FORMEN SCHRIFTLICHER KOMMUNIKATION * DR. W. NÄSER * SS 1995 
 
   27.6.1995 
 
   Wir befassen uns heute schwerpunkmäßig mit der sog. Indirekten Rede 
   (engl. reported speech). Einen Text, der sehr viele Rede-Elemente bzw. 
   Aussagen enthält, können wir in die IR setzen, um damit zu dokumentieren, 
   daß es sich um Äußerungen einer "dritten Person" handelt und daß wir uns 
   ggf. mit diesen Äußerungen nicht identifizieren. 
   Sehr gut eignet sich für eine derartige Behandlung der Text einer poli-
   tischen Rede. Besuchen wir also eine (fiktive) politische Zusammenkunft, 
   in der es hoch her geht und in der brisante Themen zur Sprache kommen. 
   Unser (ebenfalls fiktiver) Journalist hat fleißig mitgeschrieben und die 
   Ansichten und Meinungen des Hauptredners zunächst in direkter Rede zusam-
   mengefaßt.
In seiner Ansprache sagte Dr. Meier unter anderem: 1 "Wir müssen heute den Gürtel enger schnallen. Die Probleme der Dritten Welt sind die unsrigen geworden, so daß es fraglich ist, ob sich die "Festung Europa" auf Dauer wird abschotten können. Wie wir alle sehen können, sind die Tage des Wirtschaftswunders vorbei, auch gibt es nicht 5 mehr unbegrenzte soziale Absicherung zum Nulltarif: dies schafft natur- gemäß Probleme, die wir in den fünfziger und sechziger Jahren noch nicht kannten. Es kursieren bereits Gerüchte, daß in absehbarer Zeit die Renten nicht mehr sicher seien, das Gespenst der Einheitsrente macht die Runde. So weit möchte ich nicht gehen. Noch ist die Bundesrepublik eines der 10 reichsten Länder der Erde, auch wenn nicht übersehen werden darf, daß die Staatsverschuldung inzwischen mehr als zwei Billionen DM beträgt. Worüber wir uns Gedanken machen müssen, das ist die Sicherheit und Stabi- lität des industriellen Standortes Deutschland. Ich sage dies angesichts dessen, daß immer mehr Industriekapital ins Ausland transferiert wird 15 und immer mehr Arbeitsplätze abgebaut werden, weil die Fertigung in Bil- liglohnländern oft nur ein Zehntel der Kosten ausmacht. Wachsende Arbeits- losigkeit bedeutet, daß immer weniger an Sozialversicherung eingezahlt, im gleichen Maße jedoch immer mehr aus dem Sozialtopf verbraucht wird; hinzu kommt unsere sehr ungünstige Alterspyramide. Auch wenn der soge- 20 nannte Generationenvertrag noch immer als unumstößlich angesehen wird, stellt sich doch die immer bedrohlichere Frage, wer denn in Zukunft die stetig zunehmende Zahl der älteren Menschen ernähren soll. Schon heute sehen sich viele Mitbürgerinnen und Mitbürger gezwungen, private Alters- und Krankenversicherungen abzuschließen, weil sie nicht mehr in den Genuß 25 der Leistungen kommen, deren sich noch die davorliegende Generation er- freuen konnte. Wer sich im Gesundheitswesen umsieht, wird unschwer fest- stellen, daß der gewöhnliche Kassenpatient nur noch eingeschränkt die Dienste hochqualifizierter Spezialisten in Anspruch nehmen kann, während den sogenannten Privatpatienten praktisch alle Türen offen stehen. Es 30 darf, liebe Mitbürger, nicht wieder dazu kommen, daß gesagt wird "Weil du arm bist, mußt du früher sterben". Es ist eine Schande, wenn es in diesem hochzivilisierten Land nicht genug Dialyseplätze gibt, wenn Nie- renpatienten auf eine Warteliste kommen und der Herr Professor oft nur für Privilegierte zu sprechen ist. Es ist ein Skandal, wenn einerseits 35 Unsummen ausgegeben werden zum Umbau von Regierungsgebäuden, anderer- seits nicht genug Kindergartenplätze vorhanden sind. Wir sind heute