Interview Werner Bohnenberger (hr) mit Prof. Reiner Hildebrandt
(anläßlich des 100-jährigen Bestehens des Forschungsinstituts für deutsche Sprache "Deutscher Sprachatlas" und des 450jährigen Bestehens der Philipps-Universität im Jahre 1977)

Das Folgende beruht auf einem im Sommer 1977 von mir gemachten Tonbandmitschnitt einer Sendung des Hessischen Rundfunks, in der Werner Bohnenberger anhand von "Selbstporträts" 4 kleinere Institute und deren Forschungsintentionen und -schwerpunkte vorstellte (AG Vergleichende Ethnosoziologie, Forschungstelle für Vergleichende Erziehungswissenschaft, Qumran-Forschungsstelle, Forschungsinstitut für deutsche Sprache Deutsche Sprachatlas). Aus dieser Sendung transkribiere ich - ausschließlich zum wissenschaftlichen und didaktischen Gebrauch - das den "Sprachatlas" betreffende, mit dem damaligen Geschäftsführenden Direktor Prof. Dr. Reiner Hildebrandt geführte Interview.

Marburg, den 14.6.2007   W. Näser

B: Kommen wir zum Schluß zu einem seit Jahrzehnten international bekannten Marburger Forschungsunternehmen, dem Forschungsinstitut für deutsche Sprache Deutscher Sprachatlas, das jetzt eine Ständige Betriebseinheit im Fachbereich "Allgemeine und germanistische Linguistik und Philologie" ist. Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts hatte sich aus früheren Ansätzen von Mundartwörterbüchern das Vorhaben einer regelrechten Sprachgeographie entwickelt. Der rheinische Forscher Georg Wenker begann damals zunächst für einen rheinischen Sprachatlas Material zu sammeln, weitete sein Feld aber bald auf das gesamte deutsche Sprachgebiet aus. So geht der zwischen 1926 und 1956 erschienene Deutsche Sprachatlas teilweise auf Wenkers Material zurück, vor allem aber auf seine Befragungsmethode mit Hilfe von 40 Sätzen, die er in die jeweilige Mundart übersetzen ließ, um daran die Mundartdifferenzen vergleichen zu können. Diese Fragebogenmethode, mit der die deutschen Dialekte geographisch fixiert wurden, ist dann auch von der internationalen Sprachwissenschaft weitgehend rezipiert worden. Professor Reiner Hildebrandt, einer der Direktoren der verschiedene Abteilungen umfassenden Betriebseinheit Deutscher Sprachatlas:

H: Georg Wenker hat diese 40 Sätze eigentlich konstruiert, um im Endeffekt aus diesen 40 Sätzen möglichst lückenlos das deutsche Lautsystem oder die Lautsysteme, wie sie sich in den Mundarten darstellen, zu eruieren. Wenn es ihm also gelang - und es ist ihm gelungen -, aus 50.000 Schulorten von kompetenten Leuten, den Volksschullehrern, diesen Fragebogen ausgefüllt zu bekommen, so war das eine recht gute Grundlage dafür, daß wir nun Ort für Ort im deutschen Sprachgebiet dokumentieren können, wie speziell dort zunächst die Laute, aber auch bestimmte Formen in der Sprache aussehen, so daß wir dann diese 40 Wenker-Sätze in die einzelnen Teile, in die Wörter und Wortformen zerlegt haben und jede einzelne Form, jeden einzelnen Laut nun extra und einzeln kartiert haben. Der Sprachatlas ist insofern dann führend für die ganze Welt geworden, denn es hat sich gezeigt, daß man nun Raumstrukturen sehr schön herauskristallisieren kann. Wir haben einige tausend Karten dann aus den 40 Wenkersätzen erarbeitet und können damit also ein lückenloses System der deutschen Dialekte darbieten und die Einteilungskarten, die wir hier geschaffen haben, und die Übersichtskarten, die dokumentieren das zunächst in groben Zügen, und jeder, der nun genau weiterarbeiten will, auch regional genau weiterarbeiten will, schaut als erstes auf den Deutschen Sprachatlas, weiß, wie die Grundlagen sind und kann dann eventuell speziell und differenziert weiterarbeiten.

