Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Klüger, Ruth (* 1931): Die Lager. Aus: Weiter leben. Eine Jugend (1991)

VORBEMERKUNG: Die 1931 in Wien geborene Ruth Klüger überlebte das KZ, studierte in Berkely (M.A., Ph.D.), war Prof. für Literaturwissenschaft in Princeton und Irvine (Cal.) und lehrte ab 1988 auch an der Uni Göttingen. In ihren Worten, einem Dokument gelebter Versöhnung, setzt sie sich kritisch auseinander mit der am Anfang des 3. Jahrtausends fortdauernden Problematik, wie denn die deutsche Vergangenheit zu bewältigen sei: hierzu auch die folgenden Textauszüge. W.N

Das Volk der Touristen, das heute nach München strömt, geht erst zum Marienplatz, um das hübsche Glockenspiel zu genießen und die putzigen Holzpuppen zu bewundern, die am Rathausturm pünktlich ihren Tanz aufführen, und fährt dann nach Dachau zu den Baracken. Wer Goethes und seiner Christiane Gartenhaus zu Weimar in freundlicher Erinnerung behalten will, besichtigt auch gleich das Mahnmal in Buchenwald in ehrerbietiger Bestürzung. In dieser Museumskultur der KZs verpflichtet das historische Gewissen jeden sensiblen Zeitgenossen, vom sittlichen Politiker ganz zu schweigen, an einer solchen Stätte zu photographieren oder, besser noch, sich photographieren zu lassen.

Was haben wir davon? Neulich lernte ich zwei sympathische deutsche Studenten kennen, ernste junge Leute mit Grundsätzen. Sie waren Germanisten im ersten Semester, ihr Seminarleiter, mit mir befreundet, war mit seinen Leuten zum Hainbunddenkmal 1) spaziert, und ich hatte meine gleich daneben liegende Wohnung zum Hainbundcafé stilisiert und sie alle eingeladen. Die beiden sprachen angeregt miteinander, ich hörte das Wort Auschwitz, aber nicht, wie so oft in Deutschland und auch anderswo, als Kürzel für Massenmord oder als politisches Stichwort, sondern sachlich, als Bezeichnung für einen Ort, den sie zu kennen schienen. Ich horchte auf, fragte, gab aber aus Bequemlichkeit meine eigene Bekanntschaft mit dem Lager nicht preis. Ich erfuhr, sie hätten eben ihren Zivildienst hinter sich gebracht. Ihre Aufgabe war es gewesen, in Auschwitz die Zäune weiß zu streichen. Ja, das sei möglich. Zivildienst als Wiedergutmachung. Ob das sinnvoll sei, fragte ich zweifelnd. Aber das Gelände muß doch erhalten bleiben, erwiderten sie, ihrerseits verdutzt über die Frage. Zwar waren sie nicht besonders gut auf die Touristen zu sprechen (all die Amerikaner!), und auch den Schulklassen waren sie eher abhold, und trotzdem: Bewahrung der Stätten. Wozu nur?

Der liebe Augustin der Wiener Legende erwachte in der Pestgrube, und nichts war ihm passiert. Er stolperte aus der Grube heraus, ließ sie hinter sich und dudelte weiter, Symbol der Lebensbejahung im großen Sterben. Uns geht es anders, uns lassen sie nicht locker, die Gespenster, mein ich. Wir erwarten, daß Ungelöstes gelöst wird, wenn man nur beharrlich festhält an dem, was übrig blieb, dem Ort, den Steinen, der Asche. Nicht die Toten ehren wir mit diesen unschönen, unscheinbaren Resten vergangener Verbrechen, wir sammeln und bewahren sie, weil wir sie irgendwann brauchen: Sollen sie etwa unser Unbehagen erst beschwören, dann beschwichtigen? Der ungelöste Knoten, den so ein verletztes Tabu wie Massenmord, Kindermord hinterläßt, verwandelt sich zum unerlösten Gespenst, dem wir eine Art Heimat gewähren, wo es spuken darf. Ängstliches Abgrenzen gegen mögliche Vergleiche, Bestehen auf der Einmaligkeit des Verbrechens. Nie wieder soll es geschehen. Dasselbe geschieht sowieso nicht zweimal, insofern ist alles Geschehen, wie jeder Mensch und sogar jeder Hund, einmalig. Abgekapselte Monaden 2) wären wir, gäbe es nicht den Vergleich und die Unterscheidung, Brücken von Einmaligkeit zu Einmaligkeit. Im Grunde wissen wir alle, Juden wie Christen: Teile dessen, was in den KZs geschah, wiederholt sich vielerorts, heute und gestern, und die KZs waren selber Nachahmungen (freilich einmalige Nachahmungen) von Vorgestrigem 3).

