SCHULWETTBEWERB ALTE SPRACHEN LATEIN
Thema: Die Begrenztheit der Lebenszeit - ihr rechter
Gebrauch
[Preisschrift Frühjahr 1996]
1. Übersetzung der Texte
1.1 Horaz - Carmina II, 3
Denk daran, im Unglück
Gleichmut zu bewahren, und nicht anders im Glück
dich übermäßiger Freude zu enthalten,
denn du wirst sterben, Dellius,
ob du nun die ganze Zeit traurig gelebt hast,
oder ob du, immer an Festtagen, fernab im Gras
ausgestreckt, dich gütlich getan hast
an einer erstklassigen Sorte von Falernerwein.
Wozu vereinigen die gewaltige Pinie und die weiße Pappel
zu einladendem Schatten gerne
ihre Zweige? Weshalb müht sich in gewundenem Bach
das rasch fließende Wasser, dahinzueilen?
Hierhin laß Wein und Salböl und die ach! zu schnell welkenden
Blüten der lieblichen Rose bringen,
solange deine Lage und dein Alter und der drei Schwestern
dunkle Fäden es zulassen.
Du wirst scheiden von deinen Landgütern, die du zusammengekauft, und
deinem Haus,
und deiner Villa, die der goldgelbe Tiber umspült hat,
du wirst scheiden, und deiner in die Höhe
aufgehäuften Reichtümer wird sich dein Erbe bemächtigen;
es macht keinen Unterschied, ob du reich, ein Akömmling des alten
Inachus,
oder arm und von niedrigster
Herkunft unter dem Himmel verweilst -
du bist ein Opfer des erbarmungslosen Orkus:
wir werden alle zu demselben getrieben, aller
Schicksal wird in der Urne geschüttelt, um früher oder
später
herauskommen und uns zu ewiger
Verbannung zu setzen in den Nachen.
1.2 Seneca - Epistulae morales ad Lucilium XVI, 1 ff
Ich weiß, Lucilius, dir ist klar, daß niemand glücklich leben kann - nicht einmal erträglich! - ohne das Streben nach Weisheit, und daß ein glückliches Leben durch vollkommene Weisheit erreicht wird, ein erträgliches auch, wenn man begonnen hat, sich um die Weisheit zu bemühen. Aber das, was klar ist, muß gefestigt und tiefer durch tägliches Nachdenken eingeprägt werden: Mehr Mühe bereitet es, die Vorsätze zu befolgen, als sich das tugendhafte Handeln vorzunehmen. Man muß dabei bleiben und in fleißigem Bemühen Kraft hinzugewinnen, solange, bis guter Charakter ist, was [jetzt] guter Wille ist. [...] Ich sehe, du hast viele Fortschritte gemacht. [...] Dennoch will ich sagen, was ich empfinde: Ich habe, was dich betrifft, schon Hoffnung, noch nicht Vertrauen. Ich möchte, daß du es ebenso machst: Es besteht kein Grund, daß du dir schnell und leicht vertraust. Prüfe dich, erforsche dich auf verschiedene Art und Weise und beobachte dich; darauf vor allem achte, ob du in der Philosophie oder in dem Leben selbst Fortschritte machst. Die Philosophie ist weder eine Beschäftigung für Jedermann, noch ist sie geeignet zur Prahlerei; sie besteht nicht in Worten, sondern in Taten. Und sie wird nicht deswegen betrieben, um mit irgendeiner Zerstreuung den Tag zu verbringen, um der Freizeit die Langeweile zu nehmen: sie formt und bildet den Charakter, sie ordnet das Leben, sie richtet das Handeln aus, sie zeigt das, was man tun und was man meiden soll, sie steht am Steuer und lenkt den Kurs durch die schwankenden Wogen. Ohne sie kann niemand furchtlos leben, niemand sicher; unzähliges geschieht in jeder Stunde, welches einen Rat erfordert, der von ihr erbeten werden muß. [...] Ich ermahne dich nachdrücklich, nicht zuzulassen, daß deine Motivation schwächer wird und erkaltet. Erhalte und festige sie, damit Gewohnheit des Geistes wird, was [jetzt] Neigung ist.
1.3 Seneca - Epistulae morales ad Lucilium XXXII, 2 ff
[...] Ich habe zwar Zuversicht, daß du nicht abgelenkt werden kannst und daß du bei deinem Vorsatz bleiben wirst, auch, wenn eine Menge von störenden Leuten dich umgeben mag. Worum geht es mir also ? Ich fürchte nicht, daß sie dich ändern, ich fürchte, daß sie dich behindern. Viel aber schadet auch, wer aufhält, zumal bei einem so kurzen Leben, das wir durch unseren Wankelmut [noch] kürzer machen, indem wir immer wieder diesen und jenen Beginn [des Lebens] machen; wir teilen es in Stücke und zerreißen es. Eile also, bester Lucilius, und bedenke, um wieviel schneller du wärest, wenn der Feind dir im Nacken säße, wenn du vermutetest, daß der Reiter herannaht und den Flüchtenden auf der Spur ist. Dies geschieht: du wirst verfolgt: eile und fliehe, bring dich in Sicherheit und bedenke immer wieder, welch eine schöne Sache es ist, das Leben vor dem Tode zu vollenden, danach den übrigen Teil seiner Zeit gelassen zu erwarten, [...] im Besitz eines glücklichen Lebens, welches nicht glücklicher wird, wenn es länger dauert. Oh, wann wirst du jene Zeit erleben, in der du wissen wirst, daß Zeit dich nichts angeht, in der du ruhig und heiter sein wirst und um den morgigen Tag nicht besorgt und in volkommenen Genügen an dir selbst ! [...] Ich wünsche dir Kraft über dich selbst, damit dein durch unstete Gedanken aufgewühlter Geist endlich widerstehen kann und gefestigt ist, damit er sich gefällt und damit er, nachdem er die wahren Güter erkannt hat, die man, sobald man sie erkannt hat, besitzt, mehr Lebenszeit nicht wünscht. Jener erst hat die Zwänge überwunden und ist entlassen und frei, der lebt, nachdem er sein Leben vollendet hat.
