Textsorte: Reisebericht

L o n d o n

Tagebuch einer Pauschalreise
(26.2. bis 11.3.1988)

von Wolfgang NÄSER, Marburg

VORWORT

Reiseberichte haben immer etwas ganz Persönliches. Wer eine Reise tut und dabei nicht schläft, hat später viel zu berichten; Reise-Eindrücke und -erlebnisse haben für den Betroffenen immer einen hohen Stellenwert: nicht umsonst werden so viele Fotos gemacht, Diafilme und Videobänder gefüllt.

Verstaubte Fotoalben, langweilige Dia-Abende, Erzählungen dessen, was im Grunde nur einen selbst angeht, sind oft Endprodukte dessen, wonach man sich das ganze jahr gesehnt, wofür man lange gespart hat. Früher, als "visuell" noch einzig das gedruckte Buch mit Bildern bedeutete, war der Reisebericht als literarische Gattung Informations- und Bildungsmittel zugleich, eröffnete dem gierigen Leser Welten, die er - außer auf dem Papier - sonst nie hätte erkunden können. Der Reisebericht wurde zum Transport- und Präsentationsmittel fremder, seltsamer Kulturen und erweckte im Idealfall schon so etwas wie Verständnis, Toleranz gegenüber dem, was dem Leser wirklich fremd war.

Reiseberichte sind persönlich, dokumentieren, wie ein einzelner Mensch, ein Individuum, aus dem kleinen Fenster seines Ichs all das wahrnimmt, beurteilt, registriert, was in seiner unmittelbaren Umgebung wichtig, erinnernswert erscheint. Entdecken, Wählen, Fixieren, Verarbeiten, Werten, Verschriftlichen: prozedurale Teilmengen ganz persönlicher Welt-Sicht. Ein guter Reisebericht fesselt, entrückt, verführt, läßt teilhaben am Erlebten, zeigt Menschen, die wir gern kennenlernen. So individuell er ist, hat er doch als Gattung Exemplarisches.

Reiseberichte werden interessant, wenn das Gesehene nicht bloß berichtet, sondern in Bezug gesetzt, in einen Rahmen eingebettet wird, wenn kulturelle, geschichtliche, geistige Zusammenhänge aufscheinen, das Erlebte, Gesehene Anlaß gibt für Exkurse, Erläuterungen, allerhand nützliches Beiwerk, sofern ein waches Beobachten und ein gewisser Erlebenshorizont als Quelle im statischen und dynamischen Sinne verfügbar sind.

Kurz bevor ich den ersten PC erwarb, intensiv in dessen Techniken und Möglichkeiten eintauchte und eine neue, wesentliche Dimension erschloß, schrieb ich, aus tiefem Erleben und vollem Herzen heraus, auf einer altertümlichen, lauten Maschine 50 Seiten über London.

Swinging London, Metropole der Gegensätze. Hundertmillionenfach touristisch heimgesucht. Sie kommen zum Einkaufen, bevölkern die Kneipen, starten von hier nach Windsor und Oxford, bestaunen die Wachsfiguren bei Madame Toussaud. Die meisten haben einen Reiseführer dabei, kämen nicht auf die Idee, dem etwas hinzuzufügen.

Meine Zeilen sollten Schönes, Unvergeßliches zurückholen, wiedererstehen lassen für liebe Menschen in der Familie - auch für mich.

Eher zum Spontanen neigend, hatte ich mich (scheinbar?) recht planlos in der Metropole bewegt, mich treiben lassen, wurde Teil der durch Straßen und Ubahn-Schächte pulsierenden Menge, alles registrierend, was da an mir vorbeifloß. Selbst bei den Verwandten suchte ich Neues, Typisches, Verewigenswertes.

Knapp zwölf Jahre vor dem - ersehnten wie gefürchteten - Millennium zeigt sich hier die Weltstadt in - zumindest teilweise - historischem Kolorit. Hier in meiner Web-Site möchte ich dieser wunderbaren, pulsierenden, motivierenden Metropole ein Denkmal setzen. Das Folgende wurde nur geringfügig überarbeitet und gekürzt; Gedanken und Wortschatz blieben unverändert in diesem Vergangenheit gewordenen Synchronschnitt.

z.Zt. Cuxhaven, im März 1999                 Wolfgang Näser

DER BERICHT

Schon von der ersten Reise (Januar 1986) her wußte ich, daß auch und gerade in "meinem" Reisebüro der London-Aufenthalt sehr gefragt ist: "nicht nur zur Sommerzeit", auch in einem verschneiten Februar. Das Reisebüro liegt gegenüber der Mensa; ein recht kleiner Raum, hier tummeln sich hauptsächlich Studenten, die aus der Enge Marburgs hinauswollen. Auch mich zieht es hierhin, als ehemaligen Studenten der Philipps-Universität.