zusammengekommen, um diese Übelstände anzugehen und prak- tikable Lösungen zu erarbeiten; es darf nicht so ausgehen wie bei den letzten Klimakonferenzen, wo außer viel Gerede und hohen Spesen nichts 40 herauskam als heiße Luft. Wir machen es uns zur Aufgabe, auf der Grund- lage eines noch zu erarbeitenden Papiers erste konkrete Maßnahmen zu be- schließen, die zu einer Restrukturierung des Haushalts führen werden. Unser Ziel ist eine strengere Überwachung aller Staatsausgaben dahinge- hend, daß jeglicher Verschwendung von Steuergeldern ein Riegel vorge- 45 schoben wird. Wir werden hierzu regionale Kontrollgremien einrichten [...] Ein anderer Ausschuß wird sich mit der ebenfalls bedrohlich steigenden Kinder- und Jugendkriminalität befassen. In diesem Zusammenhang müssen wir auch allerhand Thesen analysieren, die von verschiedenen Gruupierun- gen in Umlauf gesetzt werden, um diese Gefahr zu verharmlosen oder in 50 fadenscheiniger Weise zu begründen. In der HÖR ZU wird behauptet, die Ur- sache sei vorwiegend im familiären Bereich zu suchen, wo von Eltern Ge- walt gegen die Kinder ausgeübt werde: diese Gewalt pflanze sich dann fort in dem, was die Kinder daraufhin tun. Der Gewaltbegriff, meine Damen und Herrn, ist freilich in letzter Zeit allzusehr verwässert worden, so gilt 55 als "psychische Gewalt" schon, wenn einem Kind gewisse Dinge verboten oder wenn Kinder ihrer Ansicht nach allzufrüh ins Bett geschickt werden. Auch sind die Elternhäuser bzw. Familien heute nicht mehr oder weniger "gewalthaltig" als etwa in den fünfziger oder sechziger Jahren, wo viel härter gearbeitet, viel mehr auf Disziplin und Ordnung geachtet wurde 60 und Kinder wie Eltern auf vieles verzichten mußten. Damals jedoch gab es nicht ein Fernsehen, wo inzwischen auf rund dreißig Kanälen pro Tag hunderte von Morden und anderer Gewält konsumiert werden kann, vor allem dann, wenn die Eltern gerade nicht da sind, um dies zu verbieten; auch sinkt ja beständigt die Zahl der Zweieltern-Familien, und die sogenannte 65 alleinerziehende Mutter hat mit Beruf und Haushalt so viel zu tun, daß sie den Überblick verliert, um noch beurteilen und steuern zu können, was die lieben Kinder an Fernsehen und Video so alles konsumieren. Das, was an Krimis, Action und Horror schon in den Nachmittagsstunden geboten wird, das wird schon im Kindergarten fleißig nachgespielt, und in die Schulen 70 werden nicht selten Messer oder gar Pistolen mitgenommen. Kinder bedrohen, erpressen, berauben, vergewaltigen ihre Mitschüler(innen), alles haarge- nau nach dem Vorbild des Fernsehens. Berufsschullehrer müssen um ihr Leben fürchten, wenn ihnen von baumlangen, athletischen Schülern erklärt wird, man werde sie "abstechen", wenn die Noten nicht besser würden. Die Schu- 75 len, meine Damen und Herren, sind nicht selten zu Mini-Zentren des Dro- genhandels und des Verbrechens geworden: diesen Trend müssen wir um jeden Preis bekämpfen." In einer anschließenden Pressekonferenz kam es zu tumultartigen Szenen, als Dr. Meier seine Thesen vorstellte und ihm "volksverhetzerische Tenden- 80 zen" vorgeworfen wurden. Er quittierte dies mit der lakonischen Bemerkung, niemand könne ihn davon abhalten, getreu der Devise "Tue recht und scheue niemand" seine Ziele weiter zu verfolgen. ÜBUNGEN: 1. Setzen Sie den Text in die Indirekte Rede! 2. Untersuchen Sie den Wortschatz der Rede und ordnen Sie ihn nach Sachgruppen! 3. Diskutieren Sie den Inhalt der Rede. Wie stehen Sie zu der angesprochenen Problematik? (c) WN 22061995