2. Interpretation
a) Die beiden großen philosophischen Richtungen der hellenistischen Zeit, Stoa und Epikureismus, setzten sich auf unterschiedliche Weise mit dem Problem der Eudaimonia auseinander. Seneca als Vertreter der mitteren Stoa sieht die beatitudo in einem bestimmten Zustand der Seele, der Apatheia, der gekennzeichnet ist durch Gelassenheit (tranquillitas) und Unerschütterlichkeit: ein Zustand, "quo scies tempus ad te non pertinere, quo tranquillus placidusque eris et crastini neglegens et in summa tua satietate" (Ep. 32). Die Apatheia kann nur durch die sapientia erreicht werden; sapientia wiederum bedeutet Lebensbewältigung durch Philosophie, bedeutet tugendhaftes, vernunftbestimmtes Handeln ("honesta"; Ep. 16), da die Apatheia nur dann erlangt werden kann, wenn Affekte wie Haß oder Furcht eleminiert sind und das Leben nur noch durch die ratio bestimmt, die das eigentliche Wesen des Menschen ist. Die ratio aber ist Wissen um das Gute, also Tugend; daher ist das einzige Gut für den Stoiker die Tugend, das einzige Übel die eigene Schlechtigkeit, die durch die Affekte ausgelöst wird; alle übrigen Dinge, auch Schmerz oder sogar Tod, sind Adiaphora, gleichgültig. Daher ist die virtus auch unabhängig von der voluptas. Der Genuß kann zwar ein "Nebenprodukt" des sittlichguten Lebens und Handelns sein und als solches akzeptiert werden, ist aber nicht als Ziel erstrebenswert. Der Stoiker freut sich über ihn, vermißt ihn als zu den Adiaphora gehörig aber nicht und ist daher unabhängig. Die beatitudo besteht also im tugendhaften Handeln.. Erst nach einem langen Entwicklungsprozeß, der die Beschäftigung mit der Philosophie und vor allem die konsequente Verwirklichung ihrer Maximen im täglichen Leben beinhaltet ("non in verbis, sed in rebus est"; Ep. 16), ist ein glückliches Leben überhaupt möglich. Der Tugendethik der Stoa steht die Lustethik Epikurs gegenüber: Es besteht keine Trennung zwischen virtus und voluptas, sondern das eine bedingt das andere: die Tugenden sind nur insofern erstrebenswert, als sie zur Lust führen. Die Stoa ordnet also die Tugend dem Genuß über (so sie diesen nicht sogar ablehnt), während die Epikureer in virtus und ratio nur Diener der - für sie die beatitudo ausmachenden - voluptas sehen. Für den Epikureer Horaz bedeutet Glück daher ganz konkret den sinnlichen Genuß des Schönen, in lustvollem Erleben. Nicht durch Vergeistigung und sittliche Vervollkommung, sondern durch körperliche Lust (wie sie etwa im Genuß von Wein besteht) oder auch durch geistigen Genuß im Sinne von ästhetischer Befriedigung (z.B. Betrachten eines Kunstwerkes) kann dem Menschen die Glückseligkeit zuteil werden; also nicht ein Leben in dekadentem Luxus, sondern den bescheidenen Genuß einfacher Freuden meint Horaz. Auch macht Horaz bereits am Anfang des Gedichtes deutlich, daß es sich bei dem angestrebten Genuß keinesfalls um ungezügelte Wollust handelt, sondern vielmehr um maßvolle Freude ("ab insolenti temperatam laetitia"). Damit kann der erwünschte mentale Endzustand ("aequam mentem"), das epikureische Ideal der Ataraxia, durchaus mit dem Apatheia-Ideal der Stoa verglichen werden, und zwar insofern, als beide philosophischen Richtungen letztendlich nicht temporäres Glück (voluptas movens), sondern das dauerhafte Glück der Ruhe (voluptas stans) erstreben. Ob dieses Glück aber überhaupt existiert, werde ich später noch erörtern. Unterschiedlich sind die Leidvermeidungsstrategien der Philosophien: Der Epikureer erstrebt die Lustmaximierung und Schmerzvermeidung, der Stoiker versucht, die Übel zu dedramatiseren und zu funktionalisieren: "Nicht die Dinge selbst sind schlecht, sondern unsere Meinung von den Dingen" (Epiktet). Der Stoiker soll das Glück in sich selbst suchen ("in summa tua satietate"). Dies impliziert eine weitgehende Verlagerung des Glücks auf die rein geistige Ebene. Der Grund für diese Abkehr von den äußeren Freuden ist das Autarkiebestreben des Stoikers; er intendiert eine Vermeidung des Schmerzes durch Unabhängigkeit von eben den Dingen, die Schmerz erzeugen können. Macht man sein Glück abhängig von Dingen, auf die man keinen direkten Einfluß nehmen kann (Reichtum, Körper) besteht sehr leicht die Gefahr, daß man, da man ja oftmals das Erlangen des Erstrebten nur in geringem Maße beeinflussen kann, scheitert und unglücklich wird. Verliert man durch