Textsorte: Interview  

Beispiel 3: literarisch-zeitkritisch

,,Dem Führer entgegenarbeiten”

von Hermann PLOPPA, Marburg, Oktober 2000*)

Schon wieder ein Buch über Hitler? Muß das sein? Ja! Denn Ian Kershaw zeigt, daß Adolf Hitler ein notorischer Faulpelz war. Dennoch ging alles nach seinem Willen

Menschenmassen quellen in das lebkuchige Marburger Rathaus. Dabei ist fast überhaupt keine Werbung gemacht worden. Die Leute wollen einen unspektakulären Mann Mitte fünfzig sehen, der ein elend langes Buch über das schlechthinnige Gruselmonster des Zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben hat. Über Hitler sind schon LKW-Ladungen von Büchern geschrieben worden. Allan Bullock 1952 und Joachim Fest 1973 haben mit ihren Hitler-Monographien Maßstäbe gesetzt. Was soll denn da noch groß kommen?

Der Engländer Ian Kershaw veröffentlichte 1996 den ersten von zwei Bänden seiner Hitler-Saga. Jetzt die zweite und letzte Folge: insgesamt 2.600 Seiten, davon 2.000 Seiten reiner Fließtext. Und doch sind beide Bände in den Top Ten der Buchverkaufsliste. Im Jahre 27 nach Fest haben vor allem die Wehrmachtsausstellung und die in Moskau aufgefundenen Kopien der Goebbels-Tagebücher das Umfeld des bösen Inzuchtskrauters aus Braunau in ein neues Licht getaucht.
Der sanfte Kershaw hat sich zehn Jahre durch den bittersauren Hirseberg der Dokumente und Sekundärliteratur gefressen. Ihn störte die Schlammschlacht zwischen den Hitler-Interpreten. Die einen untersuchten den jähzornigen Teppichkauer aus dem Blickwinkel des sozialen Umfelds: die ,,Strukturalisten“. Die anderen rollten den Ariadnefaden von Hitlers Ideen und Absichten her auf: die ,,Intentionalisten“. Harmoniefreund Kershaw meint: ,,Kinders, kloppt euch nicht, Ihr habt doch beide ein bißchen recht!“

Seine Synthese ist von einer epischen Länge. Wo Joachim Fest in kurzen, manchmal allzu klaren Bildern in genialischer Schauung und traumhaft eleganter Sprache Mechanismen vor uns aufbaut, arbeitet sich Kershaw Millimeter um Millimeter durch das Elend. Wie ein LKW-Fahrer, der die Lasten in seinem Wagen so sortieren muß, daß selbiger nicht in den Graben rutscht, sehen wir Kershaw mit schweren Kisten durch die Gegend asten. Und dabei sind noch etliche schwere Koffer vor dem vollen LKW stehen geblieben. Um nur ein Beispiel zu nennen: die Umsiedlung der Baltendeutschen in das Reich wird bei ihm nur in einem Nebensatz erwähnt.

Kershaw hat Einfluß. Als wissenschaftlicher Berater von Fernsehserien in Großbritannien und Deutschland brachte er uns einen neuen Hitler nahe. Der größte Feldherr aller Zeiten war nämlich eine faule Sau, ein Kurzhaargammler. Er schlief bis in die Puppen. Dann Mittagessen (circa zwei bis drei Stunden), dann Verdauungspaziergang, dann, beim Füßeabtreten, mal was unterschreiben, dann am frühen Abend, wieder Happa Happa (ca. zwei bis drei Stunden). Dann Micky Maus-Filme gucken. Dann noch vor dem Schlafengehen Führermonolog (ca. vier Stunden).

