1. [Sprecherin: Dagmar Berghoff]
[...] Die NATO-Luftangriffe gegen Jugoslawien haben möglicherweise erneut zivile Opfer gefordert. Nach serbischer Darstellung kamen in der vergangenen Nacht in einem Dorf bei Prizren im Kosovo mehr als 100 Menschen ums Leben. Viele seien verletzt worden, unter ihnen Frauen und Kinder. Die meisten seien Kosovo-Albaner gewesen. Wie es hieß, habe die Allianz wieder Streu-Bomben eingesetzt. Die NATO räumte ein, daß ihre Flugzeuge ein falsches Ziel angegriffen haben könnten. Es wäre einer der folgenschwersten Fehler seit Beginn der Luftangriffe.
[Bericht] Unter dem strahlendblauen Himmel des südlichen Kosovo, gezeichnet mit den Kondensstreifen von NATO-Jets, boten sich den Reportern Bilder des Grauens: zerschossene Traktorengespanne, verkohlte Teile menschlicher Körper und verängstigte Menschen, denen der Schock im Gesicht steht. Nach Angaben des serbischen Medienzentrums in Pristina hätten NATO-Flugzeuge in der letzten Nacht Angriffe auf den kleinen Weiler Korisa bei Prizren geflogen. Dabei seien über 100 albanische Flüchtlinge getötet worden: ein Massaker, für das die NATO die Verantwortung trage.
In dem Ort hätten über 500 Albaner übernachtet, die auf dem Weg zurück in ihre Häuser gewesen seien. Doch ein Augenzeuge berichtet, daß die Flüchtlinge möglicherweise serbischen Weisungen folgten. "Man hat uns in die Berge geschickt wegen der Lage. Alle waren dort. Das war mit dem Kommandeur so abgesprochen. Heute hätten wir in unsere Häuser zurückkehren sollen, dann passierten in der Nacht, so um halb Zwölf, diese Explosionen. Es waren fünf."
Handelt es sich wieder um einen NATO-Fehlschlag gegen unschuldige Zivilisten oder wurden die Flüchtlinge als Schutzschild für serbische Militärfahrzeuge benutzt? Die NATO hat Ermittlungen eingeleitet und lehnt bisher jede Stellungnahme ab.
Im Krankenhaus von Prizren teilten Ärzte heute nachmittag mit, daß von 60 eingelieferten Verletzten inzwischen 37 Menschen gestorben seien; unter den Toten befinden sich zahlreiche Kinder. Die albanischen Flüchtlinge, die den Angriff überlebten, sind verzweifelt. "[Eine Frau:] Sie sind wahnsinnig geworden, das sind keine Menschen, sie töten unsere Kinder, tötet uns doch alle. Meine ganze Familie ist tot."
[D. Berghoff] Von serbischer Seite wurden die Angriffe der NATO als ein 'verbrecherischer und barbarischer Akt' verurteilt. Aus der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad nun Klaus Below:
"Um 19 Uhr 30 begann wie immer heute abend die Hauptausgabe der serbischen Tagesschau im Fernsehen hier. Die erste Meldung betraf eine Kabinettssitzung mit Präsident Milosevic, der Sprecher sagte 'Alles funktioniert' und dann kam die Hauptmeldung des Tages, nämlich der Einschlag von sechs NATO-Raketen in einem Dorf 90 Kilometer südöstlich von Pristina nahe der albanischen Grenze. Und der Sprecher sagte im Kommentar sehr sachlich, Serbien appelliert an die Vereinten Nationen, daß die Bombardierung sofort eingestellt werden müsse, daß die 'Massaker an Zivilisten', wie es wörtlich hieß, damit aufhören müssen. Und weiterhin sagte der Sprecher dann, dieses sei der Beweis, daß die NATO gar nicht wolle, daß die Flüchtlinge in ihre Heimatdörfer zurückkehren. Und dann schwenkte die Kamera lautlos über die Leichenteile."
