FORMEN SCHRIFTLICHER KOMMUNIKATION * DR. W. NÄSER * WS 96/97
   
   6.1.1997
   
   
   Internationaler Nürnberger Menschenrechtspreis
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   SERGEJ KOWALJOW
   
   russischer Biologe, Menschenrechtler, Duma-Abgeordneter
   
   
 1 Sergej Adamowitsch Kowaljow wurde am 2. März 1930 in Seredina-Buda in der
   Region Sumy in der Ukraine geboren, ist aber der Nationalität nach Russe.
   Nach Schulabschluß studierte Kowaljow Biologie an der Staatlichen Moskauer
   Universität mit den entsprechenden Abschlüssen, darunter Kandidat der
 5 biologischen Wissenschaften (vergleichbar Doktorgrad).
   
   Beruflich arbeitete er in den folgenden Jahren als Biologe in einem
   Forschungslaboratorium der Moskauer Universität. Schon 1956 bekam Kowaljow
   Ärger mit dem KGB, als er und Freunde auf dem Puschkin-Platz in Moskau
   gegen die Intervention in Ungarn protestierten. 1967 begann Kowaljow als
10 Mitstreiter und Freund Andrej Sacharows sich aktiv für die Beachtung der
   Menschenrechte einzusetzen, begrüßte 1968 den "Prager Frühling" und
   beteiligte sich 1969 an der Gründung der ersten Menschenrechtsorganisation
   in der Sowjetunion, der "Initiativgruppe für Menschenrechte", gehörte zu
   ihren aktivsten Mitgliedern und wurde Herausgeber der Samisdat-Publikation
15 "Chronik der laufenden Ereignisse", die - im Untergrund erscheinend -
   Verletzungen der Menschenrechte dokumentierte und anprangerte.
   
   Als erste Repressionsmaßnahme verlor Kowaljow 1970 seine Arbeit im
   Forschungslaboratorium. Vier Jahre später - Ende 1974 - wurde er wegen
   "antisowjetischer Agitation und Propaganda" verhaftet und zu sieben Jahren
20 Gefängnis und drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Die zehn Jahre Haft im
   Nordosten Sibiriens haben Kowaljows Gesundheit nachhaltig beschädigt. Nach
   Verbüßung der Strafe wurde ihm die Rückkehr nach Moskau verweigert und die
   Stadt Kalinin (heute wieder Twer) als Zwangsaufenthalt zugewiesen.
   
   Im Zuge der Perestrojka des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow durfte
25 neben Sacharow auch Kowaljow 1987 nach Moskau zurückkehren und schloß sich
   der Menschenrechtsgruppe des Internationalen Fonds für Überleben und
   Entwicklung der Humanität an. Beruflich arbeitete er bis 1990 als
   Wissenschaftler am Institut für Probleme des Informationstransfers der
   Akademie der Wissenschaften der UdSSR. 1990 wurde er auch in den Obersten
30 Sowjet der Russischen Föderation gewählt und dort Vorsitzender des
   Komitees für Menschenrechte. 1991 wirkte er als Ko-Vorsitzender der
   sowjetischen Delegation bei einer Konferenz der KSZE in Moskau. 1990 bis
   1993 leitete er die russische Delegation bei der UN-Kommission für
   Menschenrechte in Genf.
   
