1979: Anmerkungen zum Internationalen Ferienkurs
Das Jahr 1979 war in vieler Hinsicht interessant, was sich auch in der Marburger Universitätszeitung niederschlägt. So berichtet die Ausgabe Nr. 109 vom 18. Oktober 1979 von einem Reformprojekt "Sozialrecht", Prof. von Oppen liest jeden Dienstag über "Marburg - Geschichte, Geist und Ethos einer Stadt"; das Musikhaus, erfahren wir, sei bald zum Üben offen, wir lesen vom Marburger Internationalen Symposion über "Die Tschadsprachen im hamitosemitisch-nigritischen Grenzraum". Professor D. Dr. theol. Ernst WÜRTHWEIN wird 70, Hermann JACOBSOHN, 1930 bis 1933 interimistischer Direktor des "Deutschen Sprachatlas", wäre 100 Jahre alt geworden, und das diesjährige Forum philippinum befaßt sich mit "Kunst und Gesellschaft".
Auch in diesem Sommer hat ein Internationaler Ferienkurs stattgefunden, zum dritten Mal in Folge aufs beste geleitet und betreut vom Historiker Professor Dr. Thomas KLEIN: als Kurs-"Vater" erobert er sich mit seinem hilfsbereiten, warmherzigen Wesen die Herzen aller Teilnehmer/innen; verwöhnt werden diese auch hinsichtlich der Exkursionen: alles klappt wie am Schnürchen unter der bewährten Leitung des Altmeisters und ehemaligen Stabsoffiziers Prof. Dr. Walter HEINEMEYER. Alle Ausrichtenden haben ihr bestes gegeben, auftretende Probleme ad hoc gemeistert. Die Teilnehmer sind zufrieden: ihrerseits gibt es nichts zu klagen. Grund genug, um eine durchweg positive, perspektivisch jedoch auch kritische Bilanz zu ziehen, die unter der Überschrift "Kurse finden Anklang" als "Annotationen zum Internationalen Ferienkurs der Uni" von Thomas KLEIN vorgelegt wird. Dieser Artikel ist aus verschiedenen Gründen höchst lesenswert: zum einen, weil 1997 der Ferienkurs 100 Jahre alt wird, zum anderen durch seine objektiven, problembewußten, richtungsweisenden Ausführungen (Wichtiges habe ich hervorgehoben) und drittens wegen seiner Aussagen zu Aufgaben und Stellenwert der Sprachkurslehrer. Wehmütig gedenke ich jener fruchtbaren Kurse: der ersten, an denen ich als Sprachkurslehrer teilnehmen und unvergeßliche Eindrücke gewinnen durfte.
Wolfgang NÄSER, im März 1997
"Die Geschichte des Internationalen Ferienkurses an unserer Universität reicht bis 1897 zurück. Sie ist ungeschrieben, ihre Darstellung eine reizvolle, durch die Anregungen, die sie geben könnte, für die Philipps-Universität praktisch-nützliche Aufgabe.
Das wenige, was wir über den Ferienkurs vor 1914 wissen, deutet auf jährlich zwei dreiwöchige, im Juli und August abgehaltene Kurse mit je 160-170 überwiegend ausländischen Teilnehmern hin, die geprägt waren von einem intensiven Vortrags- und Sprachkursbetrieb (werktäglich von 8-12/13, 15-17, 20.30-22 Uhr außer an den Mittwoch- und Samstagnachmittagen!), von Kontakten zu Marburger Höheren Schulen, einschließlich der Teilnahme am Unterricht, und von Ausflügen in das Umland an den Sonntagen. Es wurde also hart gearbeitet. Zielgruppe waren überwiegend deutsche und ausländische Lehrer, und die von Marburger und auswärtigen Professoren, Lektoren und Gymnasiallehrern angebotenen Vortragsreihen behandelten außer germanistisch-phonetischen (Vietor) auch philologische, pädagogisch-psychologische, geographische, historische, literatur-, handels- und kunstgeschichtliche Themen. Es war also eine Art interdisziplinären Kontaktstudiums auf hohem Niveau, das starken Anklang fand.
Über den Charakter des Ferienkurses in der Weimarer Republik und bis 1939 (?) wissen wir bislang nichts. Erwiesen ist, daß er nach 1933 als nicht ganz lenkbare Begegnung von Deutschen mit ausländischen Gästen von der Gestapo scharf im Visier gehalten wurde.
