INT. SOMMERKURS DER PHILIPPS-UNIVERSITÄT 1993 * LITERATUR UND MEDIEN Kurs 6: Dr. Wolfgang Näser Text 5: Karl JASPERS (1883-1969): Die gegenwärtige Situation der Welt (1949) [Auszüge] VORBEMERKUNG: In vergleichsweise kargen Worten, aber dadurch umso eindring- licher zeichnet der Philosoph Jaspers ein nüchternes, von der jüngsten Ge- schichte geprägtes, teilweise erschreckendes und sehr pessimistisches Bild unserer Zeit und formuliert Gedanken, die für unser Rahmenthema bedeutsam sein können. Deshalb - und als Basis weiterführender Diskussionen - möchte ich nachfolgende Textauszüge mit Ihnen behandeln. W.N. 1 Die Vergangenheit ist für unsere Erinnerung lückenhaft, die Zukunft dunkel. Die Gegenwart allein könnte hell erscheinen. Denn wir sind doch ganz dabei. Aber gerade sie ist als solche uns undurchsichtig, denn sie würde nur klar aus dem vollen Wissen um die Vergangenheit, 5 von der sie getragen ist, und um die Zukunft, die sie in sich birgt. Wir möchten zum Bewußtsein der Situation unserer Zeit kommen. Aber diese Situation hat verborgene Möglichkeiten, die erst dann sichtbar werden, wenn sie sich verwirklichen. Unsere geschichtlich neue, erstmals entscheidende Situation ist die 10 reale Einheit der Menschheit auf der Erde. Der Planet ist für den Menschen zu einem verkehrstechnisch beherrschten Ganzen geworden, ist "kleiner", als einst das römische Imperium war. Zu diesem Augenblick führte die Entwicklung seit dem Zeitalter der Entdeckungen vor vierhundert Jahren. Aber noch bis zum Ende des 19. 15 Jahrhunderts blieb für uns die Geschichte wesentlich Europäische Geschichte. Die übrige Welt war für das damalige europäische Bewußt- sein Kolonialland, von zweitrangiger Bedeutung, bestimmt zur Beute für Europa. Nur unabsichtlich wurden schon damals die Grundlagen zur heute sich entfaltenden Weltgeschichte gelegt durch die Mächte, die 20 die großen Erdräume für sich zu gewinnen suchten. Im ersten Weltkrieg erfolgte wohl schon der Einsatz aus diesen Räumen. Aber er war doch noch Europäischer Krieg. Amerika zog sich wieder zurück. Erst der zweite Weltkrieg hat dem Einsatz aller, dem Globus im ganzen, sein volles Gewicht gegeben. Der Krieg in Ostasien war so ernst wie der 25 in Europa. Es war in der Tat der erste wirkliche Weltkrieg. Die Weltgeschichte als eine einzige Geschichte des Ganzen hat begonnen. Von hier aus erscheint die Zwischenzeit der bisherigen Geschichte als ein zerstreutes Gebiet von voneinander unabhängigen Versuchen, als vielfacher Ursprung von Möglichkeiten des Menschen. Jetzt ist 30 das Ganze zur Frage und Aufgabe geworden. Damit tritt eine völlige Verwandlung der Geschichte ein. Entscheidend ist: Es gibt kein Draußen mehr. Die Welt schließt sich. Die Erdeinheit ist da. Neue Gefahren und Chancen zeigen sich. Alle wesentlichen Probleme sind Weltprobleme geworden, die Situation eine 35 Situation der Menschheit. [...] Die Massen werden ein entscheidender Faktor. Der Einzelne zwar ist ohnmächtiger als je, aber der Einzelne als Glied der Masse, das "wir", scheint einen Willen zu gewinnen. Dieser Wille aber kann nicht ursprünglich in einer anonymen Masse er- 40 wachsen. Er wird durch Propaganda erweckt und gelenkt. Die Massen brau- chen Vorstellungen und Schlagworte. Ihnen muß gesagt werden, was sie wollen. Aber für das ihnen Gesagte muß der Boden in ihnen bereit sein. Der Staatsmann, der Denker, der Künstler, der Dichter muß sich an Kräfte in den Massen wenden, wenn er wirken will. Welche dies sind, 45 ist keineswegs vorherzusagen. Es charakterisiert die führenden Men- schen, an welche Triebe, Wertschätzungen, Leidenschaften sie sich wenden. Auf diese Führenden wirkt zurück, was sie in den Massen er- regen. Von daher wird ihnen bestimmt, wie sie selbst sein