Internationaler Nürnberger Menschenrechtspreis

Rede zum Festakt von Vaclav Havel

Sehr geehrter Herr Kowaljow,
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
Verehrte Mitglieder der Jury des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises,
Meine Damen und Herren,

Gerade vor sechzig Jahren wurde diese historische Stadt Nürnberg zum Schauplatz eines der Schlüsselmomente des größten Schreckens und der größten Schande unseres Jahrhunderts. Während des sogenannten Reichsparteitags der Freiheit, in einer Atmosphäre bombastischer Nazi-Spektakel, verabschiedete hier der Reichstag, schon damals bloß eine klägliche Karikatur des früheren Parlaments des deutschen Volkes, jene ruchlosen Gesetze, mit denen eine Gruppe von Bürgern zu zweitrangigen Menschen erklärt und aus der nationalen sowie der bürgerlichen Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Gerade damals wurden öffentlich jene Prinzipien verkündet, die allmählich zum größten Massenmorden in der Geschichte führten.

Das Böse begann sich zu verbreiten. Auf Grund der Nürnberger Gesetze und anderer absurden Regeln wurden Menschen als Angehörige einer höheren oder einer niedereren Rasse, eines höheren oder eines niederen Volkes eingestuft, allmählich wurden Abstammung und "Rassenreinheit" zur Vorbedingung für Beteiligung am öffentlichen Leben, für das Studium und eine anständige Arbeitsstelle und schließlich für das bloße Überleben.

Die westlichen Demokratien blieben damals, bedauerlicherweise, taub und blind und beschränkten sich lediglich auf die formale Kritik jener sogenannten Gesetze. Da die demokratischen Mächte Vorsicht und Zurückhaltung walten ließen und zum energischen Einschreiten nicht bereit waren, siegte die Politik des Appeasement. Die Verbrecher, die die Nürnberg Gesetze ausgerufen hatten, wurden in ihrer Überzeugung bestärkt, straffrei davonzukommen, wenn sie diese Gesetze in die Tat umsetzen. Als Bestandteil und nicht wegzudenkende Begleiterscheinung der braunen Pest drangen die Nürnberger Gesetze in die an das Nazi-Reich angegliederten oder von ihm annektierten Gebiete vor, ohne daß dies auf irgendeinen bedeutenden Widerstand seitens der internationalen Gemeinschaft gestoßen wäre. Die letzte Gelegenheit, dieser Entwicklung resolut entgegenzutreten, ging 1938 verloren, als die europäischen Demokratien die Prüfung der Festigkeit ihres Willens zu Verteidigung und Solidarität nicht bestanden haben. Ich denke hier an das Münchner Abkommen. Dadurch wurde ein demokratischer Staat zerstört, der vorher Tausenden jüdischer sowie deutscher Flüchtlinge Asyl gewährt hatte und in dem etwas, was den Nürnberger Gesetzen auch nur ähnlich gewesen wäre, bis zu jenem Moment völlig undenkbar war. Gleichzeitig wurden durch das Münchner Abkommen jedoch auch die Ehre, die Selbstachtung und das Selbstbewußtsein der demokratischen Politker zerstört und deren Mandat geschändet.

Treu und zusammen mit dem Münchner Diktat betraten die Nürnberger Gesetze damals auch meine Heimat. Brennende Synagogen in Liberec (Reichenberg) und anderen Städten des böhmischen Grenzgebietes während der sogenannten Kristallnacht waren eine logischen Folge davon. Zehntausende unserer Bürger, vor allem Juden, flohen, von der Furcht ergriffen, ins Innere des Landes, das vorerst noch etwas mehr Sicherheit bot. Doch die Gelegenheit war ungenutzt vorübergegangen. Unabwendbar folgten darauf die Okkupation der restlichen Gebiete unseres Landes, der Überfall auf Polen, der erste Massentransport von Juden in Europa vom mährischschlesischen Ostrava (Ostrau) ins polnische Nisko, Transporte nach Theresienstadt und von Theresienstadt nach Ausschwitz. Die Tragödie der tschechischen Juden war dabei natürlich nur ein Teil der gesamten Apokalypse des Holocaust und der Politik der sogenannten Endlösung für ganze Völker und Staaten.

Wie ist es möglich, daß eine so perverse Ideologie wie der Nationalsozialismus in einem zivilisierten kulturellen europäischen Land entstehen konnte? Wie ist es möglich, daß in der alten europäischen Stadt Nürnberg, die im Zusammenhang steht mit einer bedeutsamen Kodifizierung des Stadtrechts, Gesetze angenommen werden konnten, die jedem Recht Hohn lachten? Und wie ist es möglich, daß die demokratischen Mächte am Anfang diesen Vorgängen untätig zusahen und dadurch die Verbreitung des Unheils ermöglichten?