35 In der Innenpolitik Rußlands stand Kowaljow lange auf der Seite des
   russischen Präsidenten Boris Jelzin, begrüßte den Widerstand Jelzins gegen
   den Putschversuch orthodoxer Kräfte im August 1991, hatte aber schon im
   Oktober 1993 Vorbehalte gegen das gewaltsame Vorgehen gegen das von
   Gegnern Jelzins (Ruzkoj und Chasbulatow) besetzte Parlament der russischen
40 Föderation Anfang Oktober 1993. Auch nach der Duma-Wahl im Dezember 1993
   stand er als Abgeordneter der radikaldemokratischen Parlamentsfraktion
   "Rußlands Wahl" (Gaidar u. a.) noch hinter der Politik Jelzins. Im Sommer
   1994 ernannte ihn Präsident Jelzin zum Leiter der Menschenrechtskommission
   der Regierung, gewissermaßen - wie Kerstin Holm in der FAZ (04.01.1995)
45 schrieb - als "Ausgleich" für Jelzins Ukas zur Verbrechensbekämpfung, der
   russischen Polizeikräften weitreichende Vollmachten gewährt und deshalb
   von demokratischen Politikern heftig kritisiert wurde.
   
   Das militärische Vorgehen Rußlands gegen die abtrünnige Kaukasus-Republik
   Tschetschenien ließ Kowaljow gegen Jahresende 1994 zum engagierten
50 Kritiker des Präsidenten werden. Zunächst hatten Anfang Dezember 1994
   Gegner des Tschetschenien-Präsidenten Dudajew unter Führung des
   Oppositionspolitikers Awturchanow (Präsident eines sogenannten
   Provisorischen Rats), insgeheim unterstützt von russischen Flugzeugen und
   Soldaten, vergeblich versucht, Präsident Dudajew (fr. sowjetischer
55 Luftwaffengeneral und als Mafia-Boß denunziert) zu stürzen, scheiterten
   aber an entschlossenem Widerstand der Anhänger Dudajews. Am 11. Dezember
   1994 begann nach einem Ultimatum der Angriff regulärer russischer Truppen
   auf die für die Ölwirtschaft wichtige (große Raffinerien)
   Kaukasus-Republik mit Panzern und Bombenflugzeugen. Selbst das russische
60 Fernsehen übertrug verheerende Bilder der Zerstörung von Wohnvierteln und
   Opfern unter der Zivilbevölkerung, doch kam der Angriff entgegen Prognosen
   des Militärs nur schleppend voran. Jelzins Entscheidung, im Interesse der
   Wahrung staatlicher Einheit "illegale Einheiten mit allen zur Verfügung
   stehenden Mitteln zu entwaffnen" stieß in Moskau zunehmend auf Kritik und
65 Ablehnung und provozierte unerwartet heftigen Widerstand mit hohem
   Blutzoll an Kämpfern auf beiden Seiten.
   
   Kowaljow begab sich mit weiteren Duma-Abgeordneten einige Wochen nach
   Grosny, "sammelte Zeugenaussagen und Material über
   Menschenrechtsverletzungen, zählte die Toten, zeichnete die Leiden der
70 Lebenden und inspizierte Bombenkrater und Einschußlöcher" (ZEIT; 13.01.
   1995). Er wies Behauptungen, die Tschetschenen würden Bombenangriffe und
   Brandstiftungen selbst inszenieren, um die russischen Truppen in Verruf zu
   bringen, als abscheuliche Lüge zurück. Ungeachtet persönlicher Gefährdung
   blieb Kowaljow auch nach Abreise seiner Begleiter zunächst im Kampfgebiet
75 und brandmarkte nach Rückkehr in Moskau öffentlich und im Gespräch mit
   Präsident Jelzin das barbarische Vorgehen des Militärs und sinnloses
   Blutvergießen und planlose Zerstörungen.
   
   Die Zeitung "Iswestija" wählte Kowaljow zum "Mann des Jahres 1994" und DIE
   ZEIT schlug den "Sacharow von Grosny" für den Friedensnobelpreis 1995 vor.
   
80 Kowaljow ist mit der Rechtsanwältin Ludmilla Jurjewna Boitsowa verheiratet.
   Das Paar hat einen Sohn Iwan und die Töchter Marija und Warwara.
   
   Quelle: Munzinger-Archiv / Intern. Biograph. Archiv 5/95
   NÜPRNBERG-ONLINE; http://www.nuernberg.de/obm/obmhome.htm obm@nuernberg.de

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