Dr. Rolf Breitenstein, Journalist und Redenschreiber: Reden können: Aus der Praxis eines Ghostwriters, SS 1999
Autor erfolgreicher Bücher: (m. R. Engen:) Luxus mit Tarnkappe; neue Eugenspiegeleien für Manager; München 1993; Wenn Männer zuviel arbeiten. Rausch, Ritual, Ruin, Frankfurt 1995; Die gekränkte Nation : Geschichte und Zukunft der Deutschen in Europa. München 1996; Othello, Hamlet & Co. : Shakespeare für fast alle Fälle. München 2000.
[14] Friedrich der Große, ein Zeitgenosse von Adam Smith, sorgte dafür, daß die Kartoffeln bei uns angebaut und heimisch wurden. Meine Mutter sorgte dafür, daß die kartoffeln bei uns gegessen wurden; denn: »Nun sind die Kartoffeln da, nun werden sie auch gegessen.« Dieser einfache, empirisch gewonnene Satz stellt das Kartoffel-Theorem dar. Das Kartoffel-Theorem ist von unmittelbar einleuchtender Einfachheit. Das ist seine Stärke. Wirklich große Erkenntnisse nehmen sich immer ganz einfach aus: Einsteins Relativitätstheorie und die Struktur des Commonwealth of Nations wurden jeweils mit wenigen Stri&en auf dem Rücken alter Briefumschläge entworfen. Das Wort des Heraklit, alles fließt, und das Ei des Kolumbus sind an Prägnanz kaum zu überbieten. In den Wirtschaftswissenschaften hat John M. Keynes mit einem einzigen Satz ganz neue Forschungsgebiete erschlossen, weil er damit von der langfristi-gen Betrachtungsweise abrückte: In the long run we are all dead Auf lange Sicht sind wir alle tot.
[15] Einfachheit und Verständlichkeit sind heute nicht mehr in jedem Fall eine wissenschaftliche Schande. Vor einem näheren Studium des Kartoffel-Theorems und seiner vielfältigen Variationen müssen einige Fragen der Abgrenzung geklärt werden, die gelegentlich in volkswirtschaftlichen Seminaren oder auch in öffentlichen Diskussionen gestellt werden. Es ist selbstverständlich, daß es sitz bei der vorliegenden Studie nicht um eine agrarpolitische Untersuchung oder um eine Sammlung von Kartoffelrezepten handelt, auch nicht um einen Kartoffelroman, sondern um die Arbeit an einem wirtschaftswissenschaftlichen Theorem wie dem Sayschen Theorem oder dem Turnpike-Theorem. Die Zusammenhänge zwischen dem Apfel-Axiom und dem Kartoffel-Theorem haben vielseitiges Interesse gefunden. Es ist offensichtlich, daß beide denselben Tatbestand beschreiben: »Nun sind die Äpfel da, nun werden sie auch gegessen.« »Nun sind die Kartoffeln da, nun werden sie auch gegessen.« Trotzdem und hier setzt die subtile philosophische Aufmerksamkeit an liegen wahrhaft Welten zwischen den beiden Sätzen: Was für Eva im Paradies und auch für die Menschen des hohen Mittelalters ein Satz war (Axiom), der felsenfest stand und keiner Ableitung bedurfte oder fähig war, ist für den Menschen der heutigen Industriegesellschaft eine Formulierung (Theorem), die immer wieder in Frage gestellt und überprüft werden muß. Ein Mißverständnis mit tragischen Akzenten mußte aufgeklärt werden, als der Autor der irischen Journalistin Mary Kenny (Evening Standard) das Kartoffel-Theorem in der englischen Version [16] »Now that the potatoes are there they must he eaten« vortrug. Mary Kenny erklärte daraufhin spontan: »Bei uns zu Hause war das noch schlimmer. Da sagte meine Mutter zu uns Kindern: Wer keine Kartofleln ißt, der stirbt.« Die Spruchweisheit If you dont eat potatoes, you shall die hatte sich von den verheerenden Hungersnöten her gehalten, die Irland Mitte des 19. Jahrhunderts heimsuchten, vor allem 1847; nadi dem Ausfall der Kartoffelernte sind viele Menschen damals vor Hunger gestorben oder wie ein gewisser Joe Kennedy halbtot vor Hunger nach Amerika ausgewandert. Die Art, wie Marys Mutter und Tausende von Müttern in Irland diese sprichwörtliche Erfahrung umfunktioniert habende, um den Verzehr der nun vorhandenen Kartoffeln (unter Todesdrohung!) zu erzwingen, läßt schon etwas von den Kräften ahnen, die unter dem Kartoffel-Theorem wirtschaftswirksam werken können.
Die überscharfe Formulierung Wer keine Kartoffeln ißt, der stirbt zeigt auch die unerbittliche Klipp-Klapp-Mechanik des Theorems: Weil A (Nun sind die Kartoffeln da), auch B (Nun werden sie auch gegessen) sowie die zeitliche Stringenz der Vorgänge A (Nun sind...) und B (Nun werden...). Wiederum hat der Volksmund wichtige Vorarbeit geleistet mit der Formulierung: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Diese Bemerkung richtet sich stets kritisch gegen einen Menschen, der sich nicht entscheiden karma oder der [17] eine neue Tätigkeit aufnimmt, bevor er die alte erledigt hat, kurzum: Jemand, der in seiner Handlungs- oder Denkweise nicht so konsistent ist, wie es unter dem Kartoffel-Theorem notwendig wäre. In der folgenden, sehr weitgespannten und den Bereich der Mikroökonomie sowie der Makroökonomie umfassenden Analyse des Kartoffel-Theorems wird sich zeigen, daß viele, vielleicht sogar die meisten wirtschaftlichen Phänomene der Gegenwart durch das Kartoffel-Theorem zu erklären sind. Um ein schwerwiegendes Mißverständnis auszuschließen, ist jedoch schon jetzt darauf hinzuweisen, daß in der vorliegenden Untersuchung keine monokausale Theorie entwickelt wird, die alles und jedes auf die Kartoffel zurückführen wollte. Gerade beim Kartoffelanbau hat sich immer wieder gezeigt, daß eine Monokultur verfehlt ist und sich auf Dauer nicht durchhalten läßt. Zudem ist zu berücksichtigen, daß die Vielfalt nicht nur der Größe, sondern auch der Sorten, Farben und Wachstumsformen der Kartoffeln ein handgreiflicher Beweis der Pluralität und Komplexität unserer Zeit ist und somit geradezu demonstrativ gegen jede Uniformität stehen. Wenn es auch gelingt, die Kartoffelpflanzen auf den Feldern mehr oder weniger in Reih und Glied anzuordnen, so entfalten die Kartoffeln doch unterirdisch, d. h. in der Subkultur ein außergewöhnliches Maß von Individualität: Uniformierte Kartoffeln sind unvorstellbar, und schon die Entwicklung der Kartoffelschälmaschine war eine schwierige Arbeit.