Ein Kriegstagebuch von Christoph Maria FRÖDER (ARD 9.6.99 /23:10)
Eine Flußfahrt in den Norden Albaniens: der Anfang unserer Reise. Ich bin unterwegs in das Kosovo, um einen eigenen Eindruck vom Krieg zu gewinnen. Begleitet werden wir von einer Elite-Einheit der UCK. Am zweiten Tag fahren wir mit dem Geländewagen weiter zum UCK-Camp. Drei Stunden bis zur Grenze brauchen wir für die Strecke. An den nächsten Tagen im Kosovo werden wir nur zu Fuß unterwegs sein. Im Schußfeld der serbischen Armee könnten uns Motorengeräusche verraten.
Die Männer in Kampfuniform waren in den frühen Morgenstunden auf eine serbische Patrouille gestoßen. Als wir im Camp eintreffen, führen sie uns stolz ihre modernen Waffen vor. Und sie warnen uns vor dem Risiko weiterer Gefechte. Als es endlich nach Stunden losgeht, verrät uns niemand das genaue Ziel. Wir lernen schnell. Für die UCK ist im Kosovo alles geheim: eine seltsame Mischung aus Sorge um die Sicherheit und Wichtigtuerei. Die Patrouille führt uns immer wieder durch offenes Gelände. Die Posten sollen die Flanke sichern. Nach vier Stunden Marsch heißt es erst einmal warten, bis die Vorhut die Strecke kontrolliert hat. Dann geht es zu dem Ort, an dem am frühen Morgen die beiden feindlichen Patrouillen aufeinandergestoßen sind. Ein Opfer des Gefechts war ein russischer Offizier; die UCK sagt, er habe als offizieller Berater auf der serbischen Seite gekämpft. Während die Truppe sich zurückzieht, marschiere ich mit zwei Begleitern weiter. Es muß eine schreckliche Metzelei gewesen sein. Nach den Erzählungen der Kämpfer haben sich beide Patrouillen mit Handgranaten beworfen. Dieser Serbe starb, nachdem ein Scharfschütze der UCK eine Handgranate an seinem Gürtel traf. "Wie ist der getötet worden?" - "Das ist so passiert: von der Seite hier ist er umzingelt worden, er hat ungefähr 10 Handgranaten dabei gehabt, hat 4 geworfen, bei der fünften hat er - also er - mit einer Kugel von [der] Kalaschnikow hier getroffen, hier ist die erste explodiert und bei dem Rechtsrunterfallen ist die zweite passiert, und deswegen hat er diesen großen Riß in dem Gehirnteil." - Am Abend im Camp zeigt man uns die Ausweise der Gefallenen: insgesamt soll es 14 Tote gegeben haben. Die UCK bestreitet eigene Verluste. Stolz präsentieren sie uns die Rubelscheine, die der Russe bei sich trug.
Am nächsten Morgen fahren wir in die Berge zum Basiscamp der UCK, wollen dort auf den nächsten Einsatz warten. Die Formalien dauern endlos, die Bürokratie hat diesen Krieg auf der Seite der UCK-Rebellen längst gewonnen. Während ich über Satellitentelefon mit einem UCK-Kommandeur im Kosovo verhandle, schlagen in unmittelbarer Nähe Granaten ein. Meine Begleiter, abgestellt für meinen Schutz, werden nervös. Der kosovarische Kameramann will nicht mehr weiterdrehen, er reist ab. Von jetzt ab filme ich selbst.
Am nächsten Tag meiner Reise treffen wir einen Bauern direkt an der Front. Obwohl fast täglich Granaten auf seinen Feldern explodieren, arbeitet er stoisch weiter. Früher, so sagt er, wurde vor allem morgens geschossen, aber seit Ende Mai sei das Jaulen der Granaten und das Hämmern der Maschinengewehre fast den ganzen Tag zu hören.
Am Morgen des nächsten Tages: wir besuchen einen Vorposten der UCK im Kosovo. Diese Männer liegen schon seit Wochen den Serben gegenüber. Während die Serben mit Granaten angreifen, kann die UCK nur mit der Kalaschnikow antworten - ein Stellungskrieg ohne Geländegewinne. Aber mitten im Kosovo gebe es schon befreite Gebiete, erzählen uns die Männer voll Stolz. Aus dem Unterstand bleibt vorläufig nur der nostalgische Blick auf ein paar Häuser, aus denen sich die UCK vor 3 Wochen zurückziehen mußte.