ein Unglück alle materiellen Güter, so wird man sehr unglücklich sein, wenn man sein Glück von ihnen abhängig gemacht hat. Darum lehnte die rigoristische alte Stoa die Triebbefriedigung sogar radikal ab, sofern sie über die Befriedigung der elementarsten "natürlichen" Bedürfnisse hinausgeht, und verlegte sich auf andere, vom Individuum selbst ausgehende Freuden, um dem Schmerz aus dem Wege zu gehen. Die alte Stoa propagierte die Abtötung der Triebe und somit die Autarkeia von allen inneren (Krankheit, Schmerz) und äußeren Faktoren (Leid, das dem Menschen von der Außenwelt oder anderen Menschen zugefügt wird). Seneca vertritt jedoch die gemäßigtere mittlere Stoa, welche die Adiaphora in vorzuziehende Güter (wie etwa Leben, Gesundheit) und meidenswerte (wie Krankheit oder Tod) einteilt - Genüsse werden nicht generell als gleichgültig angesehen, aber sie werden auch nicht erstrebt; Seneca freut sich, wenn sie ihm zufällig zuteil werden, ist aber insofern von ihnen unabhängig, als er ihren Verlust nicht bedauert. Strenggenommen darf ein Stoiker sich aber nicht zu sehr über etwas freuen, das er nicht beeinflussen kann, denn durch die Freude wird er ja abhängig. Glück besteht also nicht in der Befriedigung von Bedürfnissen, es ist unabhängig davon, ob es einen äußeren Grund zur Freude gibt oder nicht. Auch im Kerker kann ein Stoiker glücklich sein, denn er findet Glück in seinem Inneren, schöpft Kraft und Trost aus der stoischen Gelassenheit, die er mittels der Philosophie erlangt hat. Schicksalsschläge und die äußeren Umstände, unter denen er lebt, berühren ihn nicht. .Der Epikureer versucht sich nicht gegen das Leid zu schützen, indem er gegen Freude und Leid gleichermaßen gleichgültig wird, sondern indem er Leid zu vermeiden sucht. Er gewinnt seine Zufriedenheit daraus, daß er das Unglück, was er erleiden muß, durch möglichst viel Glück kompensiert und es so besser ertragen kann. Daher bejaht er das Leben als Ganzes. Im Reichtum - da sind sich Stoa und Epikureismus einig - liegt das Glück nicht; er ist vergänglich ("cedes coemptis saltibus...") und hält nur von den wahren Freuden (bzw. bei der Stoa: von den wahren Werten, sprich: der virtus) ab. Beiden philosophischen Richtungen ist, so wird deutlich, das Maßhalten, die "aurea mediocritas" wichtig.
b) Der Stoiker verbringt sein Leben in ständigem Bestreben nach Weiterentwicklung (profectio) durch die Beschäftigung mit der Philosophie, da er nur so zu der Geisteshaltung gelangt, die ihm ein glückliches Leben ermöglicht; nach Horaz wiederum soll man die beschränkte Zeit nutzen, um sich der Muße zu widmen, wenn es möglich ist. Die Beschäftigung mit geistigem Bildungsgut im allgemeinen und mit der Philosophie im besonderen ist für einen Stoiker aufgrund seines Willens zur Vervollkommnung also überaus wichtig; das Philosophieren soll aber nicht primär theoretische Erkenntnissuche sein, sondern dem konkreten Ziel der Lebensbewältigung dienen - Trost und Sicherheit bei allen Schicksalsschlägen verspricht die Philosophie und bietet zugleich Entscheidungshilfen ("animan format et fabricat, vitam disponit, actiones regit, agenda et omittenda demonstrat..."; Ep. 16). In Bemühung um die Verwirklichung der philosophischen Grundsätze wird der Stoiker sich einer ständigen Selbstprüfung unterziehen; Selbstdisziplinierung und Prinzipientreue werden sein Leben bestimmen. Gemäß dem Tugend- und Pflichtideal der Stoa wird ein Anhänger dieser Philosophie sich jedoch nicht nur um seine persönliche Selbsterziehung kümmern, sondern sich vielmehr für die Allgemeinheit engagieren (vita activa), wie es auch Seneca selbst getan hat. Weisheit besteht in tugendhaftem Leben, in dem Bestreben, das Sittlichgute um seiner selbst willen zu tun. Darauf richtet auch der Stoiker sein Leben aus, daher betont Seneca den praktischen Charakter der Philosophie auch so sehr - Weisheit ist für ihn nicht abstrakte Erkenntnis, sondern - sokratischer Vorstellung folgend - Wissen um das Gute. Ein Stoiker handelt um der Tugend willen deswegen auch gegen seine eigenen Interessen; die Epikureer lehnen dagegen jede politische Betätigung und jedes gesellschaftliche Engagement ab und bevorzugen stattdessen ein Leben in der Abgeschiedenheit ("Philosophie des Gartens"; vita contemplativa). Allein für seine Freunde würde ein Epikureer Unannehmlichkeiten auf sich nehmen.