B: Das zweite große Unternehmen des Instituts war dann der Deutsche Wortatlas, der in den Jahren 1939 bis 1942 nach demselben Fragebogenverfahren begonnen, zum großen Teil aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ausgearbeitet wurde. Professor Reiner Hildebrandt:

H: Man hat uns des öfteren gesagt und gefragt: "Ja, wenn eure beiden Atlanten fertig sind, dann könnt ihr doch eigentlich zumachen." Das ist gerade nicht der Fall. Diese beiden Atlanten können nur dokumentieren, wie Sprache zu einer bestimmten Zeit um 1900 oder um 1940 ausgesehen hat, deutsche Sprache in den Dialekten, aber das ist im Grunde eine Momentaufnahme, und wir müssen eigentlich immer dranbleiben und müssen immer den neuesten Stand irgendwie mit im Griff haben, so daß also diese Karten - ja, vergleichbar mit Wetterkarten, nicht, eine Wetterkarte gilt nur für einen Tag, eine Sprachkarte gilt um Grunde nur für einen bestimmten Zeitraum, dann ändert sich das wieder.

B: Herr Professor Hildebrandt, in welcher Form werden denn nun die Ergebnisse Ihrer Forschung im Zusammenhang Deutscher Sprachatlas publiziert und für wen publizieren Sie oder wer sind die Abnehmer, sind das wissenschaftliche Bibliotheken, Universitätsinstitute?

H: Ja, also wir können zunächst einmal davon ausgehen, daß unsere großen Sprachatlanten als Forschungsgrundlagen zu gelten haben; wir stellen also mit den Sprachatlanten zunächst der Wissenschaft die Materialien bereit. Unsere Sprachkarten sind so diffizil gearbeitet, daß wirklich nur der Spezialist sich da zurechtfindet. Das sind sehr große und sehr langfristige Publikationen und auch sehr aufwendige Publikationen, die wir da leisten. Die weiteren Publikationen, d.h. also die Interpretationen, die Zusammengriffe solcher Sprachkarten, die geschehen in den verschiedensten Publikationsorganen: die Deutsche Dialektgeographie oder heute Deutsche Dialektographie hat schon über 100 Bände hervorgebracht, das sind also Untersuchungen, die seit 1910 etwa laufen, kontinuierlich weitergehen.

B: Vor zehn Jahren wurde im internationalen Rahmen das Projekt eines Europäischen Sprachatlas begonnen, den das Marburger Institut oder die jetzige Betriebseinheit Deutscher Sprachatlas, die aus dem Universitätsetat grundfinanziert und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird, ganz wesentlich Anteil hat. Die Betriebseinheit Deutscher Sprachatlas ist in verschiedene Abteilungen differenziert worden, deren bisher nicht genannte Arbeitsgebiete Professor Hildebrandt abschließend skizziert:

H: Von den Abteilungen her ergibt sich eine sehr differenzierte Publikationsintention, natürlich auch zum Beispiel von der Phonetischen Abteilung her, daß dort Arbeiten entstehen, die nun sehr exakt mit den apparativen Einrichtungen nun Sprache analysieren, Sonagramme werden hergestellt, es werden also die genauen Frequenzen der einzelnen Laute erhoben und verglichen mit anderen, und in der Linguistischen Datenverarbeitung, da kommt es darauf an, daß dort - und wir stecken mitten drin - Programme entwickelt werden, die nun für alle unsere Verfahren und wissenschaftlichen Auswertungsmöglichkeiten die maschinellen Errungenschaften einsetzen; in der Abteilung Hessen-Nassauisches Wörterbuch wird nach wie vor das Hessen-Nassauische Wörterbuch erarbeitet in fortlaufenden Lieferungen, wo also der Wortschatz einer bestimmten Dialektlandschaft, Hessen-Nassau, so exakt wie möglich erfaßt wird; diese Arbeit ist natürlich auch sehr langwierig und erstreckt sich über Jahrzehnte.

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