Einen Tag später. In der Nähe der albanischen Grenze treffen wir Beobachter der OSZE. Bis zu den NATO-Angriffen waren diese Männer Zeugen der Vertreibung im Kosovo; jetzt haben sie sich nach Albanien zurückgezogen und fahren täglich an die Front, um die Kampfhandlungen zu beobachten. Auf dem Weg dorthin halten sie 50 Meter Abstand voneinander. Der albanische Dolmetscher wird als erster weggesprengt, falls die Serben nachts Minen gelegt haben. Einer der Beobachter hat alle Balkankriege der letzten Jahre miterlebt. Sein Kollege war zuletzt in Kambodscha eingesetzt. "Das hier ist nicht der schlechteste Platz", sagt er, "von hier hat man einen guten Überblick. Nach unbestätigten Berichten schicken die Serben Patrouillen bis weit nach Albanien hinein. Das gesamte Gebiet um die alte Grenzstation ist fest in serbischer Hand. Wir können seit Wochen unsere alte Beobachterposition nicht mehr erreichen. Die Serben haben dort unten Scharfschützen postiert. Und dann gibt es auch noch andere Sachen, vor denen wir uns in acht nehmen müssen." - "Was meinen Sie mit den anderen Sachen?", will ich wissen. "Nach unbestätigten Berichten", sagt er diplomatisch, "versuchen die Serben, Personen über die Grenze zu verschleppen." - Kidnapping also. "Deswegen halten wir weiten Abstand, um ihnen keine Gelegenheit zu geben." - "Ein riskanter Job, den Sie da machen", sage ich. - "Natürlich. Immer wenn Sie im Bereich von Artillerei oder Scharfschützen sind, ist das kein normaler Job." Wie zur Bestätigung fliegen die ersten Granaten; während wir Deckung suchen, notiert weiter oben der zweite Beobachter ungerührt jeden Einschlag. Der Dolmetscher funkt die Autos an, läßt sie so einparken, daß wir jederzeit fliehen können. "Bevor es hier richtig brenzlig wird, hauen wir ab", sagt er. "Denn hier, genau zwischen den serbischen Linien und der Position der UCK, kann es recht ungemütlich werden." Aus den Notizen schreiben die Beobachter jeden Abend einen Lagebericht für das Hauptquartier in Genf. Welchen Sinn macht das eigentlich, will ich wissen. Vermutlich keinen, sagt einer der beiden. Es sei nicht mal sicher, ob der Report in Genf ausgewertet werde. Krieg absurd: da riskieren Männer täglich ihr Leben, ohne daß ihr Einsatz einen Nutzen hat.
Der 10. Tag. Ich komme nach Baramsuri; die nördlichste Stadt Albaniens: ein Räubernest. Allein in einer Woche haben bewaffnete Banden sieben UCK-Kämpfer ermordet und drei Fernsehteams ausgeraubt. Auch wir werden das Opfer von Banditen: mit vorgehaltener MPi knöpfen sie uns 4000 Dollar ab. Die OSZE-Beobachter leben hier streng bewacht an einem geheimen Ort. In ihren Akten fein säuberlich notiert eine unendliche Geschichte von Mord, Elend und Vertreibung: Berichte, die nie veröffentlicht wurden. "Ich habe selbst gesehen, wie die serbischen Militärs in gezielten, großflächigen, systematischen Aktionen die Kosovo-Albaner aus ihren Häusern und Dörfern vertrieben haben. Die, die zu langsam waren, wurden erschossen; die die schnell genug waren, konnten in den Wäldern Schutz suchen. Das waren gezielte militärische Aktionen, die Milosevic selbst vor 10 Jahren beschrieben hat, das war ein politischer Wille, den er damals verkündet hat." Dies war der Anlaß für die Gründung der UCK. Doch trotz aller Waffenkäufe ist die Truppe nur begrenzt einsatzbereit: eine seltsame Mischung von Idealisten und Rambos. Prompt laufen wir in ein Minenfeld, als wir erneut versuchen, in die befreiten Gebiete vorzustoßen.
Die nächsten Tage verbringe ich in einem geheimen UCK-Camp im Grenzgebiet. Dann der Offenbarungseid: der aus der Schweiz eingereiste Kommandant gibt die Hoffnung auf, mich ins Kerngebiet des Kosovo zu bringen. "Ich habe beobachtet und festgestellt, daß die serbischen Truppen verdoppelt sind an der Grenze zu Albanien. Sie sind sogar auf dem albanischen Boden positioniert. Für uns und für die Albaner ist es sehr schwierig, sich an dem Grenzgebiet aufzuhalten."
Am 16. Tag fahre ich auf eigene Faust an die Grenze. Vielleicht bringen mich ja andere UCK-Kommandeure tiefer ins Kosovo. Als Verbindungsmann bietet sich Pistolen-Joe an, der gemeinsam mit seinem Partner Django das Gebiet kontrolliert. Mit ihnen als Bodyguards, so sagt er, könne ich sogar ein Ausbildungslager filmen. Die Show ist eher grotesk, aber ich heure die Männer an. - Dies ist das Camp: hinein kommen wir nicht. Doch mit Pistolen-Joes Hilfe dürfen wir immerhin einen kurzen Blick auf das Training werfen. Viele der Männer kommen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich.
