Deutsch im 20. Jahrhundert * Dr. Wolfgang Näser * Mi 16-18, HS 110 Biegenstraße 14 * Beginn 10.4.2002

Erich Loest (* 1926): Aus "Der Zorn des Schafes" (1990), S. 20-25

"[...] Irgendwie war unsere Geschichte immer bei Leipzig-ein-und-Leipzig."

Unser bestes Jahr war 1913. Die Fabriken dampften, an den Börsen wurde Gewinn gemacht, die Sozialdemokraten glaubten, internationale Brüderlichkeit würde jeden Krieg ersticken. Die Einweihung des Völkerschlachtdenkmals wurde zu einem strahlenden nationalen Fest. Zeppeline flogen, immer kühner wurde mit Stahl und Beton gebaut. Es gibt Zeiten, denen man wünscht, die Geschichte hätte den Atem angehalten, Jahre, die hätten verweilen sollen, denn sie waren so schön. 1914 zog auch die sächsische Armee in den Krieg. Der ein wenig vertrottelte König, der sechs Söhne hatte, warnte seine Generäle: "Wenn meinen Jungs was passiert, dann könnt ihr mich kennenlernen!" Auf alle Landessöhne dehnte er seine Drohung freilich nicht aus.

Wir haben so manches hervorgebracht, aber keinen Reichs- oder Bundeskanzler. Wir können sagen, mit den ganz großen und ganz schlimmen Dingen haben wir nichts zu tun. Da können wir auf die anderen zeigen, und am liebsten weisen wir natürlich auf die Preußen. Wäre Deutschland hin und wieder am sächsischen Wesen genesen, es wäre weniger rauh, weniger bombastisch, es wäre leiser und bekömmlicher zugegangen. Mein Freund Fredi Linden wehrt sich im "Völkerschlachtdenkmal" gegen seinen natürlich aus Preußen stammenden Vernehmer, als dieser unser Lieblingswort gemütlich, "gemiedlich", lächerlich finden möchte, es käme von Gemüt, und das sei das Schlechteste nicht. Einmal soll er beantworten, was der hauptsächlichste sächsische Charakterzug sei. Er versucht es so: Wir wollen nicht gewinnen. Da wäre zu ergänzen: Wir wollen nicht total siegen, denn aus einem absoluten Triumph erwächst mit Notwendigkeit der nächste Konflikt. Wir wollen ein bißchen besser sein, und dann wollen wir mit dem anderen ein Bier trinken.

Nach dem Krieg hielt mein Vater Wache als Zeitfreiwilliger an der Zschopaubrücke, denn, so hieß es, Max Hoelz zöge mit seinen revolutionären Gesellen aus dem Vogtland heran. Ins rote Sachsen marschierte Reichswehr aus Preußen ein. Sachsens Proletariat wehrte sich gegen die Nazis, selbst im März 1933 hatten in unseren Industriestädten die Arbeiterparteien noch die Mehrheit. Dann wurde auch hier gleichgeschaltet. Der letzte Abstieg endete mit Bomben auf die Hydrierwerke von Böhlen und Espenhain, auf die Flugzeug- und Panzerfabriken von Leipzig und Plauen, mit den Katastrophen von Chemnitz und Dresden.