Es scheint, daß viele Politiker Demokratie bloß als eien Mechanismus der Bildung des politischen Willens betrachteten. Verloren ging das Bewußtsein ihres moralischen Fundaments. Erst der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte den Demokraten bewußt, daß es sich nicht lohnt, das Untolerierbare zu tolerieren und mit klassischen diplomatischen Methoden mit einem Regime umzugehen, das gegen sämtliche Regel verstößt, welche der europäischen Zivilisation zugrunde liegen. Der Preis, der jedoch für diese späte Erkenntnis gezahlt werden mußte, war hoch.

Nach dem Krieg waren alle überzeugt, daß sich nichts dergleichen je wiederhoen würde und wiederholen dürfte. Nürnberg, die Stadt der NSDAP-Parteitage und Rassengesetze, wurde zum Schauplatz eines Prozesses, der - indem das Institut des internationalen Tribunals eingeführt wurde - all denjenigen als Warnung dienen sollte, die künftig etwas Ähnliches versuchen möchten. Als Folge des Zweiten Weltkrieges entstanden auch die Vereinten Nationen - eine Institution, deren Ziel es war, solche Untaten für die Zukunft zu verhindern. Eine der Lehren, die aus dem Zweiten Weltkrieg zu ziehen sind, lautet, daß die internationale Gemeinschaft nicht leidglich mechanisch in Kategorien des Gleichgewichts der Kräfte einzelner Länder denken sollte. Sie sollte sich auch damit beschäftigen, was innerhalb der betreffenden Länder vor sich geht.War doch das Münchner Abkommen Folge des Glaubens, daß es im Rahmen der Aufrechterhaltung einer Art Gleichgewicht der Kräfte möglich ist, sogar gegenüber einem Regime, das die Nürnberger Gesetze ausgerufen hatte, Zugeständnisse zu machen. Das Ergebnis waren die Schrecken des Holocaust und das Leid des Krieges.

Manches deutet jedoch darauf hin, daß die Menschheit unbelehrbar is. Wieder sind diejenigen da, die versuchen, Menschen auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit abzusondern und den Geist der Stammeskriege wieder ins Leben zu rufen. Wieder gibt es jene, die der Meinung sind, daß im Krieg begangene Unmenschlichkeiten straffrei seien, und deswegen Kriege entfesseln und die internationale Gemeinschaft verhöhnen. Und wieder gibt es demokratische Regierungen, die glauben, daß Angreifer durch das Aushandeln von Zugeständnissen, durch Schritt-um-Schritt-Taktieren aufgehalten werden können, kurzum dadurch, daß man vor dem Bösen zurückweicht. Auch die Vereinten Nationen - trotz der unbestreitbar positiven Rolle, die sie mehrere Male bei der Lösung internationaler Streitigkeiten gespielt haben - müssen noch ein großes Stück Weges gehen, um den Erwartungen und Absichten ihrer Begründer gerecht zu werden.

Es scheint, daß mit den Jahren, die seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen sind, und auch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, die Wachsamkeit der Demokraten nachgelassen hat. Wieder scheint die Demokratie auf bloße Routine, auf einen Mechanismus der Gestaltung des politischen Willens reduziert zu werden. Für die Demokratie ist es jedoch lebenswichtig, daß die Werte, auf welchen sie beruht, andauernd neu belebt werden. Deshalb brauchen wir heute wieder Politker, die sich der ethischen Grundlage der Demokratie entsinnen und verstehen, daß man sich nicht auf Methoden der Routinediplomatie verlassen kann, wenn man mit militanten Nationalisten zu tun hat. Durch eine Politkik im Stile Neville Chamberlains werden Aggressoren nicht aufgehalten. Wir brauchen deswegen auch Bürger, die das Böse in seinen Anfängen erkennen und bereit sind, ihm trotz persönlicher Risiken entgegenzutreten und ihre Haltung auch gegenüber ihren politischen Repräsentanten mit aller Entschiedenheit zum Ausdruck zu bringen.

Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurd Europa immer noch von bewaffneten Auseinandersetzungen geplagt - vor allem von dem Krieg auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens und einigen Konflikten in der früheren Sowjetunion. Verschiedenen Machthungrige geben diesen Konflikten oft den Charakter von Stammeskriegen, wodurch alte ethnische Haßgefühle wiederbelebt und in Gewalt umgeschmolzen werden. Es ist unsere Pflicht, und es liegt auch in unserem Interesse, die Kräfte in den betreffenden Gebieten zu unterstützen, die sich zu den Werten der Bürgergesellschaft und der Menschenrechte bekennen. Zu ihnen gehört auch Sergej Adamowitsch Kowaljow. Sein ganzes Leben ist ein Beweis seiner Treue zur Idee der Menschenrechte und seines Mutes bei deren Durchsetzung. Seine Bemühungen auf diesem Gebiet begann dieser bescheidene Wissenschaftler schon zur Zeit der kommunistischen Herrschaft, im Jahre 1967.Er wurde zum engen Mitstreiter Andrej Sacharows. 1969 war er einer der Mitbegründer der Initiativgruppe für Menschenrechte. Aktiv beteiligte er sich, als Mitarbeiter und später als Redakteur, an der Herausgabe der Sarnisdat-Publikation Chronik der laufenden Ereignissse, die Fälle von Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR dokumentierte. Im Jahre 1970 mußte er seine Stelle als Wissenschaftler verlassen, 1974 wurde er verhaftet, "antisowjetischer Propaganda und Agitation" beschuldigt und zu sieben Jahren Gefändnis und drei weiteren Jahren unfreiwilligen Verbleibens in Sibirien veruteilt. Nach Verbüßung der Strafe lebte er in Kalinin; das Recht, in Moskau zu leben, wurde ihm entzogen. 1987 kehrte er nach Moskau zurück und schloß sich einer Menschenrechtsgruppe des Internationalen Fonds für Überleben und Entwicklung der Humanität an. 1990 wurde er zum Vorsitzenden des Komitees für Menschenrechte im Obersten Sowjet der Russischen Föderation, von demselben Jahr an leitete er die russische Delegation bei der UN-Kommission für Menschenrechte in Genf.