Beide - Seneca ebenso wie Horaz - propagieren eine optimale Nutzung der Lebenszeit (carpe diem, nur auf unterschiedliche Weise) und mahnen zur Eile: Seneca, weil er der Ansicht ist, wahres Glück könne erst dem Weisen zuteil werden, man könne erst leben, wenn man den Zustand der Vollkommenheit erreicht habe; Horaz, weil das Damoklesschwert des ständig drohenden Todes über den Menschen schwebt: man soll das Leben genießen, denn "serius ocius" müssen wir sterben. Durch die gesamte Horazode zieht sich das Todesmotiv - die Gewißheit des nahen Todes ist die Stimulanz des Lebenshungers, der sich in der vorliegenden Horazode manifestiert. Ständiger Müßiggang ist jedoch kein erstrebenswerter Zustand - dies wird schon an der Einschränkung "per dies festos" (Strophe 2) deutlich; der Genuß darf auf keinen Fall selbstverständlich werden, denn: die Gewohnheit ist des Glückes Feind. Dies ist auch der Hintergrund der epikureischen Lustberechnung, eine "Glücksstrategie", die auf eine optimale Lustmaximierung abzielt und auch bisweilen Entbehrungen in Kauf nimmt, damit der nachfolgende Genuß um so größer sei. Mithin bewältigt der Epikureer das Übel (z.B. den Tod) durch Verdrängen und Kompensation, indem er die schönen Stunden des Lebens genießt, ohne an das Ende zu denken; der Stoiker hingegen verbringt sein Leben in täglicher meditatio (Ep. 16) über die Übel, um sie durch geistige Vorwegnahme mittels der ratio zu entrealisieren, wie dies Seneca z. B. in seinem vierten Brief fordert: "Hoc cotidie meditare, ut possis aequo animo vitam relinquere...". Dies betont Seneca auch im 24. Brief: "quidquid vereris ne eveniat, eventurum utique propone, et quodcumque est illud malum, tecum ipse metire ac timorem tua taxa". Der Stoiker muß also eine gewisse "Umwertung" vornehmen, indem er die Übel nicht mehr als solche betrachten darf - für diesen schwierigen Prozeß nutzt er seine Zeit. Um sich optimal der Philosophie widmen zu können, muß man jedoch mitunter andere Menschen, die einen davon abhalten könnten, meiden (Ep. 32). Eine gewisse Tendenz zur Abkehr von der Welt, zur Vereinsamung, gehört also auch zum geforderten "Rückzug auf sich selbst" und steht mitunter in Widerspruch zum Ideal des für seine Mitmenschen aktiv tätigen "Erziehers der Menschheit". Der Stoiker nutzt die Zeit, um ständig an sich zu arbeiten. Hat er schließlich und endlich das Ziel der Vervollkommnung erreicht, so wird ihm die Zeit gleichgültig sein. Auch der Epikureer nutzt die Zeit - allerdings dazu, möglichst viel Freude zu erleben, da er ja das Glück nicht in sich selbst, sondern in der Außenwelt sucht.
c) Der profectus ist der in Brief 16 angedeutete Weg von der "bona voluntas", den guten Vorsätzen, zu der "bona mens", die eine Verinnerlichung der philosophischen Grundsätze bedeutet. Bereits Sokrates, an den die stoische Lehre anknüpft, nahm an, wer um das Gute wisse, i. e. wer den Begriff des Guten verinnerlicht habe, der handle auch gut.Dies entspricht -psychologisch gesprochen - der Etablierung eines Über-Ichs als Instanz des Gewissens. Der Fortschritt besteht in der weiteren Ausbildung der virtus, im konsequenten Praktizieren der stoischen Philosophie im täglichen Leben. Ausgehend von dem sokratischen Gedanken, das wichtigste im Leben sei, sich um seine Seele zu kümmern, damit sie möglichst gut werde, fordert die Stoa von ihren Schülern ein Leben in ständiger Selbstprüfung und Weiterentwicklung. Die richtigen Güter zu erkennnen, die Furcht durch die ratio zu überwinden und zu einer mit der rechten Geisteshaltung verbundenen tugendhaften Lebensführung zu gelangen, ist das Ziel des profectus, des Voranschreitens auf dem Wege zur virtus. Die Vervollkommnung des eigenen Charakters ist auch als eine Art Sublimierung der Triebe anzusehen: die Freuden und Genüsse des Lebens, die nicht vom Menschen beeinflußt werden können, werden durch die Beschäftigung mit der Philosophie ersetzt.