Selten hat er ein Regierungsdekret unterschrieben. Selbst in seiner nächsten Umgebung hat er nie die Vernichtung der Juden beim Namen genannt. Und trotzdem funktionierte alles, wie Hitler es wohl wollte. Kershaw, ein Katholik mit irischen Vorfahren, aktiviert zur Erklärung dieses Phänomens Max Webers Begriff der ,,charismatischen Herrschaft“. Die diversen Funktionäre meinten zu wissen, was ihr Führer wünschte, und sie führten eigenmächtig nach ihrer Hitler-Interpretation die Verbrechen aus, die dann untrennbar mit dem Label ,,Hitler“ verbunden blieben: ,,dem Führer zuarbeiten“.

Doch lesen Sie selbst, was der umgängliche Professor für Contemporary Studies aus Sheffield in einem Gespräch Hermann Ploppa zu erzählen hatte!

Frage: Wo sind Sie geboren?
Kershaw: In Nordengland, in einem Vorort von Manchester, nämlich in Oldham. Meine Vorfahren sind nach dem verheerenden Hungerwinter 1845 aus Irland eingewandert. Meine Familie gehört zu einer recht großen katholischen Minderheit in Oldham.
Frage: Sie haben ihre wissenschaftliche Karriere als Mittelalterforscher begonnen. Was haben Sie in der Mediävistik gemacht und warum sind Sie zur Gegenwartsgeschichte übergewechselt?
Kershaw: Mein Schwerpunkt war Sozialgeschichte im englischen Mittelalter. In diesem Zusammenhang habe ich mich mit der Geschichte der Klöster befaßt. Da ich ja aus einer katholischen Familie stamme, habe ich mich für die englischen Klöster des ausgehenden Mittelalters interessiert. Ich erforschte das Finanzwesen des Augustinerklosters Bolton Priory, das über ein einmaliges Rechnungsbuch verfügt, das die Ausgaben und Einnahmen zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert dokumentiert. In der Zeit gab es eine Hungersnot in England und eine Invasion aus Schottland. Anhand des Rechnungsbuches kann man sehr gut die Sozialgeschichte dieser Mönche und der Region aufzeichnen. Ich gebe jetzt gerade eine Edition dieses Rechnungsbuches heraus.
Der Wechsel in die Gegenwartsgeschichte war kein Damaskuserlebnis, sondern ein langer Prozeß. Ich kann das in erster Linie auf den Einfluß meiner ausgezeichneten Deutschlehrerin am Goethe-Institut in Manchester zurückführen. Sie hat uns alle in der Klasse für deutsche Sprache, Kultur und Geschichte sehr begeistert. Das war der Anfang, daß ich mich als Mediävist für deutsche Geschichte interessiert habe. Das ging Anfang der Siebziger Jahre los.
Frage: Es gibt bereits viele interessante, und im Falle von Allan Bullock und Joachim Fest hervorragende Studien zu Hitler. Warum noch ein Buch zu Hitler?
Kershaw: Als mich der englische Verlag Penguin Books bat, eine Hitler-Biographie zu schreiben, lehnte ich zunächst ab. Ich sah das damals genauso wie Sie. Ich habe dann die Bücher von Fest und Bullock noch einmal gelesen und bin zu der Erkenntnis gelangt, daß doch noch Platz ist für eine weitere Hitler-Biographie. Das Buch von Bullock liegt fünfzig Jahre zurück; das von Fest siebenundzwanzig Jahre. Mittlerweile gibt es eine Menge neuerschlossener Quellen und eine phantastische Fülle von Sekundärliteratur, die jetzt berücksichtigt werden muß. Außerdem habe ich einen neuen Ansatz gewählt: ich wollte, vielmehr als Bullock und Fest und all die anderen Autoren zuvor, Hitler in das soziale Umfeld einbetten. Darüberhinaus meinte ich, daß die anderen Biographien die Kriegsjahre nicht voll ausgewertet haben. Seltsamerweise haben sie auch sehr wenig über Hitlers Vernichtungspolitik geschrieben. Ich wollte all die neuen Forschungen über die Vernichtungspolitik, aber auch Kriegs- und die Außenpolitik mit einbinden. Wenn man sich die biographische Hitler-Literatur ansieht, gibt es bei Bullock fünf oder sechs Seiten über die Novemberpogrome 1938 und über die Genesis der ,,Endlösung“. Und bei Fest über diese Themen insgesamt sechseinhalb Seiten. Noch ein paar Seiten mehr bei Steinert. Ich jedoch habe jetzt zwei vollständige Kapitel über dieses Thema in meinem Buch. Es ist äußerst wichtig, die Holocaust-Forschung heutzutage mit einzubeziehen. Aber am wichtigsten ist doch, daß ich einen neuen strukturgeschichtlichen Ansatz für meine Hitler-Biographie gewählt habe. Obwohl Hitler auch bei mir im Mittelpunkt steht, ist es keine so hitlerozentrische Betrachtungsweise wie es bei Fest der Fall war.