müssen, reagierend werden müssen. Sie sind Exponenten eines Massenwillens, 50 wenn sie nicht Diktatoren über dirigierte Sklavenmassen werden. Masse aber ist ein vieldeutiger Begriff. Masse heißt entweder einfach die Menge der Bevölkerung (und ist als solche jederzeit da), oder die augenblickliche Äußerung und das Verhalten von Menschen unter Sugge- stionen in akuten Situationen (und ist als solche ebenso plötzlich da 55 wie wieder verschwunden), oder die Minderwertigkeit der Vielen, des Durchschnitts, deren Dasein durch seinen Massendruck alles bestimmt (und ist als solcher die Erscheinung einer geschichtlichen Lage unter bestimmten Bedingungen, keineswegs endgültig minderwertig). Masse ist zu unterscheiden vom Volk: 60 Das Volk ist in Ordnungen gegliedert, ist seiner bewußt in Lebensart und Denkungsweise und Überlieferung. Volk ist etwas Substantielles und Qualitatives, es hat Atmosphäre in der Gemeinschaft, der Einzelne aus dem Volk hat einen persönlichen Charakter auch durch die Kraft des Volkes, von der er getragen ist. 65 Die Masse dagegen ist ungegliedert, ihrer selbst unbewußt, einförmig und quantitativ ohne Art und ohne Überlieferung, bodenlos und leer. Sie ist Gegenstand der Propaganda und Suggestion, ohne Verantwortung, lebt auf tiefstem Bewußtseinsniveau. Massen enstehen, wo Menschen ohne eigentliche Welt, ohne Herkunft und 70 Boden verfügbar und auswechselbar werden. Das ist als Folge der Tech- nik heute in wachsendem Ausmaß geschehen: der eng gewordene Horizont, das Leben auf kurze Sicht und ohne wirksame Erinnerung, der Zwang der sinnfremden Arbeit, das Amüsement in der Zerstreuung der Freizeit, die Nervenerregung als Leben, der Betrug im Schein von Liebe, Treue, Ver- 75 trauen, der Verrat zumal in der Jugend und durch ihn das Zynischwerden: wer so etwas getan hat, kann sich selbst nicht mehr achten. Über eine Verzweiflung im Gewande von Frische und Trotz geht der Weg in die Ver- gessenheit und Gleichgültigkeit, in den Zustand des menschlichen Zu- sammenseins als eines Sandhaufens, der verwendbar, einsetzbar, depor- 80 tierbar ist und behandelt wird nach Zahl und nach zählbaren, durch Tests feststellbaren Merkmalen. Der Einzelne nun ist Volk und Masse zugleich. Er fühlt sich aber ganz anders, wo er Volk und wo er Masse ist. Die Situation zwingt in das Massesein, der Mensch hält fest am Volksein. In Gleichnissen veran- 85 schaulicht: als Masse dränge ich in das Universelle, in die Mode, in das Kino, in das bloße Heute, als Volk will ich Leibhaftigkeit, Unver- tretbarkeit, das lebendige Theater, das geschichtlich Gegenwärtige - als Masse applaudiere ich im Rausch dem Star am Dirigentenpult, als Volk erfahre ich im Intimen die das Leben übersteigende Musik - als 90 Masse denke ich in Zahlen, akkumuliere, nivelliere, als Volk denke ich in Werthierarchien und Gliederungen. Masse ist zu unterscheiden von Publikum: Publikum ist der erste Schritt auf dem Wege der Verwandlung von Volk in Masse. Es ist das Echo auf Dichtung, Kunst, Literatur. Wenn das 95 Volk nicht mehr umgreifend aus seiner Gemeinschaft lebt, erwächst eine Vielheit je eines Publikums, unfaßlich wie die Masse, aber eine Öffent- lichkeit für geistige Dinge in freier Konkurrenz. Für wen schreibt der Schriftsteller, solange er frei ist? Heute nicht mehr für das Volk und noch nicht bloß für die Masse. Er wirbt und gewinnt sein Publikum, 100 wenn es ihm glückt. Das Volk besitzt dauernde Bücher, die sein Leben begleiten, das Publikum wechselt, ist ohne Charakter. Aber wo es Pu- blikum gibt, ist noch öffentliche Lebendigkeit. Die Verwandlung von Volk in Publikum und Masse ist heute unaufhalt- sam. Die Situation erzwingt den Gang der Dinge durch die Massen. Aber 105 Masse ist nichts Endgültiges. Sie ist die