d) Erst mit der Erlangung der Weisheit kann man ein wahrhaft glückliches Leben führen, in dem man "ruhig und heiter" sein wird und den Tod nicht mehr fürchtet - nur dann, wenn man die Todesfurcht überwunden hat, ist man frei und kann leben. Dies ist auch der Sinn des letzten Satzes von Ep. 32. Da Glück durch Selbstvervollkommnung erlangt werden soll - nur die virtus, die mit Hilfe der Philosophie erreicht wird, zählt - ist auch nicht die quantitas des Lebens wichtig, sondern allein die qualitas - Glück besteht also nicht in einem langen, sondern in einem gut geführten Leben. Der Ausdruck "vivere vita peracta" beschreibt also das zu erstrebende "Endstadium" des stoischen Weisen, indem er die Verwirklichung des Ideals des virtus- und ratiogeprägten Stoikers meint - das Leben hat man vollendet, wenn man sich selbst zur Vollkommenheit gebracht hat und dann in stoischer Gelassenheit leben kann. Gleichzeitig nimmt das Verb peragere Bezug auf die Überwindung der Todesfurcht als Aspekt dieses Zustandes der sapientia: Da der Weise alle Dinge außer der virtus und der Schlechtigkeit als adiaphora betrachtet, verachtet er auch den Tod, was ihn - im Idealfalle - in die Möglichkeit versetzt, ohne Furcht leben zu können, denn er hat nun die wahren Güter erkannt (Ep. 32). Wenn der Stoiker die virtus erreicht hat, so ist es gleichgültig, ob er weiter lebt oder nicht - er hat ja das Ziel seines Lebens erreicht. Andererseits erlaubt ihm erst dieser Zustand, in Glück zu leben, denn nun ist ihm das Leben gleichgültig. Dies erscheint auf den ersten Blick paradox, denn warum lebt Seneca, obgleich ihm das Leben gleichgültig ist ? Seneca bedauert es nicht, sterben zu müssen, zieht es aber dennoch vor, zu leben (denn wenn er tot ist, kann er die virtus nicht mehr praktizieren), nicht vom Leben abhängig, aber es als ein vom Schicksal geschenktes Gut annehmend: Der Weise lebt "praesentibus laetus, futuri securus." (De vita beata, XXVI, 4). Daher kann er sich über jeden neuen Tag freuen und kümmert sich dennoch nicht um das Morgen ("crastini neglegens"; Ep. 32).
3. Stellungnahme
Der Begriff der Eudaimonia läßt sich nur schwer fassen, da "Glück" etwas überaus Subjektives ist und seine jeweilige Definition von verschiedenen - gesellschaftlichen wie individuellen - Maßstäben bestimmt wird. Welches ist also die "richtige" Lebensweise ? Ein Ansatz zur Erörterung dieses Problems muß es sein, von den natürlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen des Menschen ausgehend die praktische Durchführbarkeit der von Seneca und Horaz propagierten Lebensweisen zu analysieren. Das Ziel ist ja, daß der Mensch glücklich werde. Also muß die jeweilige Lebensstrategie seinen Voraussetzungen angemessen sein.
Seneca findet seine beatitudo in dem Trost und Halt, die ihm die Philosophie bei der Bewältigung seines Lebens gibt. Man kann, so Seneca, am besten mit dem Leben fertigwerden, wenn man darüber reflektiert, wenn man auf Schicksalsschläge nicht unmittelbar und emotional motiviert regiert, sondern sie gleichsam durch einen "Filter der Philosophie" betrachtet: das Übel soll durch verschiedene Strategien entrealisiert und dedramatisiert werden, indem man generell alle Dinge außer der virtus als Adiaphora, als gleichgültig betrachtet und z. B. durch allerlei Argumente zu beweisen versucht, daß Tod und Schmerz sogar Positiva sein können - der Tod (der platonischem Sichtweise entsprechend) als Befreiung der Seele vom lästigen Körper, der Schmerz als "Übung" der virtus ("Ohne Unglück erschlafft die virtus"). Es hat sich aber gezeigt, daß die Reflexion über die Übel und damit ihre intendiere Überwindung zwar oft zu einer Linderung und Abschwächung des empfundenen Unglücks führt - wenn man sich beispielsweise bewußt macht, daß eine Krankheit bald vorübergehen wird - eine vollständige Gleichgültigkeit gegenüber dem Übel kann jedoch nicht erreicht werden. Wenn ein Mensch heftige Schmerzen empfindet, so kann er zwar versuchen, sie als "Übung" für die virtus zu betrachten, er spürt die Schmerzen aber trotzdem noch. Zudem ist der Grad der "stoischen Gelassenheit", die ein Mensch im besten Falle erreichen kann, meiner Meinung nach auch von der psychischen Konstitution des jeweiligen Individuums abhängig - jemandem, der sehr emotional veranlagt ist, zur Hysterie oder zur Hektik neigt, ist dies wohl schwerlich möglich.. Nur manche Menschen können sich daher weitgehend unabhängig von den äußeren Umständen, unter denen sie leben, machen. Es gibt kein "Patentrezept", welches allen Menschen gleichermaßen zu dauerhaftem Glück verhelfen könnte. Was ein Mensch als Glück ansieht, hängt von seiner Erziehung, seinen