marburg
To: info@zdf.de

Sehr geehrte Damen und Herren der für den Film zuständigen Redaktion und
des Programmbeirates,

ich artikuliere an dieser Stelle mein äußerstes Befremden über den am
15.5.2000 im ZDF gegen 22:15 gesendeten sogenannten Thriller aus
England, der mit dem an sich nicht ungewöhnlichen Hinweis begann, diese
Sendung sei nicht geeignet für junge Menschen unter 16 Jahren: das war
wohl noch das mindeste in diesem Fall. So abartig, wie der ganze Film
war, begann er auch, überhaupt scheint das Drehbuch, das, wie ich
gelesen habe, sogar als Vorlage für eine deutsche Produktion vorgesehen
war, dem Gehirn eines Paranoikers entstammt zu sein.

Ich bin weder prüde noch verneine ich die Visualisierung von Konflikten,
nur frage ich mich, was denn z.B. die Mütter und die Pfarrer unter den
Verantwortlichen (ich denke, sie sitzen sogar im Programmbeirat) sich
gedacht haben dabei, einen solchen Film anzukaufen und zu senden. Haben
wir denn nicht schon genug Gewalt in den Schulen und sogar in den
Kindergärten? Nun werden einige kommen und sagen, wir können uns nicht
dem entziehen, Gewalt und Konflikt sozusagen als Elemente des täglichen
Lebens auch in den Medien zu präsentieren, das sei auch und gerade gut
für die jungen Menschen, um sich damit auseinanderzusetzen. Dieses
abgedroschene Argument erinnert mich an die Aussage, eine überlaute
Disco sei auch nicht schlimm, junge Menschen verlangten nach lauter
Musik usw.

Vielleicht haben aber auch die sogenanten Verantwortlichen unter Ihnen
den Film gar nicht oder nur oberflächlich bzw. stichprobenweise
angesehen oder vielleicht gedacht, mit diesem psychologisierenden
Shocker eine neue Dimension ins Programmangebot zu bringen.

Gewalt und Menschenverachtung im ZDF: nicht neu, wie wir es aus
zahlreichen "Krimis" kennen, aber doch um eine Dimension "reicher".
Brutalität pur: im ZDF wohlgemerkt, nicht in einem der angeblich so sehr
gewaltverherrlichenden Privaten. Ja, ich möchte so weit gehen zu
behaupten, daß in einem dem Nationalsozialismus nahestehenden "Werk"
wohl kaum mehr an Menschenverachtung und Gewalt hätte präsentiert werden
können als in einigen (ich sage nicht: allen) Szenen dieses Films.
Gewalt auch mit Worten: seltsam, wo doch die Medien sonst ein so
empfindliches Sensorium haben, besonders wenn es darum geht, junge
Menschen und / oder Frauen nicht verbal zu traumatisieren. Aber wenn es
um filmische "Kunstwerke" geht, dann scheinen die, die es angeht,
Ausdrücke wie ficken oder Schwanz abschneiden nicht zu stören. Kunst ist
angeblich, was gefällt: besonders denen, die daran verdienen, scheint
es.

Da wird - in der Kulminationsszene - eine junge Frau brutal erschlagen,
sinkt mit blutüberströmten Kopf zu Boden. Dann kommt der Liebhaber dran,
wird zusammengedroschen und aus nächster Nähe erschossen. Der Mörder
richtet sich selbst, sinkt zusammen, ihm wird das "geborgte" Herz
herausgerissen, als blutende Fracht transportiert mit dem Ziel, es zu
beerdigen. Gedankengänge eines Geisteskranken, die per Fernsehen
Allgemeingut und damit Normalität werden können. Und wenn Heranwachsende
das gesehen haben, die Nacht nicht schlafen konnten, wird das Resultat
wieder den Schulen zugeschrieben oder der "Gewalt in der Familie": wie
üblich in solchen Fällen.

Sie, die für diese Ausstrahlung Verantwortlichen, sollten sich schämen.
Es gibt keine Entschuldigung. Und wenn sich das Gewaltpotential noch
weiter anhäuft, dann sollten Sie sich klar werden, daß Sie dazu
beigetragen haben. Als jemand, der noch die Anfänge des ZDF erlebte,
einer echten Alternative, kann ich nur sagen: Pfui Teufel. Und ich bin
nun endgültig um die Erkenntnis "reicher", daß das ZDF um keinen Deut
besser ist als die sogenannten Privaten, die im gegensatz zu Ihnen keine
Gebührensegnungen bekommen und ihre Existenz durch Werbung, Klamauk und
Gewalt sichern müssen.

Mit besten Grüßen an die, die der Sache auf den Grund gehen und
vielleicht noch gegensteuern können oder wollen,
Ihr Wolfgang Näser
http://staff-www.uni-marburg.de/~naeser/welc.htm