Die NATO sicherte zu, den Vorfall im Kosovo gründlich zu überprüfen; sobald Ergebnisse vorlägen, würden sie veröffentlicht. Gleichzeitig bekräftigte die Allianz, sie werde ihre Luftangriffe kompromißlos fortsetzen: so lange, bis Belgrad alle Forderungen für eine Beendigung des Krieges erfülle. Aus Brüssel Gerd H. Pelletier:
"Die Presseoffiziere und Sprecher im NATO-Hauptquartier wußten, was heute auf sie zukam: die Frage nach 50 bis 100 toten Zivilisten im Kosovo, die nach serbischen Angaben Opfer von NATO-Streubomben wurden. Doch, wer gedacht hatte, die NATO-Sprecher würden die schreckliche Meldung gleich zu Beginn ihrer Pressekonferenz aufgreifen, sah sich getäuscht. Statt dessen wurde der 'erfolgreichste Tag der Luftangriffe' gerühmt: 679 Einsätze. Besonders im Kosovo seien Militärlastwagen, Panzer, Artillerie und Aufmarschstellungen der Serben getroffen worden. Dann sahen die Journalisten noch lange Bilder von angezündeten Albanersiedlungen und von Massengräbern, ehe die erste Frage den toten Zivilopfern der letzten Nacht galt.
[Dr. Jamie SHEA: The reason I was late today is that I...] 'Das ist der Grund, daß ich etwas später kam: ich habe mit dem Hauptquartier telefoniert, um in letzter Minute Einzelheiten zu erfahren. Was wir jetzt tun, ist das, was wir immer bei solchen Meldungen tun: wir führen eine umfassende Untersuchung durch. Das läuft heute. Wenn ich die ganze Story kenne, gebe ich sie Ihnen, aber ich hab sie noch nicht [...the story I will give you the details but I don't have that yet]'. - Frage: 'Können Sie denn bestätigen, daß die NATO Streubomben einsetzt?' - [GenMaj Walter GERTZ:] 'Wir greifen nie vorsätzlich zivile Ziele an. Wir setzen diese Bomben gegen sogenannte Luftziele ein - Flughäfen usw. -, aber nur, wenn wir sicher sein können, keine zivilen Nebenschäden zu verursachen [...can make sure that there are no collateral damages].'
Dieser Krieg - man merkt es immer wieder - ist nicht nur einer der Waffen und Greueltaten, sondern es ist auch einer der Worte, der Propagandafälschungen und der Ausreden. Die NATO, noch ehe sie den Fall abschließend in den eigenen Reihen geprüft hat, weist darauf hin, daß Milosevic schon gestern abend ausländische Journalisten ins Kosovo eingeladen hat, um Schäden zu begutachten, die nun erst in der Nacht entstanden sein sollen. Auf der anderen Seite: Je mehr solcher Zivilschäden entstehen, destio schwieriger wird es, die Solidarität der NATO nach innen zu erhalten."
[D. Berghoff:] Mit Kritik an der NATO hat sich jetzt die UN-Menschenrechtskommissarin ROBINSON zu Wort gemeldet. Sie warf der Allianz vor, ihre Angriffe gegen Ziele in Jugoslawien zu leichtfertig zu führen und das Leben von Zivilisten aufs Spiel zu setzen. Es gebe zu viele Fehler. Robinson schloß nicht aus, daß dies eines Tages vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zur Sprache kommt. Sie wolle aber die NATO-Angriffe nicht mit dem Terror der Serben gleichsetzen.
[...] Die NATO geht inzwischen verstärkt gegen militärische Stellungen, Artillerie und Panzer vor. Solche Angriffsziele wie in der vergangenen Nacht sind auf dieser Karte dokumentiert. Die Serben behaupten jetzt, daß bei einem solchen Angriff an die 100 Menschen getötet wurden. [...] Es gab Tote, viele Tote in dem kleinen Ort Korisa in der Nähe von Prizren, hart an der albanischen Grenze. Nun gibt es Streit zwischen den Serben und der NATO: wer die Verantwortung für die toten Zivilisten trägt. NATO-Raketen, Streubomben oder doch serbische Artillerie? Für die NATO lassen tote Zivilisten das Bild vom 'gerechten Krieg' verschwimmen. Die Serben brauchen sie als Propagandawaffe im Kampf eben gegen die NATO-Angriffe. Die volle Wahrheit werden wir an diesem heutigen Tage nicht erfahren, aber die Bilder machen deutlich, daß sich dieser Krieg eben auch gegen Zivilisten richtet; besonders bitter: es traf Menschen, Flüchtlinge, die der Gewalt entkommen wollten. Thomas Kausch berichtet:
"[GenMaj GERTZ: I would like to start today with two points before we ...] Als die Sprecher der NATO heute wie jeden Tag vor die Presse traten, zeigten sie sich noch zufrieden. [which again went very well ...] Die letzten Angriffe seien sehr erfolgreich gewesen, so viele wie nie zuvor bislang. und um denen, deren Vertrauen in die Allianz langsam schwindet, noch einmal klar zu machen, wer die Guten und wer die Bösen sind in diesem Krieg, zeigte Jamie SHEA wieder einmal Bilder von Häusern, die die Serben zerstört hätten, und von möglichen Massengräbern. Den gehäuften NATO-Angriffszielen in Rot im Süden auf der Karte wurde keine besondere Erwähnung zuteil. In dieser Gegend liegt Prizren und nahebei das Dorf Korisa.