Frage: Was haben denn die neuen Quellen beispielsweise offengelegt?
Kershaw: Nehmen wir die Goebbels-Tagebücher. Da haben wir fast eine Art laufenden Kommentar zur Denkweise Hitlers, auch in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Ich glaube, ich konnte sehr deutlich zeigen, daß es bei Hitler keine zwei Schienen gab, wie manche Interpreten das gesehen haben: erstens Gewinnung des Krieges und zweitens dann die Vernichtung der Juden. Das war eine Einheit bei Hitler. Die Hauptmotivation war ohnehin dann, die Schmach der Kapitulation von 1918 zu tilgen. Hitler hielt die Juden für verantwortlich für diese Schmach. Daraus folgt: der Sieg im Zweiten Weltkrieg und die Vernichtung der Juden waren ein und dasselbe Ziel. Das ergibt sich als Extrakt aus den Goebbels-Tagebüchern.
Frage: Sind Sie sich sicher, daß Goebbels seinen Herrn und Meister immer richtig verstanden und keine Eigeninterpretation vorgelegt hat?
Kershaw: Selbstverständlich ist das durch Goebbels teilweise gefärbt. Das kann man sehr deutlich bemerken. Denn Goebbels wollte seine Tagebücher nach dem triumphalen Endsieg veröffentlichen lassen. Manchmal kann man zwischen den Zeilen lesen, aber meistens ist das nicht erforderlich. Goebbels gibt die Worte Hitlers wieder, die am Tage zuvor ausgesprochen wurden. Es ist deutlich zu erkennen, was Goebbels wollte. Die Goebbels-Tagebücher sind eine Quelle ersten Ranges, aus der man die Mentalität Hitlers sehr deutlich erkennen kann.
Frage: Ích versuche einmal, Ihre Hauptthese wiederzugeben: es gab im fortgeschrittenen Nazisystem der Kriegsjahre keine Zentralregierung mehr, sondern eine anarchische Konkurrenz rivalisierender Gruppierungen, die, zeitweise einander behindernd, an den selben Problemen arbeiteten. Der ,,Führer“ machte nur sehr verschwommene Vorgaben, aus denen seine Untergebenen erschnuppert haben, was ihr Idol von ihnen erwartete. Ein System des vorauseilenden Gehorsams. Sie nehmen also den Faden wieder auf, den Sebastian Haffner in seinen ,,Anmerkungen zu Hitler“ gelegt hat.
Kershaw: Das ist richtig. Das immer größer werdende anarchische Herrschaftssystem fungierte natürlich im Rahmen von weltanschaulichen Fernzielen. Diese Fernziele entsprachen den ideologischen Fixpunkten Hitlers. Das kann man auf drei Punkte bringen: Gewinnung einer neuen Weltmachtstellung Deutschlands, Erlangung von Lebensraum im Osten auf Kosten der Sowjetunion und Entfernung der Juden. Diese drei Fixpunkte waren unabänderliche Fernziele in diesem System. Aber die waren relativ vage dargestellt. Das bedeutete natürlich verschiedene Bedingungen für verschiedene Leute in verschiedenen Zeiten. Im Rahmen dieser weltanschaulichen Ziele herrschte ein regelrechter Sozialdarwinismus im System. Und deswegen kam es zu ständigen Rivalitäten und schweren Kämpfen...
