Einige Bemerkungen zur Behandlung des historischen deutschen Wortschatzes

Wolfgang Näser, MR, 26.10.1982

Wer sich als angehender deutscher Sprachwissenschaftler oder Sprachlehrer des Deutschen in der Sekundarstufe I oder II mit Lexikologie befaßt, kann bei der Behandlung der Einzelwortstruktur, des Gesamtwortschatzes und der gesellschaftlichen Implikationen die Phänomene nicht allein vom synchronen Standpunkt aus betrachten. Denn es gibt kaum ein autothones, bodenständiges Wort unserer Sprache, das nicht auf eine wissenschaftlich relevante Wortgeschichte zurückblicken kann. In diesem Sinne gilt auch hier der Titel von MALKIELs Werk "Each Word has A History of Its Own". Dem haben Zeitschriften wie bes. die Zs. für deutsche Wortforschung  [ZfdW] / Zs. f. dt. Sprache, die Muttersprache, der Sprachdienst usw. Rechnung zu tragen versucht. Besonders in der ZfdW finden sich sehr viele Aufsätze und Notizen zur deutschen Wortgeschichte und sehr viele Wortlisten (Glossare) zu einzelnen historisch relevanten Teilbereichen. Auch das große Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm (1. Aufl. 1854-1960) liefert zu jedem individuellen Lemma (Einzelwort, Lexem) im Rahmen des Interpretaments Daten zur Wort-Geschichte.

Im wortgeschichtlichen Kontext ist nicht nur die Etymologie (Herkunft) bedeutsam, sondern auch der graphematische, morphologische und semantische Wandel, den das Lexem möglicherweise im Laufe einer 1.200 Jahre umfassenden Geschichte mitgemacht hat. Andere Wörter wiederum gehören nicht zu den frühestüberlieferten, aus dem Germanischen heraus stammenden Erbwörtern des Deutschen (vgl. Liste in MITZKA, Wortkunde S. 45 [Erbwörter aus dem Idg,], S. 48 [EW aus dem German.] und S. 50 [Erb- bzw. Lehnwörter aus nicht-idg. Sprachen]), sondern wurden in verschiedenen Epochen der dt. Sprachgeschichte entweder aus anderen Sprachen entlehnt oder als Fremdwörter übernommen bzw. neu gebildet, größtenteils innerhalb der Fach- und Sondersprachen.

Man kann davon ausgehen, daß das Wachstum des deutschen Wortschatzes nicht linear, sondern eher logarithmisch verlaufen ist. Das sieht man besonders daran, daß gerade in jüngster Zeit, nach 1945, sehr viele Neubildungen und Fremdwörter in die dt. Sprache eingedrungen sind. Wissenschaftler wie Broder CARSTENSEN haben sich mit den unzähligen Entlehnungen aus dem angloamerikanischen Bereich beschäftigt, andere ihr Augenmerk dem speziellen, ideologiegebundenen Wortschatz der sog. NS-Sprache (1933-1945) zugewandt. Hier ist z.B. Cornelia BERNINGs Aufsatzreihe in der ZfdW (1960-1963) zu nennen oder Siegfried BORKs Monographie "Mißbrauch der Sprache" (Bern 1970). Ebenso relevant ist die seit 1949, der Gründung beider deutscher Staaten, zu beobachtende kontinuierliche Auseinanderentwicklung des gesellschaftlich gebundenen Wortschatzes in BRD und DDR: besonders eindringlich zu beobachten in regionalen Massenmedien (Tageszeitungen) und dem Fernsehen (z.B. Aktuelle Kamera / Tagesschau). Andererseits werden bes. durch Rundfunk und Fernsehen viele Begriffe aus dem "Kapitalismus" des dt. Westens in die DDR hineingetragen (Pop-Gruppen, Lotto, Toto, Diskotheken, Blue Jeans usw.) und führen bes. bei der Jugend zu einer Art Sprach- und Ideologieausgleich. Beobachtet man den z.T. der Tagesaktualität angepaßten, kurzlebigen Wortschatz der Gegenwart aus Politik und Gesellschaftsleben, so zeigt sich klar die Tendenz zu stetigem Wandel. Dauernd entstehen neue, vergehen "ausgediente" Wörter, die Sprache ist flexibel und reagiert wie ein Seismograph auf jede relevante gesellschaftliche Neuerung oder Veränderung.

Im Rahmen eines Mittelseminars wie Lexikologie können alle diese Komplexe nur angedeutet bzw. mit wenigen relevanten Beispielen aufgezeigt und verdeutlicht werden.

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