Weise des Daseins in der Auflösung des Menschseins. Jeder einzelne in ihr bleibt ein Mensch. Die Frage ist, wie weit vom Einzelnen und vom Intimen - diesem heute als "privat" oft übermütig Verachteten - her die neuen Ansätze erfol- gen, die schließlich zur Wiedergewinnung des Menschseins aus dem Mas- 110 sesein herausführen können. [... Der Weg der Geschichte führt heute unumgänglich über die Massen oder scheint es zu tun. Die Volksbildung kann die Menge auf den Weg zum geistigen Adel bringen, - eine jederzeit faktisch vollzogene Auslese kann eine neue tatsächliche Aristokratie ohne erbliche Rechte und 115 Privilegien erzeugen - die Aufhebung von sozialer Unterdrückung und von politischem Terror kann eine Denkungsart von Empörung und Nega- tivität zum Verschwinden bringen, von der zunächst die Massen ergrif- fen wurden. Die Schule, die im freien Wettbewerb sich vollziehende Auslese, die 120 ständige Verbesserung der immer ungerecht bleibenden menschlichen Zustände zum sozial Gerechteren hin kann in ständigen Spannungen den Weg zu wachsender Freiheit bahnen. Ihr Versagen kann unausdenkbare Schrecklichkeiten bodenlosen Massen- daseins ermöglichen. Jeder möchte, wenn er Geltung will, mit den Mas- 125 sen gehen. Mancher setzt voraus, daß die Massen irgendwohin drängen und daß die Wahrheit sei, dies zu wissen und danach sich zu verhalten. Aber Menschenmassen als solche sind keine Person, sie wissen und wol- len nichts, sind ohne Gehalt, ein Werkzeug für den, der ihren allge- mein psychologischen Trieben und Leidenschaften schmeichelt. Menschen- 130 massen können leicht die Besinnung verlieren, in den Rausch des bloßen Anderswerdens stürzen, dem Rattenfänger folgen, der sie in die Hölle führt. Es können sich die Zustände der Wechselwirkung von vernunft- losen Massen und dirigierenden Tyrannen entwickeln. Aber es ist auch möglich, daß in den Massen selber die vernünftig ringende Arbeit wirk- 135 lichen Geistes sich entwickle, diese Arbeit, die in schrittweisen Ver- änderungen der Zustände sich vollzieht, die niemand im Ganzen über- sieht, in denen aber so viel Vernunft herrscht, daß geordnetes Dasein, freie Arbeit und freies Schaffen unabsehbar möglich werden. Die Welt würde auf einen Höhepunkt der Geschichte zugehen, wo in den 140 Massen selber das wirklich würde, was früher auf Aristokratien be- schränkt war: Erziehung, zuchtvolle Gestaltung des Lebens und Denkens des einzelnen Menschen, Fähigkeit zu lernen und Teil zu gewinnen am Geist, nachzudenken und abzuwägen und das Vernünftige geschichtlich in den stärksten Spannungen sich kritisch und zugleich solidarisch 145 gegenüberstehender Menschen zu finden. [...] In allen Zeitaltern, in denen gedacht und geschrieben wurde seit der Achsenzeit (der Zeit zwischen 800 und 200 v. Chr.), gab es Zweifel. Jetzt aber ist die Auflösung nicht mehr Sache abseitiger Einzelner und kleiner Kreise. Sie ist zur Gärung in der Bevölkerung geworden. [...] 150 Die wachsende Glaubenslosigkeit unseres Zeitalters brachte den Nihi- lismus. Nietzsche ist sein Prophet. [...] Der Nihilismus, früher in zerstreuten Ansätzen ohnmächtig, wird eine herrschende Denkungsart. [...] Heute geht der Zauber eines Philoso- phierens durch die Welt, das im Nihilismus die Wahrheit findet, zu 155 einem wunderlich heroischen Dasein aufruft ohne Trost und ohne Hoff- nung, in Bejahung aller Härte und Erbarmungslosigkeit, in einem ver- meintlich rein diesseitigen Humanismus. Das ist ein Epigonentum Nietz- sches ohne dessen hinreißende Spannung im Überwindungswillen. Aber die Grundhaltung des Nihilismus hält der Mensch nicht aus. In der 160 Lage der allgemeinen Glaubenslosigkeit verfällt der Mensch vielmehr einem blinden Glauben. Solcher Glaube ist ein gewaltsamer Ersatz, ist