ALLMÄHLICHER WANDEL
Heute zeigt der Internationale Ferienkurs ein etwas anderes Bild als in seiner
Frühzeit. Lange Jahre hindurch bei der Germanistik (und späterhin
dem FB 09) angesiedelt, wurde er in den vergangenen drei Jahren vom FB
Geschichtswissenschaften ausgerichtet, und zwar über den Wechsel hinweg
mit dem Blick auf ein ausschließlich nichtdeutsches Publikum, auf
"ausländische Studenten, Wissenschaftler, Dozenten und Professoren aller
Disziplinen sowie Lehrer des Deutschen im Ausland". Deutschkundliche Aspekte
standen nunmehr ganz im Vordergrund: deutsche Sprache
und Kultur, Deutschland in historischer und landeskundlicher Sicht.
Der FB Geschichtswissenschaften hat diesen Rahmen in einer ihm entsprechenden Weise ausgefüllt, indem er in Querschnitten deutsche Kultur und Geschichte in ihrer Eigenart und ihrem jeweiligen Bezug zur Gegenwart zu verdeutlichen versucht hat. So kam es in den drei Jahren zu den Generalthemen "Deutsche Kultur und Geschichte um 1800", "Nationalstaat und demokratische Erneuerung. Kultur, Literatur, Politik zur Zeit der deutschen Revolution 1848/49" und "Deutschland vor 1914. Politik, Wirtschaft, geistiges Leben". Das auf die jeweilige Thematik ausgerichtete Vortragsprogramm sah je ein Dutzend Referate mit Diskussionen vor, zu denen sich dankenswerterweise Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche unserer Universität und anderer wissenschaftlicher Institutionen zur Verfügung gestellt hatten. Ein Sprachkursprogramm mit sechs parallelen Kursen unterschiedlicher Schwierigkeit (je 40 Unterrichtsstunden) konnte dank der Mitwirkung des FB 08 organisiert werden. Für diejenigen Teilnehmer, die den nachmittäglichen Vorträgen noch nicht folgen konnten, waren Tutorien eingerichtet, die Sprachpraxis und allgemein das Sichbewegen in der deutschen Umwelt vermitteln sollten. An fünf Tagen ging jeder Ferienkurs auf Exkursion, sozusagen obligatorisch an den Rhein, sodann je nach der Thematik nach Fritzlar und Kassel, nach Würzburg, Frankfurt, Darmstadt und Bad Hersfeld, nach Fulda und in die Rhön, in das Waldecker und Nassauer Land. Vorträge über aktuelle Marburger Probleme, Stadtführungen, Wanderungen in den Burgwald, Podiumsgespräche mit Politikern dienten der Information und Diskussion über Gegenwartsprobleme. Eröffnungs- und Abschiedsabend, die traditionelle Grillparty im Collegium Philippinum, gemeinsame Abendessen in der "Schnitzel-Ranch", kleinere Zusammenkünfte der Sprachkurse betonten den "Ferien"-Charakter des "Ferienkurses".
Die Ferienkurse fanden guten Anklang. Stellten sich 1977 und 1978 jeweils um die 70 Teilnehmer ein, so waren es 1979 85, und knapp die gleiche Zahl mußte diesmal leider abgewiesen werden, da die vorgesehene Maximalzahl von 80 nicht stärker überschritten werden konnte. Die Gäste kamen aus allen Erdteilen: Franzosen, Italiener, Engländer und Japaner stellten die stärksten Kontingente, willkommen waren besonders auch jeweils einige polnische und jugoslawische Teilnehmer. Viele Berufe waren vertreten, Studenten und Lehrer des Deutschen überwogen, aber auch Juristen, Volkswirtschaftler, Historiker, Ingenieure und Sprachsekretärinnen kamen. Einige gehörten zu dem Stamm des europäischen Ferienkurspublikums, das seinen Standort jedes Jahr in einem anderen Lande nimmt und über hervorragende Vergleichsmöglichkeiten verfügt; reichliche Anerkennung von dieser Seite für den Kurs der Philipps-Universität war hilfreich.