Frage: ...die Hitler eiskalt ausgenutzt hat...
Kershaw: Genau, Hitler hat sie auch ausgenutzt. Und so ging dieses Herrschaftssystem allmählich zugrunde. Das war eher Systemlosigkeit geworden.
Frage: Würden Sie Haffner zustimmen, daß nach dem Tode von Hitler die Ordnung des Dritten Reiches zusammengebrochen wäre?
Kershaw: Ganz genau, ja. Das war für die Zeit ein hochmoderner Staat.
Frage: Aber ohne Regierung.
Kershaw: Ab 1938 gab es auch kein Reichskabinett mehr. Das ist unvorstellbar, nicht? Alle Stränge gingen zu Hitler hin, er hat alles in der Hand behalten, aber es gab kein zentrales Gremium mehr in diesem Staat. Das ist für autoritäre Staaten eigentlich undenkbar. Teile haben natürlich weiterhin funktioniert. Daß das Gesamtgebilde chaotisch war, bedeutet nicht, daß innerhalb des Chaos gewisse Herrschaftsstrukturen weiterhin gut funktioniert haben, z.B. bei der SS.
Frage: Sie zeigen zum Beispiel, wie eine völlig unbedeutende Public-Relations-Abteilung, die eigentlich nur Fanpost für Hitler sammeln und beantworten sollte, eigenmächtig die Euthanasie in Gang bringt.
Kershaw: Das ist das Paradebeispiel. Ein Vater schilderte in einem Brief das Leid seines vierjährigen Sohnes, der blind, einarmig und auf einem Bein verkrüppelt war, und fragte, ob eine Tötung genehmigt werden könnte. Die Öffentlichkeitsabteilung hat die Angelegenheit bei Hitler lanciert. Hitler gab grünes Licht. Dann ließen sie das kranke Kind in der Nähe von Leipzig töten. Prompt kamen sie zu Hitler zurück und fragten: können wir das ausweiten auf andere Kinder? Hitler hat dann die Ermächtigung dazu gegeben. Und dann sind sie wieder zu Hitler zurückgekommen und haben gefragt: können wir das auch bei Erwachsenen machen? Auf diese Art kam es zu einer ständigen Radikalisierung innerhalb des Systems, ohne daß Hitler viel zu tun brauchte außer diese Radikalisierung zu befürworten und grünes Licht zu geben.
Frage: Wäre das System bei diesem Wettlauf der Organisationen nicht auf die Dauer nach dem Parkinsonschen Gesetz aufgedunsen bis zur Dysfunktionalität?
Kershaw: Möglicherweise. Was man sagen kann: der Krieg war kein Zufall, sondern er war im System implantiert. Es mußte zum Krieg kommen, und in diesem Krieg mußte es dann zu einer immer weitergehenden Auflösung des Systems selber kommen. Dazu kam es aber nicht mehr, denn das System wurde von den drei alliierten Großmächten zu Fall gebracht.
Frage: Sie haben in Ihrem Vorwort gesagt, daß Sie in Ihrem Buch eine Synthese wagen wollen aus strukturellem und dem intentionalistischem Ansatz. Mit welchen Methoden wollten Sie dieses ehrgeizige Ziel erreichen?