brüchig und wird plötzlich wieder preisgegeben; er kann die wunder- lichsten Inhalte ergreifen; er kann gleichsam ein leerer Glaube der bloßen Bewegung sein. Er deutet sich etwa als Sicheinsfühlen mit der 165 Natur, mit der Weltgeschichte. Er fixiert sich in Heilsprogrammen. Er verschließt sich in pseudowissenschaftlichen Totalanschauungen, im Marxismus, in der Psychoanalyse, in der Rassentheorie [...] Vielleicht ist heute wirklich der Umfang an Ideologienbildung beson- ders groß. Denn in der Hoffnungslosigkeit entsteht das Bedürfnis nach 170 Illusion, in der Öde des persönlichen Daseins das Bedürfnis nach Sen- sation, in der Ohnmacht das Bedürfnis nach Vergewaltigung noch Ohn- mächtigerer. [... Man nimmt teil am Tun schrecklicher Dinge und sagt: Das Leben ist hart. Die hohen Ziele der Nation, des Glaubens, der kommenden end- 175 gültig freien und gerechten Welt verlangen Härte. Man ist hart gegen sich selbst in einer ungefährlichen, genossenen teilweisen Härte, mit welcher man sich den Scheinbeweis der Echtheit der eigenen Härtean- forderung liefert und in der Tat den bedingungslosen eigenen Daseins- und Machtwillen verhüllt... [...] 180 Unser Zeitalter ist das der SIMPLIFIKATIONEN. Die Schlagworte, die alles erklärenden Universaltheorien, die groben Antithesen haben Erfolg. Während Einfachheit sich in mythischen Symbolen kristalli- sierte, hält sich die Simplifikation an pseudowissenschaftlichen Absolutheiten. [...] 185 Wo Glaube nicht mehr Grund des Lebensgehaltes ist, da bleibt nur die Leerheit der Negation. Wo man mit sich unzufrieden ist, da soll ein anderer schuld haben. Ist man nichts, so ist man wenigstens Anti-. Man häuft alle Übel auf ein Phantom, das seinen Namen entlehnt ent- weder aus geschichtlichen Bildungen, wie sie einmal der theoretischen 190 Erkenntnis sich zeigten: an allem ist schuld: der Kapitalismus, der Liberalismus, der Marxismus, das Christentum usw. - oder in indivi- duellen Gestalten werden Ohnmächtige getroffen und dienen als Sünden- böcke: an allem sind schuld die Juden, die Deutschen usw. Was in unauflösbaren Zusammenhängen der Schuld im Sinne von Kausalität 195 oder im Sinne von Verantwortung eine Rolle spielt, das wird unkritisch in die Schuld eines einzigen bestimmten anderen, das man nicht selber ist, nivelliert. Es kommt nur noch darauf an, das Ausdrucksmittel für sein Nein und seinen Angriff überhaupt zu haben. Geistige Begriffe werden dabei zu Fahnen und Zeichen. Die Worte werden falschmünzerisch 200 gebraucht zur Verwendung in einem verkehrten Sinn unter Bewahrung früher an ihr haftender Gefühle (Freiheit, Vaterland, Staat, Volk, Reich usw.). In der durch die Weisen der Propaganda sophistisch ruinierten Sprache weiß man dann schließlich nicht mehr, was die Worte eigentlich bedeuten. Man redet in einer Verwirrung von Unbestimmthei- 205 ten, nur um das jeweils eine Nein zum Ausdruck zu bringen, sein Anti-, das aus keinem wirklichen Pro folgt. -------------------- AUFGABEN: 1. Stellen Sie sich wichtigsten WÖRTER und WENDUNGEN des Textes zusammen. 2. Versuchen Sie eine kurze Zusammenfassung, möglichst in THESEN-Form. 3. Schreiben Sie einen KOMMENTAR zum Text: teilen Sie JASPERS' Ansicht oder sind Sie mit seinen Gedanken(gängen) nicht einverstanden? Welche Gedanken könnte man auf die unmittelbare Gegenwart hin anwenden? Was versteht Jaspers unter "Masse" und wie definiert er die Dichotomie von "Masse" und "Volk"? Ist diese Definition noch heute anwendbar? Würden Sie einen solchen Text noch heute behandeln /zur Diskussion stellen? Kennen Sie Philosophen /Literaten /Publizisten, die ähnliche Gedanken formuliert haben? Kann die von Jaspers gegebene Darstellung der "modernen" Verhältnisse als global angesehen werden? (c) WN 17061993