Die Geschichte vom unmusikalischen Ministersohn
oder
Was schwarze Tasten mit der Rechtschreibreform zu tun haben

Es war einmal ein Kultusminister, dessen kleiner Sohn das Klavierspiel erlernen sollte. Zunächst machte der auch gute Fortschritte, aber als die Klavierstücke schwieriger wurden und er auch die schwarzen Tasten anschlagen mußte, spielte er jämmerlich falsch.

Seinem Vater, dem Minister, der gerne stolz auf sein Söhnchen sein wollte und auch schon im Kreise der Verwandten mit dessen Klavierspiel-Kunst geprahlt hatte, standen jedesmal, wenn die schrägen Übungsklänge durch die Ministervilla zogen, die Haare zu Berge. Besonders das Fis und das Gis traf der Junge nicht. Da half kein Üben, auch keine Versprechungen und keine Strafen, da mußten rigorose Maßnahmen ergriffen werden.

Nachdem sich der Minister mit einem engbefreundeten Verleger von Musikliteratur beraten hatte, dem er ohnehin noch einen Gefallen schuldig war, verfügte er über das ganze Land, daß ab sofort alle Musik nur noch ohne Fis und Gis gespielt werden durfte. Um den Musikschülern die Umstellung zu erleichtern, wurden flugs neue Notenbücher gedruckt und glänzend verkauft, denn wer wollte es etwa seinem Kind antun, daß es Bach und Chopin "traditionell" spielen mußte?! Ohne Fis und Gis klang Bach zwar nicht mehr wie Bach und Chopin nicht wie Chopin, dafür aber konnte jeder Trottel das Klavierspiel mühelos erlernen.

Nun, so ganz mühelos wohl nicht. Es stellte sich heraus, daß einige der kleinen Klavierschüler auch das Cis und das Dis nicht trafen. Unglücklicherweise auch der Sohn vom Minister nicht, und so verfügte der aufs neue, daß in Zukunft überhaupt keine schwarzen Tasten mehr benutzt werden durften, und auch die Literatur sei entsprechend zu ändern. Wieder verkauften sich die Notenbücher wie warme Semmeln, denn wer wollte nicht seinem Kind das Klavierspiel erleichtern? Bachs und Chopins virtuose Kompositionen klangen zwar nun eher wie Hänschen-Klein, aber dafür konnte jetzt wirklich jeder Trottel Klavier spielen.

Nun, fast jeder. Der Minister hatte nämlich noch eine Tochter, die mit ihren kleinen Händen keine Oktaven greifen konnte. Beim Vorspielen im Kreise der Verwandten war das neulich ganz unangenehm aufgefallen. Doch der Minister wußte Rat. Auf eine Note mehr oder weniger kam es doch wohl nicht an! So verfügte er, daß ab sofort das E sowohl aus den Notenbüchern als auch von allen Klaviaturen zu entfernen sei. Die Musik von Bach und Chopin war nun zwar als solche nicht mehr zu erkennen, wurde aber dem kultusministeriellen Erlaß gemäß durchaus richtig gespielt.

Der Minister indes hatte es dennoch nicht leicht. Die Nichte seines Verlegerfreundes versuchte sich im Geigenspiel, wobei ihr jedoch der Erfolg versagt war. Es ist ja auch schwierig, immer den richtigen Ton zu finden, besonders, weil man sich darin leicht vergreifen kann. Der Verleger konnte außerdem noch ein wenig mehr Umsatz ganz gut gebrauchen. Und weil der Minister dem Verleger noch einen Gefallen schuldete, verfügte er die Streichung der Noten A, H und F.

Ich will die Geschichte nun nicht unnötig in die Länge ziehen. Der geneigte Leser oder Zuhörer wird sich eh denken können, wie sie ausgeht, daß es nach einer gewissen Übergangszeit von sieben Jahren nämlich überhaupt keine Noten mehr gab und jeder spielte, wie er wollte oder konnte. Wie das geklungen haben mag, kann man sich denken, aber es war ja alles richtig so. Selbst der Minister konnte nun Klavier spielen.

Nur manchmal, ganz selten, wenn man des nachts, wenn alle schliefen, oder fast alle, durch dunkle, abgelegene Vororte schlich, hörte man von irgendwoher die wunderschönen Klänge von Bach und Chopin, wie sie jemand heimlich in der Weise spielte, wie Bach und Chopin sie sich gewünscht hätten.

Gabriele Ruta, nach einer Idee von Carsten Ahrens
HTML-Adaptation: Wolfgang Näser 31.7.98