Die vier größten Städte waren ausgebrannt, alles übrige überstand den Krieg nahezu unzerstört, denn als die alliierten Armeen von Ost nach West vordrangen, gab es keine Wehrmacht mehr. Die Mulde war Interessengrenze. Hier und da, so nach Mittweida, das ein Dutzend Kilometer weiter östlich liegt, preschten amerikanische Panzerspitzen vor, befreiten Kriegsgefangene und zogen sich wieder zurück. Nun lag Mittweida ohne Obrigkeit, ein für einen Sachsen unangenehmer Zustand - er will wissen, woran er sich zu halten hat. In Mobendorf gaben ein Feldwebel und fünf Mann Tabak aus, den Dresdener Fabriken dort in Scheunen ausgelagert hatten. Die Leute standen mit Rucksäcken und Handwagen Schlange, kein Krümel wurde zertreten. Den letzten Zentner, so will ich hoffen, tauschte der Feldwebel gegen Zivilklamotten ein und schlich nach Hause. Zum Teil auf Pferdefahrzeugen, an denen noch die Schilder von Bauern aus Schlesien hingen, rückte schließlich die Sowjetarmee ein. Ein paar Wochen lang blieben die Amerikaner in Westsachsen, dann zogen sie sich, auch Thüringen räumend, auf die heutigen Grenzen zurück. Mein Vater, der drei Regime [sic!] erlebt hatte, sagte: Nu, da werden wir eben russisch.

[...] der DDR-Sozialismus war nicht hausgemacht, seine inneren Antriebe stammten nicht aus Trier oder Elberfeld, sondern aus östlichen Produktionsräumen, sie setzten auf die große Zahl, auch Kollektiv genannt, nicht auf die Kraft des einzelnen. Immer größere Wirtschaftsgebilde wurden geschaffen, voller Stolz wiesen die Erbauer dieses Sozialismus Industriekombinate mit Zehntausenden von Werktätigen vor, und mancher Landwirtschaftsbefehlshaber gebot über Dutzende Dörfer. Sein Reich endete erst am Horizont, in ihm schob er Brigaden hin und her, und wenn der eine tausend Rinder im Stall stehen hatte, wollte ihn der andere mit fünftausend, der dritte mit zehntausend übertrumpfen. Unsere Fähigkeit zum Tüfteln und Basteln kam nicht mehr zum Zug. Nicht mehr der Familienbetrieb, die Klitsche waren gefragt, sondern der Staatskonzern.

[...] Endlich hat sich einer, Gunter Bergmann, an das "Kleine sächsische Wörterbuch" gemacht, er will helfen, "das über Jahrhunderte hinweg arg geschädigte Selbstwertgefühl seiner Bewohner wieder ein wenig aufzurichten." Das geht unsereinem runter wie Öl, dieser Bergmann ist mein Mann.

Meine Eltern hatten eine Eisenwarenhandlung gepachtet, als Junge hörte ich im Laden den Gesprächen mit Bauern zu und versuchte zu erraten, aus welchem Dorf sie stammten. Wenn sie gegangen waren, fragte ich danach - mein Gefühl hat mir meist recht gegeben. Jetzt kann ich nachschlagen, und siehe, Mittweida liegt im Dreiregioneneck des Ost-, Süd- und Westmeißnischen. "Es regnet", sagte mir der Oberlehrer-Großvater streng vor, "s' reschnt", hieß es in  Altmittweida. "s' rahnt" in Oberrossau.

Problematisch bei solchen Unterfangen ist immer die Lautschrift. Hier wird nicht in letzte Feinheiten verzweigt, und so ist das Buch auch für Nichtsachsen verständlich. Beispielsätze stellen die Wörter in ihren Zusammenhang: "gunksen swv. 'stoßen', wenn de mich nochmah gunkst, hau'ch der eene runter!" - "fänsen" so viel wie grundlos weinen, heulen. "Deswäächen wern mir nich glei fänsen!" Begriffe aus dem Sexuellen, auch dem Fäkalischen sind tunlichst ausgespart. Schimpfwörter, auch sie geben einem Dialekt Würze und Kraft, werden dem geneigten Leser vorenthalten. Dialekt ohne diese Wurzeln, ohne Furz und Faustschlag ist aber halber Dialekt. Möge unser Bergmann weiter schürfen.

Bildnachweis: Screenshot-Bildausschnitt aus Phoenix-Sendung vom 30.10.2k5, ca. 14:25
HTML: Dr. W. Näser, 1.2.2002 * Stand: 27.12.2k5