Im heutigen Hiroshima, einer fleißigen Industriestadt, ist die Gedenkstätte der großen Katastrophe, die ein neues Zeitalter eröffnete, ein Blumen- und Tempelpark, in dem Schulklassen japanischer Kinder, in ihren englischen Schuluniformen, toben. Die Japaner sind dem verflossenen Entsetzen ebenso hilflos ausgeliefert wie wir, weil auch ihnen nichts Gescheites dazu einfällt, außer das auch uns bekannte "Nie wieder". Man sieht das leichter in einer fremden Stadt. Die Kinder kommen mit ihren Geschichtslehrern und hängen Origami, aus Papier gefältelte Kraniche und andere symbolische Objekte, an die diversen Büsche und Bäume der Friedensgöttin und treiben ansonsten Allotria 4). Wasser plätschert, wie überall in Japan, wo man es schön oder eindrucksvoll oder gemütlich haben will. Auf Kassetten gespeicherte poetische Mahnworte zum Thema Frieden und Menschlichkeit werden in regelmäßigen Zeitabschnitten abgespult. [...]

Nichts gegen den Gespensterglauben, den ich ja teile. Nur muß man  wissen, zu wem man betet. Einer meiner beiden Zaunanstreicher, der ein guter Christ ist und im Stammlager Auschwitz Gelegenheit zum Beten fand, weiß bestimmt nicht den Unterschied zwischen dem Herrgott und einem Gespenst. Denn der Herrgott ist das personifizierte Gleichgewicht, und nord- und südliches Gelände, versichert uns der Dichter, ruht im Frieden seiner Hände. Hingegen ist das Gelände, das der Zaunanstreicher instand halten half, höchstens ein Quartier in der Vorhölle, wo die Unerlösten sich aufhalten. So ist es nur passend, daß sich auf diesem heutigen Gelände die Konfessionen befeinden, Juden gegen Nonnen, unausgewogen, bitterböse; kirchliche Würdenträger mischen sich ein, ein speicheltriefender Streit. Gespenstergelände, kein Gottesgelände. [...]

Es liegt dieser Museumskultur ein tiefer Aberglaube zugrunde, nämlich daß die Gespenster gerade dort zu fassen seien, wo sie als Lebende aufhörten zu sein. Oder vielmehr kein tiefer, sondern eher ein seichter Aberglaube, wie ihn auch die Grusel- und Gespensterhäuser in aller Welt vermitteln. Ein Besucher, der hier steht und ergriffen ist, und wäre er auch nur ergriffen von einem solchen Gruseln, wird sich dennoch als ein besserer Mensch vorkommen. Wer fragt nach der Qualität der Empfindungen, wo man stolz ist, überhaupt zu empfinden? Ich meine, verleiten diese renovierten Überbleibsel alter Schrecken nicht zur Sentimentalität, das heißt, führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle? [...]

Erinnerung ist Beschwörung, und wirksame Beschwörung ist Hexerei. Ich bin ja nicht gläubig, sondern nur abergläubisch. Ich sag manchmal als Scherz, doch es stimmt, daß ich nicht an Gott glaub, aber an Gespenster schon. Um mit Gespenstern umzugehen, muß man sie ködern mit Fleisch der Gegenwart. Ihnen Reibflächen hinhalten, um sie aus ihrem Ruhezustand herauszureizen und sie in Bewegung zu bringen. Reibeisen aus dem heutigen Küchenschrank für die alten Wurzeln; Kochlöffel, um die Brühe, die unsere Väter gebraut, mit dem Gewürz unserer Töchter anzurühren. Zaubern ist dynamisches Denken. Wenn es mir gelingt, zusammen mit Leserinnen, die mitdenken, und vielleicht sogar ein paar Lesern dazu, dann könnten wir Beschwörungsformeln wie Kochrezepte austauschen und miteinander abschmecken, was die Geschichte und die alten Geschichten uns liefern, wir könnten es neu aufgießen, in soviel Gemütlichkeit, als unsere Arbeits- und Wohnküche eben erlaubt. (Sorgt euch nicht, daß es zu bequem wird - in einer gut funktionierenden Hexenküche zieht es immer, durch Fenster und Türen und bröckelnde Wände).

Wir fänden Zusammenhänge (wo vorhanden) und stifteten sie (wenn erdacht).
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1) gegründet 1772 von Johann Christian Boie, Johann Heinrich Voß (1751-1826), Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748-1776) und den Grafen Stolberg; "Hainbund" geht auf Klopstocks Ode "Der Hügel und der Hain" zurück. Im sittenstrengen Hainbund kam es angeblich zu ersten Bücherverbrennungen. So habe Voß geschrieben: (...)Hernach (...) aßen wir, punschten, und zuletzt verbrannten wir Wielands [Musarion] Idris [1768] und Bildnis."
2) Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) entwarf 1714 in seiner Monadologie die [unteilbare] Monade als "einheitliche, in sich geschlossene körperlich-geistig-seelische Substanz mit mehr oder minder bewußten Vorstellungen" (Wahrig, Dt. Wb.); andere sehen in den M. die Vorläufer der Quanten.
3) gemeint sind möglicherweise die Konzentrationslager in den sog. Burenkriegen (1899-1902)
4) Unfug, Unsinn, Dummheiten

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