Ungefähr zur gleichen Zeit in den serbischen Staatsnachrichten eine neue Horrormeldung der anderen Seite. ['Korisa u ...' ] Mindestens einhundert Zivilisten, sagt die Sprecherin, seien beim Abwurf von Streubomben der NATO auf ein Dorf im Kosovo umgekommen. Das Dorf liege nahe Prizren, sein Name Korisa. [We evidently ...] Das sprach sich in Windeseile auch in Brüssel herum, Makulatur war die Erfolgsbilanz. Die Journalisten stellten Fragen, die die NATO noch nicht beantworten konnte; es werde geprüft und, ja, dort unten wurden Angriffe geflogen.
Ein Bauernhof in Korisa. Viele der Leichen sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Von 79 ist nunmehr die Rede. Überall Traktoren. Es scheint sich also tatsächlich um albanische Flüchtlinge zu handeln. Nach serbischen Angaben seien sie auf dem Weg gewesen, das Kosovo Richtung Albanien zu verlassen. Dieser Mann bestätigt zwar auch den Angriff, aber er erzählt, sie, die Flüchtlinge, seien zunächst - so wörtlich - 'in die Berge verlegt' worden; dann habe die serbische Führung ihnen gesagt, sie könnten zurückkommen. Für eine Nacht sollten sie auf dem Bauernhof bleiben, dann könnten sie nach Hause. Demnach wären die Menschen nicht zufällig dort gewesen, und damit stellt sich die Frage, ob sie als lebende Schutzschilde mißbraucht wurden. Die NATO spricht von Artilleriefeuer in der Gegend, und schon länger hat sie Beweise, daß serbische Panzer in Gehöften versteckt werden. Wurde sie also in die Irre geführt oder hat sie einfach danebengeschossen? So oder so, dieses Kind war unschuldig."
[Niemetz:] Diese Bilder aus Korisa werden sich in das öffentliche Bewußtsein einprägen; sie werden der Diskussion um den Sinn dieses Krieges neue Nahrung geben. Gerd Helbig aus Brüssel mit einer Einordnung der Umstände, die zum Tod der Zivilisten führten:
"Auch bei der NATO herrschte heute Bestürzung: kann das sein, so kurz nach dem Fiasko mit der Chinesischen Botschaft? Sie wehrt sich aber gegen eine zu schnelle Schuldzuweisung und hält sich bis zur Stunde zurück. Sie wartet auf die Fotos, die Filme aus den Flugzeugen, auf die Aussagen der Piloten. Das braucht Zeit; je länger es dauert, desto rascher wächst das öffentliche Mißtrauen - das weiß man. In der Gegend nördlich von Prizren, wo sich der furchtbare Vorfall ereignet hat, gab es in der letzten Zeit, wie wir eben gehört haben, Artilleriebeschuß durch die Serben: auf was haben sie geschossen? Nach ihren bisherigen Nachforschungen hat die NATO dort massive Angriffe geflogen, aber keine Streubomben geworfen. Offiziell hat sie das aber bisher noch nicht verkündet. Man stellt sich Fragen: Wieso wurden die Flüchtlinge in das leere Dorf zurückgeführt mit der Zusicherung, sie seien dort sicher? Das britische Verteidigungsministerium gab heute bekannt, daß die Serben Kosovo-Albaner unter Brücken postiert hatten, damit diese Brücken nicht angegriffen würden. Mindestens in einem Fall hat ein britischer Pilot abgedreht. Man fragt sich, ob es Parallelen gibt. Hat es womöglich in den getroffenen Häusern des Dorfes Korisa zunächst Panzer gegeben, ehe dort die Flüchtlinge einzogen und menschliche Schutzschilde wurden? Offene Fragen, auf die die NATO nicht überstürzt antworten will."
(c) Transkription: Dr. Wolfgang NÄSER 14.5.99
(c) WN 140599 | 23:20