Kershaw: Meine Methode war, ganz grob gesagt, zu fragen: wie sich ganz wesentliche Dinge entwickeln konnten ohne daß Hitler dazu einen Befehl gegeben hatte. Im allgemeinen geht man davon aus: Hitler hat dieses und jenes befohlen, er hat dieses und jenes bestimmt. Ich habe aber gefragt: wie war all das möglich, ohne daß Hitler viel zu tun brauchte? Man kann sehen, daß die überpersönlichen oder impersönlichen Strukturen durchaus die Lager dann gestaltet haben, aber daß Hitler selber der bestimmende Faktor war in ganz wesentlichen Schritten. An den Beispielen der Genesis der Rassegesetze von 1935 oder der Pogrome 1938. Ich habe das in aller Fülle geschildert, wie die Radikalisierung stattfand auf vielen Ebenen ohne daß Hitler überhaupt intervenieren mußte. Bis zu dem Punkt, wo Hitlers Interventionen ausschlaggebend waren für die weitere Entwicklung. Insofern hat man dann eine Dynamik auf vielen Ebenen dieses Herrschaftssystems. Trotzdem blieb Hitler unerläßlich für die Bestimmung des weiteren Weges. Ich bin von dem Begriff der charismatischen Herrschaft bei Max Weber ausgegangen und habe dann den Spruch von einem Nazifunktionär übernommen: ,Arbeitet dem Führer entgegen!’. anstelle daß man ihm zuarbeitet. Das gab mir einen Schlüssel, zu verstehen, wie das System auf vielen Ebenen funktioniert hat ohne Befehle von oben. Bis zu dem Grade, da eine neue Richtung notwendigerweise eingeschlagen werden mußte. Dann war Hitler entscheidend. Er hat dann die Aktionsrichtlinien angegeben. Aber vielmehr brauchte er nicht zu tun.
Frage: Ein anschauliches Beispiel ist die Leitlinie, die Hitler dem Gauleiter des Warthelandes vorgegeben hat: Ich stelle euch keine Fragen. Erst in zehn Jahren frage ich euch: ist der Warthegau rein deutsch?
Kershaw: Ein gutes Beispiel. Der Gauleiter Greiser im Warthegau wußte haargenau, was das bedeutete. Er hat ganz bewußt dem Führer ,,entgegengearbeitet“.
Frage: Haben Sie Rückmeldungen von Ihren Lesern, ob Ihnen die Synthese gelungen ist?
Kershaw: Ich glaube schon. Die Resonanz ist umwerfend gewesen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Die meisten Rezensenten haben meine Verwendung des Begriffes der charismatischen Herrschaft sehr positiv bewertet.
Frage: Fast alle Bücher über Hitler und das Nazi-System verkaufen sich erschreckend gut. Was interessiert die Leute so an altem Zeugs, das jetzt mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt?
Kershaw: Ich glaub’, die NS-Zeit war bestimmend für die Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt. Hitler hat nicht nur Deutschland in den Krieg gestürzt, sondern auch Europa und die sonstige Welt einschließlich meines eigenen Landes. Wir haben als Land mehr als sechs Jahre gegen Hitler gekämpft und deswegen besteht heute noch ein Rieseninteresse gerade an dieser Zeit der deutschen Geschichte. Hitler gehört nicht nur den Deutschen, sondern ist ein Teil der Weltgeschichte. Am Anfang des neuen Jahrhunderts befaßt man sich mit den bestimmenden Episoden des letzten Jahrhunderts. Es kommt ein weiteres hinzu. Die Tätergeneration, aber auch die Opfergeneration stirbt jetzt langsam aus. Jene Leute befassen sich jetzt umso intensiver mit dieser Zeit. Und die jüngere Generation – die Goldhagen-Debatte und die Wehrmachtsausstellung tragen dazu bei – fragt ganz unverblümt nach den Aktionen der Großväter. Die Fragen werden ganz offen erörtert und ich finde das ganz positiv, daß das so ist. Es ist sicher oftmals eine makabre Faszination. Wo Rechtsradikale leider für Schlagzeilen sorgen, ist es ganz wichtig, daß wir uns mit dieser Zeit befassen. Wir versuchen so genau wie möglich das Phänomen des Nationalsozialismus zu erklären.
Frage: Das kann natürlich auch anders herum losgehen. Wenn ich mich in den öffentlichen Büchereien, in der Film-, CD-ROM- und Fernsehszene umschaue: ein Politiker ist allgegenwärtig als gäbe es nichts anderes: Adolf Hitler! Es gibt viele bedeutende Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts, die mit iherer Handschrift die Welt geprägt haben, und zwar weitaus positiver und nachhaltiger: Roosevelt oder John Meynard Keynes. Warum feiern die Massenmedien Hitler? Warum verspricht man sich mehr Gerwinn von Zerstörern wie den Nazis?