Tags drauf fahren wir erneut in Richtung Kosovo. Mit dabei ist ein UCK-Bodyguard und der Bauer Hakim, ein Flüchtling aus dem Kriegsgebiet. Wir hatten ihn auf der Straße getroffen und erfahren, daß er heimlich in sein verlassenes Dorf zurückkehren will, um das Vieh zu füttern. Ich will ihn begleiten. Ein riskanter Weg, denn Hakims Dorf liegt auf der Grenzlinie, direkt im Schußbereich der Serben. Der UCK-Leibwächter bleibt zurück, als wir den letzten albanischen Militärposten vor der Grenze passieren. Zu gefährlich, sagt er. Jetzt sind wir auf uns gestellt. Der Weg ist mühselig. Hakim ist zäh und schneller als ich. Immer wieder zeigt er mir verlassene Dörfer in der Ferne und Berge, auf denen serbische Stellungen sind. Ich habe Angst; ob Hakim Angst hat, weiß ich nicht. Er läßt sich jedenfalls nichts anmerken.
Unterwegs treffen wir einen Nachbarn von Hakim; auch er will sich um sein Haus kümmern. Für mich ist es erst die 3. Woche im Kriegsgebiet. Diese Männer leben schon seit Jahren in dieser Konfliktzone. Serbische Scharfschützen, erzählt Hakim, haben vier Mitbewohner erschossen und zuletzt auf alles geballert, was sich bewegte.
Wir nähern uns dem Dorf von hinten, damit uns die Serben nicht sehen. Der Hofeingang von Hakims Nachbarn ist sorgsam verriegelt. In diesem Haus wurden ein paar Kühe versteckt; die meisten Tiere haben die Serben erschossen. Schußspuren überall an den Häusern. Die letzten Wochen vor der Flucht waren die Hölle, sagt Hakim. Damals haben alle Bewohner das Dorf verlassen, heute ist es ein Geisterort.
Vorbei an den Trümmern, immer in Deckung, gelangen wir endlich zu Hakims Haus; es hat den Beschuß erstaunlich gut überstanden, weil es in der zweiten Reihe liegt. Hakim führt mich in die Küche: hier machen wir Rast, fühlen uns in Sicherheit und verdrängen die Gefahr. Im Nebenzimmer ein Einschuß: die Kugel ging haarscharf über das Ehebett. Hakims Familie ergriff noch in der gleichen Nacht die Flucht. Bei Hakims Nachbarn stehen noch Fernseher und Radio in der guten Stube. Ich frage, warum sie die Geräte nicht mitgenommen haben. "Die Serben hätten uns massakriert, denn sie haben mit ihren Nachtsichtgläsern unsere Flucht beobachtet. Und selbst wenn wir bis auf das albanische Gelände gekommen wären, hätten uns dort die bewaffneten Banden ausgeraubt, wahrscheinlich sogar umgelegt."
Nach unserem Rückmarsch fahren wir am letzten Tag unserer Reise in jenes albanische Dorf, in dem Hakim nach seiner Flucht Unterschlupf fand. Wir werden auf eine Großfamilie aufmerksam, vor zwei Wochen aus dem Kosovo gejagt. Die Menschen wirken apathisch.
Ein Mann fällt uns besonders auf, weil er ständig weint. Behutsam fragen wir nach seiner Geschichte; erst will er nicht sprechen, will endlich die schrecklichen Bilder vergessen. Ich fühle mich im Zwiespalt, will seinen Entschluß respektieren, aber ich will die Dinge auch so schildern, wie sie wirklich sind. Wem nützt es, wenn die Kriegsgreuel verborgen bleiben, frage ich ihn. Schließlich erzählt er eine unglaubliche Geschichte: eine serbische Patrouille hat ein Kind gepackt und es vor den Augen der Mutter aufgehängt. Die Familie wurde davongejagt, durfte nicht an den Leichnam. "Wir haben dann das Kind in der Nacht heimlich abgeschnitten und die kleine Leiche von anderen Flüchtlingen nach Albanien bringen lassen. Am nächsten Tag kommt ein serbischer Polizist, ein früherer Nachbar, in unsere Küche. Er nimmt den Deckel vom Topf und sagt: 'Ihr Albaner seid Hungerleider, ihr habt hier gar kein Fleisch in der Suppe.' Und er nimmt das Baby meiner Schwester aus der Wiege, schlägt es vor unseren Augen tot. Dann hackt er Arme und Beine ab, wirft sie in die Suppe. Mit den Worten 'Jetzt habt ihr Fleisch' verläßt er das Haus."
Eine Geschichte jenseits der Vorstellungskraft: nicht nachprüfbar, aber der Mann erscheint uns glaubwürdig. Es ist der 20. Tag und das Ende meiner Reise.
(c) Transkription: Dr. Wolfgang NÄSER, 10.6.99 am