intellektuellen Fähigkeiten und seinem Charakter ab. Manche Menschen vermögen es, ihr Glück nur in der Erkenntnis (z.B. Wissenschaftler) oder im Dasein für andere (bestes Beispiel: Mutter Theresa) zu finden - aber dies sind leider seltene Ausnahmen! Die Mehrzahl ist eher für das einfache, schlichte Glück der Epikureer geschaffen. Wie Aristoteles in der "Nikomachischen Ethik" feststellt, ist Glück auch immer etwas Situationsbezogenes: "wenn er krank ist, meint er [mit dem Glück] die Gesundheit, wenn er arm ist, den Reichtum". Somit stellt sich die Frage, ob ein permanenter Zustand der Zufriedenheit, ein "Ruhen in sich selbst" überhaupt ständig als Glück empfunden wird. Die Gelassenheit kann meiner Ansicht nach nur als allgemeine Geisteshaltung zu starke Unglücksempfindungen zum Teil verhindern, aber aktives, intensives Glücksempfinden vermag sie nicht zu geben, da der Mensch nur den Kontrast intensiv genießen kann; gewöhnt er sich an einen Zustand, so empfindet er diesen nicht mehr als Glück, sondern strebt nach einer weiteren Verbesserung. Freud stellt in seiner Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" fest: "Dies Streben [nach Glück]...will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, andererseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird "Glück" nur auf das letztere bezogen.". Und weiter: "Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist...nur als episodisches Phänomen möglich." Ein Beispiel: Bei schwerer Krankheit wünscht der Mensch sich nur eines, nämlich Gesundheit; ist er aber dann gesund, so wird ihm dies bald wieder unwichtig und er wird empfänglich für anderes Unglück, was er vorher aufgrund der Krankheit nicht wahrgenommen hatte. Glück hängt in diesem Sinne auch von Gewohnheit ab: Ein Kind aus Afrika, das von klein auf an die Armut gewöhnt war, kann - sofern es nicht permanent hungert - auch in sehr bescheidenen Verhältnissen genau die gleichen Glücksgefühle haben wie ein Jugendlicher aus den westlichen Industrieländern, der - an die Sicherung seiner Grundbedürfnisse gewöhnt - schon unglücklich ist, wenn er z. B. zum Geburtstag keine Markenjeans bekommt. Gibt es allgemein verbindliche "Voraussetzungen" für das Glücklichsein, wie dies Aristoteles animmt? Man kann sich bei der Untersuchung dieser Frage nur auf die Beobachtung der natürlichen Empfindungen des Menschen stützen. Unter ständigem Schmerz kann wohl niemand glücklich sein; ebenso wird es wohl den meisten Menschen schwer fallen, im Zustand eines von der Gesellschaft Ausgestoßenen zu leben. Ferner ist es unbedingte Voraussetzung für eine gewisse Zufriedenheit, daß ein Mensch sich selbst akzeptieren kann. Auch solche Äußerlichkeiten wie Schönheit spielen - gerade in unserer heutigen Zeit - dabei eine Rolle: Jemand, der sehr häßlich ist, wird im Umgang mit anderen Menschen sich wahrscheinlich unwohl fühlen. Kann dies alles mit Hilfe der stoischen Philosophie überwunden werden ? Ich glaube kaum; aber sie kann zumindest ein Trost sein. Die vernünftige Überlegung vermag das jedoch Gefühl oft nicht abzuschwächen: Ein Mensch kann zwar viel Argumente dafür finden, daß der Tod kein Übel sei, aber er wird ihn dennoch fürchten. Nach der stoischen Lehre sind alle Dinge außer der Tugend und den Affekten Adiaphora - es gibt also gar keine Übel ! Dies widerspricht aber dem natürlichen Empfinden des Menschen, der zum Beispiel Schmerz sehr wohl als Übel ansieht. Ist nicht aber die Verarbeitung von Schicksalsschlägen dadurch, daß man schlichtweg ihre Existenz leugnet und so faktisch einen Selbstbetrug begeht, ein Zeichen von Schwäche und Realitätsflucht? Ist es nicht vielmehr besser, die Übel als Teil des Lebens zu akzeptieren und trotzdem - oder gerade deswegen - glücklich zu leben? Es stellt sich natürlich auch hier die Frage nach der Verwirklichbarkeit der stoischen Ethik; denn man kann höchstens versuchen, die Gefühle zu kontrollieren und möglicherweise umzulenken, aber man kann sie keinesfalls vollständig unterdrücken. Ob Apatheia und Autarkeia in der Realität immer möglich sind, erscheint mehr als fraglich - sind doch die Gefühle, welche die Stoa stark abzuschwächen sucht, ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens und ein wichtiger Antrieb zum Handeln; positive Emotionen wie die Liebe machen das Leben erst lebenswert! Seneca aber dürfte keinen Menschen sehr lieben, da er sich ja ansonsten wieder den Affekten unterordneten müßte. In letzter Konsequenz führt die Apatheia also zu einer unmenschlichen Gefühlskälte; sie ist daher nicht nur ein für den Menschen unerreichbares Ziel, sie ist auch ein Ziel, was man nicht unbedingt wünschen sollte.
