Textsorte: Lyrik

   Literatur-Tee am 7. Oktober 1995:
   Herbstgedichte
(Gemeinde der Thomaskirche, Oberer Richtsberg, Marburg) 1. Septembermorgen von Eduard MÖRIKE (1804-1875) Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt in warmem Golde fließen. 2. September Im Hintergrund von Rose AUSLÄNDER (1901-1988) singt der graue Rhein: Es geht Diese letzte Klausur zu Ende des Sommers ehe das Laub Spatzen wehren sich gelb wird und fällt gegen den Wind der schon wild ist Dies Farbenspiel vor dem Ade Wir wehren uns grüne Schwingungen gegen das Gelb Blumenschaum blitzende Kiesel auf unsrer Haut vor dem Ade trinken den letzten Glanz der sinkenden Sonne 3. Herbsttag von Rainer Maria RILKE (1875-1926) Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gib ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. 4. Herbst von Fillippo de PISIS (1896-1956) Gelbe Blätter fallen vom Feigenbaum und aus meinem Herzen dringen unbestimmte Träume. Das Gold dieser Abende liegt zögernd auf vergoldeten Rahmen auf den schönen Farben der Bilder, verflüchtigt sich in seltsamen Rhythmen. Nach und nach wenn die Sonne stirbt bricht ein anderer Friede über diese Erde herein. Und mein Durst von gestern? Zarter Schatten ist ringsumher, ferner aber unendlicher vergehender Durst und Verlockung zu vertrauter Glut. Gelbe Blätter fallen vom Feigenbaum und in meinem Herzen wird Abend. 5. Herbstbild von Friedrich HEBBEL (1813-1863) Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als atmete man kaumn, und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, die schönsten Früchte ab von jedem Baum. O stört sie nicht, die Feier der Natur! Dies ist die Lese, die sie selber hält; denn heute löst sich von den Zweigen nur, was vor dem milden Strahl der Sonne fällt. 6. Herbst von Erich FRIED (* 1921) Ich hielt ihn für ein welkes Blatt (und ich nicht länger im Aufwind als ein gelber Falter Dann auf der Hand: in deiner Liebe großer Flut ein gelber Schmetterling und Ebbe) Er wird nicht länger dauern und flattert doch als ein Blatt und streichelt meine Hand das fallen muß auf der er sich bewegt in diesem großen Herbst und weiß es nicht 7. Herbstmanöver von Ingeborg BACHMANN (1926-1973) Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. Und der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht, wie den Vögeln, zustatten. Vorüber, am Abend, ziehen Fischkutter und Gondeln, und manchmal trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors, wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug. In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte und ihren Folgen, von Törichten und Toten, von Vertriebenen, Mördern und Myriaden von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt. Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt, schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden und man kann sich den Anblick ersparen, aber nicht im Regen das freudlose Sterben der Blätter. Laßt uns eine Reise tun! Laßt uns unter Zypressen oder auch unter Palmen oder in den Orangenhainen zu verbilligten Preisen Sonnenuntergänge sehen, die nicht ihresgleichen haben! Laßt uns die unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen! Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht, mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause. Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit. 8. Drachenlied Wenn wir an der Schnur dich halten von Bertolt BRECHT (1989-1956) Wirst du in den Lüften bleiben Knecht der sieben Windsgewalten Fliege, fliege, kleiner Drache Zwingst du sie, dich hochzutreiben. Steig mit Eifer in die Lüfte Schwing dich, kleine blaue Sache Wir selbst liegen dir zu Füßen! Über unsre Häusergrüfte! Fliege, fliege, kleiner Ahne Unsrer großen Aeroplane Blick dich um, sie zu begrüßen. 9. Der Herbst des Einsamen von Georg TRAKL (1887-1914) Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle, Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen. Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle; Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen. Gekeltert ist der Wein, die milde Stille Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen. Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel; Im roten Wald verliert sich eine Herde. Die Wolke wandert übern Weiherspiegel; Es ruht des Landmanns ruhige Gebärde. Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde. Bald nisten Sterne in des Müden Brauen; In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden Und Engel treten leise aus den blauen Augen der Liebenden, die sanfter leiden. Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen. Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden. 10. Spät im Jahr von Albrecht GOES (1908-1977) Habt Vorrat ihr genug, ihr meine Augen, Für einen Winter, lang und weiß und grau? Nehmt noch dies Asternrot, dies weiche Lila, Dies späte Gelb, dies herbstlich klare Blau, Und nehmt den Silberglanz der großen Flüge Des Habichts und des Eichelhähers wahr, Und auch den Birnbaum nehmt, ein goldnes Gleichnis Des Überschwangs vom segensreichen Jahr. Und endlich nehmt das Lächeln und die reine Strahlung des schönen Menschenangesichts, Und alle Nacht wird herrlich euch erhellt sein Vom farbgen Widerschein geliebten Lichts. 11. Astern von Gottfried BENN (1886-1956) Astern -, schwälende Tage, alte Beschwörung, Bann, die Götter halten die Waage eine zögernde Stunde an. Noch einmal die goldenen Herden der Himmel, das Licht, der Flor, was brütet das alte Werden unter den sterbenden Flügeln vor? Noch einmal das Ersehnte, den Rausch, der Rosen Du -, der Sommer stand und lehnte und sah den Schwalben zu, noch einmal ein Vermuten, wo längst Gewißheit wacht: die Schwalben streifen die Fluten und trinken Fahrt und Nacht. 12. Herbst von Rainer Maria RILKE (1875-1926) Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh die andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.