Tagesschau-Meldung
zum 27.5.99, 20:01 Uhr ff.

[Inzwischen wurde Anklage] gegen Milosevic erhoben. Ihm werden Vertreibung und Mord im Kosovo vorgeworfen. Es gebe glaubwürdige Belege, erklärte Chefanklägerin Arbour. Ein Haftbefehl sei schon ausgestellt. Außer Milosevic sollen sich weitere 4 führende serbische Politiker vor Gericht verantworten, unter ihnen Serbiens Präsident Milutinovic. Das Haager UN-Tribunal war vor 6 Jahren eingerichtet worden, um Kriegsverbrecher aus dem früheren Staatsgebiet von Jugoslawien zur Rechenschaft zu ziehen.

[Bericht:] "Das hat es im Völkerrecht noch nie gegeben: erstmals ist ein amtierender Staatschef von einem internationalen Tribunal angeklagt worden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Vorwurf, vorgebracht von der Chefanklägerin Arbour, eingesetzt von den Vereinten Nationen mit Billigung Rußlands und Chinas. [Arbour:, übers.:] 'Das Tribunal glaubt, genügend überzeugende Belege gesammelt zu haben, um eine Verurteilung erreichen zu können. Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter organisierter Mord, systematischer Vertreibung und anderer Kriegsverbrechen.' Verurteilt werden können die fünf nur, wenn sie persönlich vor das Kriegsverbrechertribunal gebracht werden. Alle Mitglieder der Vereinten Nationen sind nun aufgerufen, die fünf zu verhaften und nach Den Haag zu überstellen. NATO-Sprecher Shea verweist in diesem Zusammenhang auf das Schicksal des flüchtigen Serbenführers Karadzic: 'Der ist heute ein gejagter Mann; das sollte für alle diejenigen, die in Den Haag angeklagt sind, eine Lehre sein.' Die Anklage, so ist allenthalben zu hören, sei ein Rückschlag für alle diejenigen, die, wie diese Demonstranten heute vor dem NATO-Hauptquartier, eine schnelle Friedenslösung mit der Unterschrift des jugoslawischen Präsidenten Milosevic erreichen wollen. Ein diplomatischer Deal, etwa die Zusicherung von Straffreiheit, sei nunmehr so gut wie ausgeschlossen. Zwar gilt auch für Milosevic bis zum Urteil die Unschuldsvermutung: er könnte einen Friedensvertrag verbindlich unterschreiben, aber [Völkerrechtler Bruno Simma:] 'die Frage ist dann: was wird das Schicksal eines derartigen Abkommens sein, und vor allem, auf welches Abkommen wird sich Milosevic einlassen, wenn er von vornherein disqualifiziert ist als Verhandlungspartner in der Zukunft.' - Die Haager Anklage kommt just an dem Tag, an dem die Unterhändler aus Finnland und Rußland, Ahtisaari und Tschernomyrdin, in Belgrad den Durchbruch schaffen sollten, an dem Tag, an dem es erstmals Hinweise auf einen baldigen Einsatz von 90.000 US-Soldaten im Kosovo gibt. - Noch dementieren die NATO-Sprecher; intern heißt es aber: Wenn schon Bodenkrieg, dann schnell; er müsse vor Wintereinbruch beendet sein."

Die USA reagierten positiv auf die Anklage gegen Milosevic. Dies werde dem serbischen Volk klar machen, wer für den Kosovo-Konflikt verantwortlich ist, sagte Präsident Clinton. Dagegen befürchten China und Rußland, daß die diplomatischen Bemühungen schwieriger werden. Gleichwohl hält der russische Sondergesandte Tschernomyrdin an seiner geplanten Reise nach Belgrad fest. Er sprach heute in Moskau noch einmal mit US-Vermittler Talbot und EU-Unterhändler Ahtisaari, der anschließend in Bonn Bundeskanzler Schröder traf.

[Bericht:] "Ernste Mienen heute abend beim Treffen des finnischen Präsidenten und EU-Jugoslawien-Vermittlers Martti Ahtisaari und Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ahtisaari hatte zwei Tage in Moskau mit dem russischen Jugoslawien-Beauftragten Tschernomyrdin und dem amerikanischen Vizepräsidenten [sic!] Talbot über eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts verhandelt. Offensichtlich gab es dabei Fortschritte in einer Reihe von Einzelfragen. Doch die heutige Entscheidung des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag hat die Situation für politische Verhandlungen - so ist intern aus der Bundesregierung zu hören - erheblich erschwert. Der Kanzler machte klar, daß er trotzdem weiterhin auf die Vermittlungsaktion des finnischen Präsidenten setzt. [Schröder:] 'Was immer der Präsident für nötig hält in dieser Frage, das hat meine Unterstützung, weil ich einfach Vertrauen in sein politisches Gespür und seine diplomatische Professionalität habe. Gelegentlich gibt es Ziele, [hinter] deren Erreichung, nämlich Frieden herzustellen in Europa, andere Gesichtspunkte zurückstehen müssen.' Ahtisaari betonte, die Bemühungen um eine politische Lösung  würden keinesfalls beendet, und er kündigte an, der russische Jugoslawien-Beauftragte Tschernomyrdin werde morgen zu weiteren Gesprächen nach Belgrad reisen. Entgegen ursprünglicher Planungen wird heute abend Kanzler Schröder nun doch noch zu einem Treffen mit anderen westeuropäischen Regierungschefs nach Paris reisen. Die EU hofft weiter auf eine politische Lösung."

Die jugoslawische Regierung verurteilte die Anklage gegen Milosevic als 'politisches Manöver', das für Belgrad bedeutungslos sei. Man erkenne das Tribunal nicht an. Mit der Anklage wolle die Nato, so Belgrad, lediglich die eigenen Verbrechen in Jugoslawien vertuschen.

[Bericht:] "Der jetzt als Kriegsverbrecher gesuchte jugoslawische Präsident empfing heute einen orthodoxen Freund. Der ehemalige girechische Premierminister Mitsotakis machte in Belgrad seine Aufwartung. Zur Anklageerhebung in Den Haag ließ Milosevic seine zweite Garde Stellung nehmen. 'Das ist doch nur Propaganda. Das Haager Tribunal ist doch ein privater politischer Gerichtshof von Madeleine Albright, James Rubin und Wesley Clark.'

Auch in den letzten 24 Stunden hat die NATO die Zahl ihrer Bombenangriffe auf Serbien erneut erhöht. Diesmal wurden 308 Angriffe geflogen. Allein 53 Bomben fielen auf die Stadt Belgrad und ihre Vororte. In Rakovica wurde diese Motorenfabrik zerstört. Beschossen wurden auch das Handelsministerium in Neu-Belgrad, der Militärflughafen von Batajnica sowie weitere Ziele in Mittel- und Südserbien. - Seit gestern abend ist die Berichterstattung über die NATO-Angriffe eingeschränkt. Bilder von getöteten Zivilisten und verwüsteten Wohnhäusern durch fehlgeleitete NATO-Bomben werden künftig nicht mehr zu sehen sein. Auf Druck der NATO-Länder wurden die Sendungen des serbischen Fernsehens über Satellit vom europäischen Satellitenkonsortium eingestellt.

Transkription: Wolfgang Näser, Marburg 27.5.99/22:45