Kershaw: Natürlich haben auch andere Menschen das Zwanzigste Jahrhundert nachhaltig geprägt. Aber niemand ist von grösserer Bedeutung gewesen als Adolf Hitler. Insofern ist es weiterhin berechtigt, sich mit dieser abscheulichen Figur zu befassen. Das soll natürlich nicht zur Folge haben, daß man die anderen prägenden Figuren vergißt oder daß man ganz wesentliche Entwicklungen im Zwanzigsten Jahrhundert vernachlässigt. Ich habe aber ehrlich gesagt nicht das Gefühl, daß das geschieht. Es besteht zwar nach wie vor eine ganz besondere Faszination an dieser Zeit, aber das muß keine ausschließliche Faszination an Krieg und Völkermord sein. Wir haben in England eine Reihe von Fernsehsendungen über ganz andere Persönlichkeiten, also nicht nur über Hitler.
Frage: Könnte das vorrangige Interesse an Hitler und dem Bösen daran liegen, daß in den Medien der Event, das Ereignis zählt? Daß jemand mit brennenden Panzern und brennenden Häusern mehr mediales Interesse erzielen kann als jemand, der trocken am Schreibtisch sitzt und die Konferenz von Bretton Woods vorbereitet?
Kershaw: Ja sicher, das trägt auch dazu bei. Aber ich glaube nicht, daß das so eine Publicity-Sache ist. Es liegt doch eher in der Bedeutsamkeit der damaligen Ereignisse. Als Erbschaft Hitlers hatte man den Kalten Krieg. Und zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges: was haben wir in Europa? Krieg in dem ehemaligen Jugoslawien, beinahe ein Genozid in dieser Gegend, ethnische Säuberungen, wie es heutzutage heißt, und jetzt haben wir die Probleme mit dem Rechtsradikalismus. Das ist ja keine aufgemachte Publicity-Sache. Das ist weiterhin von aktueller Bedeutung. Die erste Hälfte des Jahrhunderts ist übrigens dramatischer als die zweite Hälfte. Und wir haben das Glück, in der eher langweiligen zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts aufgewachsen zu sein.
Frage: Es gibt viele Querverbindungen vom Katholizismus zum Nazismus: Hitler ist katholisch erzogen worden, immer wieder wurde er als ein ,,gläubiger Katholik“ beschrieben. Hitler ist bis zu seinem letzten Atemzug Mitglied in der Katholischen Kirche gewesen. Der Begriff ,,Drittes Reich“ ist eine Schöpfung des Benediktiners Joachim von Fiore, der Begriff ,,Tausendjähriges Reich“ stammt aus der Offenbarung des Johannes. Warum haben – mit Ausnahme von Friedrich Heer – so wenig Historiker sich mit diesem Aspekt des Nazi-Regimes befaßt?
Kershaw: Das stimmt alles, was Sie sagen: daß Hitler aus dem katholischen Milieu stammt. Aber schon als Kind hatte er für den katholischen Glauben nicht so viel übrig. Für die Rituale und die Machtfülle der Katholischen Kirche konnte er sich jedoch durchaus begeistern. Diese Macht hat er sehr bewundert. Jedoch: alles, wofür Hitler stand, lief darauf hinaus, die christliche Erbschaft zu tilgen. Das wollte er ausradieren und was neues an deren Stelle setzen. Er stand nicht für den Katholizismus, sondern für einen ganz neuen Glauben. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, daß der Nationalsozialismus eine neue Religion darstellte. Was die Ästhetik und die Machtstellung anging, war die Katholische Kirche für Hitler natürlich von Bedeutung.
Frage: Die SS definierte sich ja als neuer Orden...