Wenn der Internationale Ferienkurs nunmehr in andere Hände geht, sollen einige offene Probleme zur Sprache gebracht werden. Es mag sich die Frage stellen, ob die Philipps-Universität sich leisten kann, 40% der Interessierten am Ferienkurs abzuweisen. Doch scheint hier die Zahl der in annehmbarer Nähe zum Veranstaltungszentrum am Krummbogen liegenden Zimmer in Studentenheimen (die Zahl der angebotenen privaten Zimmer geht zurück) ein kaum überschreitbares Limit zu setzen. Auch stellt sich die Frage nach dem Charakter eines wesentlich größeren Kurses, wie ihn andere deutsche Universitäten durchführen. Bei der gegenwärtigen Größe jedenfalls ist der familiäre Charakter eben noch gewahrt, kann der Kursleiter mit jedem Teilnehmer Kontakt haben, ist das ganze Unternehmen nicht zum Tourismus degeneriert, wie von anderen Orten berichtet wird.
Man könnte der Auffassung sein, das Quantitätsproblem durch Auslese der besonders Fortgeschrittenen in der deutschen Sprache zu lösen, denn in der Tat findet sich, obwohl ausdrücklich "Anfängerunterricht nicht erteilt" wird, in jedem Kurs eine Gruppe von Beinahe-Anfängern, deren Integration ein Problem bleibt. Trotz der andererseits großen Zahl von Deutschlehrern und -studenten mit hervorragenden Kenntnissen sollte der Versuchung widerstanden werden, den Kurs von vornherein allein auf diese abzustellen. Der Kurs muß im internationalen Vergleich preiswert bleiben und ist es (auch dank eines Landeszuschusses) derzeit, doch setzt dies eine gute Ausbuchung voraus. Diese wiederum ist kaum kalkulierbar. Sie hängt außer vom Thema und von dem guten Ruf der Veranstaltung z.B. von Währungsrelationen ab, die bald diese, bald jene Besucher nach Deutschland ziehen und damit manchmal auch, wie jeder Kenner weiß, Angehörige von Kulturkreisen, denen Europa und Deutschland und ihre Sprachen sehr fern liegen. Wenn diese sich anmelden, und noch dazu als erste, wird man sie nicht ausschließen können, sondern die Mühe der Integration am Ende als Gewinn für sich und den Kurs buchen.
INTEGRATION SCHWIERIG
Schwierigkeiten bereitet die Integration des Ferienkurses
in die Universität und die Stadt Marburg. Gerade in den Ferienmonaten
ist die Stadt leergefegt. Gezielte Versuche von seiten der Kursleitung, der
Isolierung entgegenzuwirken, sind nur teilweise von Erfolg gewesen. Nur wenige
der infragekommenden Familien sind überhaupt anwesend, und - dies nebenbei
- selbst bei ihnen kann es zu unerwarteten Pannen kommen. So ist der Kurs
in hohem Grade auf sich selbst angewiesen.
In dieser Situation sind die Sprachkursleiter das Rückgrat des Ganzen. Sie sind die wichtigsten Bezugspersonen der Gäste und müssen deshalb über die Kursstunden hinaus bei den Exkursionen ganztägig und weiterhin auch an Abenden zu Treffen im kleinen Kreis zur Verfügung stehen, soll der Kurs gelingen. Dies neben dem Dienst oder in den vier Urlaubswochen zu leisten, ist nicht möglich. Auf der anderen Seite ist die Tatsache ebenso einsichtig, daß ihre Arbeitskraft kontinuierlich in den Instituten benötigt wird. Hier bedarf es einer kompromißbereiten Haltung, die allseitige Abstimmung ermöglicht. Die Universität kann auf diesen Stamm erfahrener Sprachkursleiter um so weniger verzichten, als es personelle Alternativen zur Ferienzeit praktisch nicht gibt. Demgegenüber fällt die Vortragstätigkeit der sich zur Verfügung stellenden Hochschullehrer für den Ferienkurs zweifellos in deren freie Entscheidung.
Alles dies verdeutlicht die Schwierigkeiten, die bei einer Verdoppelung des Angebots von zwei einander folgenden Ferienkursen jährlich entstehen würden. Außer den Landesmitteln müßten die sich engagierenden Persönlichkeiten verdoppelt werden.
Und wenn uns der an den Anfang gestellte historische Rückblick zur Frage nach grundsätzlich neuen Gestaltungsalternativen führt - etwa zur Interpretation und Durchführung des Ferienkurses als einer Form des Kontaktstudiums für Lehrer, so stellte sich die gleiche Frage auch vom Publikum her: Welcher Lehrer würde heute seine Ferien zur Weiterbildung in Ferienkursen nützen?
Der Fachbereich 06 wünscht dem Fachbereich Geographie als dem Veranstalter des nächsten Internationalen Ferienkurses viel Erfolg!
Prof. Dr. Thomas Klein
[Re-Editing und Übertragung: W. Näser 03/97]