Für die ganze Welt wurde der Name Sergej Kowaljow zum Symbol des Widerstands gegen den blutigen Konflikt in Tschtschenien, dessen Opfer vor allem Zivilisten waren, die unerhörtes Leid erdulden mußten. Das menschlich mutige Auftreten Sergej Kowaljows an Ort und Stelle während der Kämpfe in Grosny war gleichzeitig ein Kampf um den demokratischen Charakter des heutigen Rußlands. Er hat gegen all die gefährlichen Erscheinungen, mit welchen der tschetschenische Konflikt die Weiterentwicklung der russischen Gesellschaft bedroht, Front gemacht und setzt sich für Demokratie, Menschenrechte und das Prinzip der Bürgergesellschaft ein. Sergej Kowaljow ist zum bedeutendsten Vertreter aller russichen Demokraten geworden, in deren Reihen neben Politikern und öffentlich tätigen Persönlichkeiten vor allem auch gewöhnliche Bürger stehen, die gegen Gewalt, Unrecht und Gefährdung der demokratischen Entwicklung in ihrem Land aufgetreten sind. Nur Sergej Kowaljow selbst weiß, wie schwierig es ist, all denen entgegenzutreten, die ihre Sehnsucht nach der Rückkehr der alten Verhätnisse nicht aufgeben können.

Es ist kennzeichnend für Sergej Kowaljow, daß er unverzüglich zu handeln beginnt, wann immer er helfen kann. Gespannt verfolgten wir den terroristischen Angriff in der südrussichen Stadt Budjonnowsk und Sergej Kowaljows Bemühen, Verhandlungen zwischen den beiden Parteien zu vermitteln - ein Bemühen, Verhandlungen zwischen den beiden Parteien zu vermitteln - ein Bemühen, das schließlich von Erfolg gekrönt war.

Heute ist Sergej Kowaljow eine weltweit anerkannte Autorität. Die Welt unserer Zeit braucht Bürger wie Sergej Kowaljow eine welteit anerkannte Autorität, der - selbst Politiker - uns, den anderen Politikern, den Weg weist, wie man denken und handeln soll. Persönlichkeiten wie er sind Garantie dafür, daß nie wieder neue Nürnberger Gesetze verabschiedet oder neue Münchner Abkommen abgeschlossen werden.

Die Stadt Nürnberg will dazu betragen, daß von hier aus künftig Signale ausgehen, die der Verständigung unter Völkern förderlich sind. Als ein völkerverständigungförderndes Signal betrachte ich auch die Tatsache, daß gerade mir, als einem Angehörigen des tschechischen Volkes, die Ehre zuteil wurde, dieses Forum ansprechen zu dürfen. Meine Mitbürger verfolgen mit Freude und Anerkennung all das, was die Stadt Nürnberg, bedeutendes Zentrum einer an die Tschechische Republik grenzenden Region, für das Wohl der tschechisch-deutschen Beziehungen unternimmt. Es ist einfach gut, daß sich Nürnberg, im Hinblick auf die bewegte Geschichte dieser Stadt, heute seiner Mitverantwortung für den Zustand der gegenwärtigen Welt bewußt ist und daß hier in verstärktem Maße jener wesentliche Imperativ verstanden wird, der sich aus der bewegten Geschichte des 20. Jahrhunderts ergibt und der wie folgt lautet: das Böse muß in seinen Anfängen bekämpft werden. Es ist gut, daß der Internationale Nürnberger Menschenrechtspreis gestiftet wurde, um jene Menschen zu ehren, die bereit sind, dem Bösen Widerstand zu leisten und trotz persönlicher Risiken den Kampf für die Menschenrechte führen. Es ist gut, daß gerade Sergej Kowaljow zum ersten Träger dieses Preises wird.

Lieber Sergej Adamowitsch, ich gratuliere Ihnen zu dieser Auszeichnung.