Innerhalb der stoischen Ethik ist auch der perfektionistische Anspruch des profectus problematisch: Der berühmte, nie erreichte "stoische Weise" soll, wie Seneca in "De vita beata" ausführt, den Tod und die irdischen Güter verachten, Strapazen ertragen und für andere Menschen da sein. Er soll tapfer, duldsam, furchtlos und besonnen sein. Viel verlangt Seneca da ! Wenn nun ausschließlich und fanatisch das Ziel der Vervollkommnung verfolgt wird, wenn man also sein ganzes Leben damit verbringt, einen Idealzustand erreichen zu wollen, in dem allein man glaubt, glücklich sein zu können, so wird man nie glücklich werden. Mithin führen die hohen Ansprüche, die der reconvaleszente, "auf dem Wege zur Weisheit befindliche" an sich stellt, das Ideal des stoischen Weisen, zu einer ständigen Unzufriedenheit mit sich selbst. Der übersteigerte Selbstanspruch, der mit dem profectus verbunden ist, führt zu ständigen Selbstzweifeln und Vorwürfen, führt dazu, daß das Ich zu stark unter einem übermächtigen Über-Ich leidet ("Ich setze Hoffnung in dich, noch nicht Vertrauen. Ich will, daß du auch dasselbe tust..."). Die stoische Philosophie darf keinesfalls zu einem Zwang werden, der eher schadet als nützt - sie sollte Trost im Unglück sein; aber die Beschäftigung mit der Philosophie darf nicht dazu führen, daß man das Leben vergißt. Der Stoiker verbringt sein Leben damit, sich gegen das Leben zu wappnen - der Epikureer lebt und genießt den Augenblick, ohne ihn durch das Nachdenken über das Unglück zu zerstören ! In ständiger Selbstkontrolle und mitunter -kasteiung kann es einem Anhänger der stoischen Philosophie passieren, daß er die wirklich schönen Momente, die das Leben neben all dem Unglück und Schmerz auch zu bieten hat, schlichtweg verpaßt.
Das von Seneca propagierte Ziel der philosophischen Bildung ist aber sehr erstrebenswert. Die Philosophie hinterfragt das Denken und Handeln, eröffnet neue Horizonte und bietet Orientierungshilfen. Die stoische Lehre ist insofern als positiv zu betrachten, als sie wichtige Lebensstrategien enthält, daß sie zu vernünftigem Überlegen in diffizilen Situationen anhält und bei der Organisation des Lebens wichtige Hilfen gibt. Eine gewisse optimistische Grundhaltung wird ebenfalls durch die stoische Philosophie ermöglicht, da man, folgt man ihr, den meisten Dingen eine positive Seite abgewinnen kann. Ein wünschenswertes Ziel ist natürlich auch die von der mittleren Stoa (im Gegensatz zum altstoischen Rigorismus) postulierte Affektbeherrschung, besonders im Hinblick auf negative Affekte wie Haß, Neid, Habgier oder Aggression. Ferner liegt ein vernunftgemäßes Leben, wie es von der Stoa propagiert wird, im Interesse jedes Menschen; denn es ist keinesfalls gut, sich von seinen Gefühlen beherrschen zu lassen, ebensowenig, wie es erstrebenswert wäre, sie völlig zu unterdrücken . Inwieweit ein Mensch überhaupt vernunftbestimmt handeln kann, ist wiederum individuell verschieden. Die Vernunft ist meiner Meinung nicht ganz unabhängig vom "Wollen" und "Meiden", also von Lust- und Unlustempfindungen, sondern sie wirkt als koordinierendes Moment zwischen Individuum und Außenwelt (Realitätsprinzip), indem sie es vermag, Triebe und Wünsche mit den realen Gegebenheiten in Einklang zu bringen. Handlungen, die vernunftbestimmt sind und entgegen momentanen Empfindungen ausgeführt werden, vollführt man entweder um eines späteren Lustgewinns wegen oder zur Befriedigung des Über-Ichs, also aus "Pflichtbewußtsein" heraus. Aber kann die Erfüllung der Pflicht, die Tugend allein, wahres Glück bedeuten ? Wenn man sie als lustvoll empfindet, ja - aber dies gelingt nur wenigen Menschen.
Die Tugend kann, wie wir aus diesen Überlegungen folgern können, nicht das einzige Prinzip einer Ethik sein, da sie allein meist nicht zum Glück führt. Im Unterschied zu Seneca sind für Horaz Freuden, die auf ästhetischem Genuß oder Erleben beruhen, erstrebenswert; man soll den sinnlichen Genuß aktiv aufsuchen, die Gelegenheit nutzen, um in der gelegentlichen Erholung einen Ausgleich für die Unbillen des Alltags zu finden. Diese "äußeren Freuden" sind meines Erachtens für das Glück unerläßlich - denn sie kommen dem, was ein Mensch gleichsam "spontan" als "lustbringend" bezeichenn würde, näher, als das durch einen langen Lernprozeß erworbene Glück durch Tugend. Die lebensbejahende Einstellung der Epikureer kommt daher meines Erachtens der natürlichen Disposition des Menschen entgegen.
Ist die epikureische Lebensweise nun als die richtige anzusehen ?
