"Frontal"-Brief an Gerhard Schröder

ZDF 11.5.99, ca. 21:30

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, lieber Gerhard Schröder!

Sie haben es weißgott nicht leicht. Da wollten Sie mal raus aus dem Bonner Getümmel, weg vom Grünen Parteitag, weg von Zeitungsverlegern, die, aus Rache für das 630-Mark-Gesetz, Ihren Haarwuchs zum Thema machen - einfach mal raus, einen schönen Friedensflug nach Peking genießen. Und dann das. Volltreffer in Belgrad, Friedensplan ade, China nicht süßsauer, China stinksauer.

Vier tote Chinesen, eine Botschaft in Trümmern - in Trümmern aber auch Ihre Chance, aus Peking als Friedensstifter mit einer chinesischen Unterschrift unter einer UNO-Resolution zurückzukommen. Und das alles nur, weil die Stümper bei der CIA in Langley zu geizig waren, neue Stadtpläne zu kaufen. Schade, daß Freund Bill schon letzte Woche zu Besuch war. Jetzt würden Ihnen zur Begrüßung wohl ganz andere Freundlichkeiten einfallen.

Selbstverständlich - völlig freiwillig und ganz spontan - demonstrieren jetzt die Chinesen. Ganz cool wird die Pekinger Führung in den nächsten Tagen den Preis für eine Rückkehr zur Normalität festlegen. Für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen, Herr Bundeskanzler, mußte Ihr Vorgänger bereits der chinesischen Armee die Ehre erweisen - als erster übrigens damals nach dem Massaker gegen die Demokratiebewegung.

Was werden Sie zahlen müssen, Herr Bundeskanzler? Zehn Jahre Einreiseverbot für den Dalai Lama? Die sofortige chinesische Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation? Das Ende unseres bescheidenen Engagements für chinesische Dissidenten? Peking wird sich schon etwas Passendes einfallen lassen. und - bitte nicht vergessen: rufen Sie bei Bill Clinton an und bitten ihn, die CIA von der Deligratska-Str. in Belgrad fernzuhalten. Die Nummer 32 nämlich gehört Boris Jelzin. Die Russische Botschaft.

Transkription: Wolfgang NÄSER 12.5.99