Kershaw: Man sollte die strukturellen Analogien nicht zu weit treiben. Die Institutionen der Nazis waren eher eine Widerlegung der katholischen Kirche.
Frage: Wie erklären Sie sich aber, daß vom ,,Tausendjährigen Reich“ und nicht vom ,,Ewigen Reich“ gesprochen wurde?
Kershaw: Natürlich geht das auf die chiliastischen Vorstellungen des Joachim von Fiore zurück. Aber Hitler selber, übrigens, hielt nicht sehr viel von diesem Spruch. Er sprach später weder vom Dritten Reich noch vom Tausendjährigen Reich. Diese Termini wurden dann verboten; jedenfalls wurden sie nicht gerne gesehen. Das Apokalyptische am System wurde von Hitler dann eher heruntergeschraubt.
Frage: Warum ist er dann nie aus der Katholischen Kirche ausgetreten und hat es auch seinen nächsten Gefolgsleuten untersagt, aus der Kirche auszutreten?
Kershaw: Ach, das hat ja keine so große Bedeutung gehabt. Das hatte taktische Gründe. Hitler konnte sich auf diese Weise ausklinken aus dem Kirchenkampf. Hitler konnte sich dann immer distanzieren von den schlimmsten Dingen im Nationalsozialismus nach dem Motto: ,,Wenn der Führer das nur wüßte...“. In bezug auf den Kirchenkampf meinte Hitler, die Macht der beiden Kirchen sei so groß, daß man bis nach dem gewonnenen Krieg warten müßte, bis man dann die Abrechnung mit den Kirchen machen könnte. Insofern war es dann folgerichtig, daß er noch drinblieb in der Kirche nach dem Motto: ,,Ich bin nicht der asiatische braune Bolschewist!“, wie manche Leute schon versuchten, ihn in den Dreißiger Jahren darzustellen, sondern: ich stehe durchaus für eine Religion. Also hat er sich immer wieder auf Gott bezogen und auf die Vorsehung. er wollte nicht den Eindruck erwecken, daß er da völlig draußen stünde, sondern versuchte, alle möglichen Leute heranzuziehen. Das war ihm propagandistisch viel wichtiger als zu sagen: ich trete jetzt aus der Kirche heraus.
Frage: Ihr Werk umfaßt jetzt insgesamt zweitausend Seiten reinen Fließtext ohne Anmerkungen etc. Ist das mehr als wissenschaftliche Arbeit gemeint gewesen oder war das Werk von Anfang an für die große Öffentlichkeit bestimmt?
Kershaw: Es mag ein bißchen komisch klingen, aber ich habe versucht, für mich selber einige Dinge zu klären. Ich fing dann an mit diesem Ansatz. Und der Ansatz hat sich dann sehr ausgebreitet, weil ich mich nicht nur auf die Person Hitlers konzentriere, sondern auf die Gesellschaft, auf die Herrschaftsstrukturen, auf die Außenpolitik, Kriegsführung und auf die Vernichtungspolitik. Ich glaube aber, Historiker sollten ihre Bücher nicht nur für andere Historiker schreiben. Ich habe das Buch eher in Hinblick auf ein breiteres Publikum geschrieben. Ich sollte mich natürlich auf dem letzten Stand der Forschung befinden und brauchbar sein auch für andere Historiker. Gleich nachdem ich mit dem Schreiben angefangen hatte, sagte der britische Verleger zu mir: Sie müssen das Buch so schreiben, als ob niemand ein anderes Buch über das Dritte Reich gelesen hätte. Das heißt: wenn ich zu wichtigen Episoden wie der Machtübernahme gekommen war, dann mußte ich diese Machtübernahme schildern in allen Detailfragen. Aber es hat den Anschein, als ob das Buch dann doch eine breitere Leserschaft erreicht und das war durchaus der Sinn dabei.
Frage: Hat Sie das überrascht, daß das Buch so eine große Käuferschaft gefunden hat, trotz des hohen Preises?