Zum einen bietet die epikureische Philosophie keine Dedramatisierungsstrategien für den Fall, daß einem ein Unglück wiederfährt; sie bewältigt die Übel eher mit einer Verdrängungstaktik; Dedramatisierung ist aber, sofern sie nicht - wie oben beschrieben - zum Selbstbetrug führt, durchaus hilfreich. Die hedonistische Lebensweise bedeutet eine gewisse Stagnation des Menschen, da das Postulat der persönlichen Weiterentwicklung aufgegeben wird; das Bemühen um eine Kultivierung der positiven Charaktereigenschaften und Zurückdrängung der negativen ist aber als sehr positiv anzusehen, sofern nicht das Streben nach Vollkommenheit als absoluter Zwang gesetzt wird und damit die oben geschilderten negativen Folgen hat. Man soll aktiv leben und nicht in Flachheit und Passivität verfallen; die für unsere heutige Zeit so charakteristische Konsumentenhaltung (Fernsehen, Radio, Disco), die durchaus im Sinne einer hedonistischen Lebensweise wäre, führt zum Verkümmern von Kreativität und Phantasie. Manche Menschen fliehen so vor ihrer eigenen tristen Existenz, indem sie sich durch Fernsehserien und Spielfilme das (fiktive) Leben anderer (fiktiver) Leute so zu eigen machen, daß das Schicksal der Serienhelden ihnen viel wichtiger wird als ihr eigenes - anstatt aus ihrem eigenen Leben etwas zu machen ! Produktive Tätigkeit aber ist besser als Flucht in oberflächliche Vergnügungen, carpe diem! - denn: Die momentane Situation, so aussichtslos sie erscheinen mag, kann nur durch aktives Handeln im positiven Sinne verändert werden. Der Lustethik fehlt aber auch das Postulat des altruistischen Verhaltens, da ein Epikureer zwar seinen Freunden hilft, aber im allgemeinen das Leben in der Abgeschiedenheit vorzieht (vita contemplativa) und sich nicht für die Gesellschaft engagiert. Ein heutiger Horazanhänger würde sich die Nachrichten nicht anschauen; er wird sich mit schönen Dingen umgeben, an denen er sich täglich erfreuen kann, sich vergnügen und das Leben genießen. Er würde sich nicht mit so lästigen Dinge wie Politik beschäftigen und wäre auch nicht dazu bereit, in irgendeiner Weise soziale Verantwortung zu übernehmen. Ohne Zweifel wäre es für eine Gesellschaft fatal, wenn jeder Bürger nach diesen Prinzipien leben würde. Ein Epikureer würde zum Beispiel in einer Diktatur keinen Widerstand leisten, sondern sich ins Privatleben zurückziehen. Würde er sich aber nicht dadurch, daß er der vita contemplativa frönt, während um ihn herum Not herrscht, schuldig machen? Wegsehen ist leicht; gut handeln auch auf die Gefahr hin, negative Folgen auf sich zu nehmen, erfordert dagegen Mut und Selbstüberwindung. Ist nicht das, was den Menschen, das "animal rationale", ausmacht, gerade die Möglichkeit, sich zwischen "gut" und "böse" entscheiden zu können, das eigentlich Menschliche? Im Gegensatz zu den Tieren fehlt bei ihm die Determiniertheit des Handelns, die eine solche Entscheidung unmöglich machen würde - der Mensch ist ein handelndes Subjekt, welches sich weitgehend selbst bestimmt; der Mensch ist ein zeitlebens werdender: "Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst." (Ernst Bloch). Dies beinhaltet sowohl die Möglichkeit zur Weiterentwicklung, zum Streben über das Animalische hinaus, als auch die Verpflichtung zum Handeln nach ethischen Grundsätzen. Man darf über der Lust nicht die Tugend vergessen; denn wenn der Mensch nur der Befriedigung seiner Triebe frönte, würde er zu einem vollkommmen egoistischen, bestialischen Wesen: zum "Raubtier Mensch". Beispiele dafür in der Realität gibt es leider genug. Eine Synthese zwischen Tugend- und Lustethik muß daher für das Handeln bestimmend sein: Die Lust soll als erstrebenswertes Gut neben der Tugend stehen, die Tugend, also das altruistische Verhalten, soll aber im Falle eines Zielkonfliktes den Vorrang haben. Bei der Verwirklichung des eigenen Glückes sollte es nach Möglichkeit vermieden werden, einen anderen Menschen in seinem Glück zu beeinträchtigen. Man hat als Mensch die Pflicht, das Leid anderer Menschen zu lindern, um des Guten willen zu helfen, wo es möglich ist. Dies heißt nicht Selbstaufgabe: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" - nicht, mehr als dich selbst! Die schönen Stunden des Lebens soll man daher, dem Vorbild des Horaz folgend, nicht ungenutzt vorübergehen lassen, und sie mit dem verbringen, was man persönlich für lustbringend hält. Der Mensch soll zwar so weit wie möglich zur Tugend, zu altruistischem, sozialen Verhalten (das gerade in unserer Zeit so wichtig ist!) erzogen werden, er soll mit ihrer Hilfe Regungen wie Faulheit oder Egoismus überwinden lernen; die Philosophie darf jedoch nichts Unmenschliches verlangen, sie darf sich nicht gegen die natürliche Disposition des Menschen richten. Die Philosophie soll für den Menschen gemacht sein, nicht der Mensch für die Philosophie.
Marion Näser