Kershaw: Die Deutschen meckern die ganze Zeit über die hohen Bücherpreise. Für unsere britischen Verhältnisse sind die Bücher nicht so teuer. Aber davon mal abgesehen: das hat mich natürlich umgeworfen, diese Resonanz in Deutschland, dieses Interesse. Damit hatte ich nicht in meinen wildesten Träumen gerechnet. Also wirklich: umwerfend ist das!
Frage: Haben Sie eine Vorstellung, woran das liegen könnte?
Kershaw: Das ist eine Untersuchung über die zentrale Figur in der dunkelsten Episode in der deutschen Geschichte. Vielleicht liegt das auch daran, daß ich von außen als Ausländer mit einem anderen Blick auf Hitler an den Gegenstand herangehe.
Frage: Haben Sie nach dem Abschluß dieser gigantischen Arbeit ein Gefühl der Erleichterung, oder herrscht da mehr die Empfindung eines plötzlichen Vakuums?
Kershaw: Ich bin maßlos erleichtert. Dazu kommt ein Gefühl der intellektuellen Müdigkeit. Es ist ein bißchen zermürbend, sich zehn Jahre allein mit dieser Figur beschäftigen zu müssen.
Frage: Haben Sie von Hitler geträumt?
Kershaw: (lacht) Ich habe absolut nie von Hitler geträumt. Hitler hat mich nie in dem Sinne psychologisch belastet. Aber es ist zermürbend gewesen. Ich brauche jetzt unbedingt eine Atempause, eine Ruhepause, in der ich anfangen kann, mich intellektuell wieder zu bewegen. Wo ich mich mit anderen Dingen beschäftigen kann. Aber ich möchte jetzt in diesem Trubel überhaupt keinen Entschluß fassen, wohin die Reise gehen soll.
Frage: Aber ob sie jetzt in dieser Epoche bleiben oder wieder einen Switch-over machen, vielleicht ins Altertum oder wieder ins Mittelalter, wissen Sie das schon?
Kershaw: Das glaube ich eher nicht. Ich bleibe mehr oder weniger in diesem Bereich.

(c) und v.i.S.d.P.: Hermann PLOPPA 10/2000
*) HTML: 24.10.2000. Demnächst stark gekürzt im Marburger Magazin Express. Wegen der Aktualität und aus sprachlichen Gründen hier (vor)abgedruckt. Farbige Hervorhebungen von mir, W.N.
Vom Autor hier auch: Well done, guys (über ein Konzert mit Dave BRUBECK, Marburger Magazin Express 14/2000, 9)


Aufgaben:
  1. Lexik / Idiomatik: Legen Sie eine Wortliste an: welche Wörter und Wendungen sind in inhaltlicher und gestaltender Hinsicht charakteristisch für diesen Text?
  2. Stil / Gestaltung: Wie haben der Interviewer Hermann PLOPPA und der Autor Ian KERSHAW Hitler charakterisiert? Gibt es hier Unterschiede (Provokanz, Sachlichkeit)?
  3. Inhalt: a) Geben Sie den Inhalt des Textes in eigenen Worten wieder (Paraphrase); b) Versuchen Sie, die wesentlichen Aussagen in Thesen umzusetzen.
  4. Stellungnahme / Kommentar: Welches ist Ihre Meinung zu diesem Text? Haben Sie sich schon einmal oder öfter mit der Thematik beschäftigt und wie würden Sie diese in Essay-Form darstellen? Stimmen Sie dem Autor und / oder Interviewer zu oder vertreten Sie eine andere Meinung / Haltung?
  5. Didaktische Umsetzung: Versetzen Sie sich in Situation und Aufgaben eines Deutsch- bzw. Geschichtslehrers. Versuchen Sie, Fragen zum Inhalt des Textes zu entwickeln, die in einer Unterrichtsstunde / -einheit behandelt werden könnten.

Wird ggf. ergänzt. (c) Aufgaben: W. NÄSER, Marburg 25.10.2000 / Korrektur 27.6.2010