Nach kurzem Hin und Her gelingt es, vier Tage vor dem Abflug noch ein Einzelzimmer im Hotel SENATOR (Paddigton, Westend) zu buchen ("wir können das aber nicht 100%ig garantieren, weil üblicherweise nur die Kategorie [B] fest zugesagt wird"). Die gesamte Reise, einschließlich Flug (DAN AIR), Flughafenzuschlag (Ffm: 30 DM) und Reiserücktrittsversicherung kostet 1.090.- DM.

"Zum Bahnhof?" - "Nein. Zum Frankfurter Flughafen." Freitag, der 26.2.1988. Koffer und Handgepäck sind fertig. Im Handgepäck befindet sich auch eine kleine portable Ausrüstung für Tonaufnahmen. Das Gewicht beider Stücke liegt aber unter 20 kg. Weil ich so erschöpft bin, nehme ich ein MINICAR bis zum Flughafen; "von Haus zu Haus" macht es 120 DM. Der Fahrer ist ein 24jähriger Inder, er studiert in Gießen Betriebswirtschaft. "Sie fahren aber einen heißen Reifen." In nur 65 Minuten sind wir vor Halle B.

Ich schenke ihm eine Musik-Cassette fürs Auto. Dann habe ich viel Zeit; das Check-in geht erst gegen 17:30 los, erfahre ich; also schlendere ich umher. Der Frankfurter Flughafen erscheint vertrauter, freundlicher als beim letzten Mal, obwohl sich wieder einiges geändert hat. Es gibt IBM-Werbung mit kostenlosem Computerspiel; irgendwie kommt mir ein Restaurant neu vor. Diesmal gibt es keinen Polizisten mit umgehängter MPi. Es ist ja auch nicht kurz vor Mitternacht, so wie Ende Juli 1987, als ich Uta abholte.

Beim Check-in bin ich einer der ersten; alles klappt in nur zwei Minuten, die für mich hinterlegten Tickets sind pünktlich eingetroffen. Ich nehme die Handtasche, rufe erst mal zu Hause an. Der Flug soll erst gegen 19:45 losgehen. Doch die Wartezeit vergeht schnell; es gibt viel zu studieren. Zwei Stunden Flughafen sind besser als das spannendste Fernsehprogramm. Gegen 19 Uhr informiert mich die Anzeige über das Gate, den Flugsteig, von wo wir einsteigen sollen. Paßkontrolle, Flugschein vorzeigen, aber diesmal kein Abtasten: ich bin angenehm überrascht. In der kleinen Halle lerne ich einen jungen Mann kennen, der einen Video-Camcorder dabei hat. Die meisten London-Leute sind jung, im Studentenalter, da ist aber auch eine Gruppe von meist "mittelalten" Frauen mit einem Leiter, der sich ungemein wichtig tut. Vielleicht eine kirchliche Reisegruppe, so scheint es.

Gegen 19 Uhr gibt man uns den Weg frei, ich gehe als erster den Schlauch ... hinunter, denn die BAC 1-11 der DAN AIR ist ein niedriger Vogel mit kleinen Rädern auf nur kurzen Beinchen. Ich sitze in Reihe 4, Platz A am linken Fenster. Dieses ist in Schulterhöhe, überhaupt komme ich mir vor wie in einer Sardinenbüchse - es fehlt nur noch das Öl.

Nach und nach pressen sich die Fluggäste hinein; dann die üblichen Instruktionen der Stewardessen, erst in gutem Englisch, dann in schlechtem Deutsch - macht nichts, dafür sehen die Mädchen gut aus. "Es ist erwiesen, daß elektrische Geräte wie Walkman usw. die Navigation und die übrigen Instrumente des Flugzeuges stören können", oder so ähnlich heißt es. Also packe ich meine Ausrüstung wieder zusammen. Dann krächzt es aus dem Lautsprecher - es ist der Kapitän -, daß wir noch etwas warten müssen; an einem Freitagabend wie dem unsrigen ist zu viel los auf dem Frankfurter Airport.

Kurz nach Acht rollen, besser: rumpeln wir sanft los, es geht über lange Taxiways, vorbei an anderen Maschinen, an Hinweisschildern und sonstigen Markierungen, dann ist rechts von uns der Runway, die Startbahn zu erkennen. Da stehen schon einige Maschinen Schlange, darunter einige große Brocken. Startende Jets donnern vorbei, Positionslichter steigen in den Himmel. Wir biegen nach links. Dann werden wir schneller. Unter uns, fast zum Greifen nah, der Asphalt. Bumbum, bumbum, die Stöße der Platten, dann wird es ruhig. Wir steigen in steilem Winkel. In meinen Ohren bewegt sich was, knackt leicht; der Druck sinkt. Ich denke schon jetzt an die Landung: hoffentlich nicht wieder diese Schmerzen. Wir steigen weiter, da krächzt es schon aus dem Lautsprecher: die Stewardessen kommen gleich mit den zollfreien Waren und Getränken. Vier Stewardessen sind in dem engen Vogel; eine große, stämmige Blondine scheint die "Chefin" zu sein. Kaum ist der Tax-Free-Wagen vorübergerumpelt, kommt schon der Abendimbiß; wir klappen die "Tische" herunter; die nur etwa 50 x 30 cm großen Platten stehen aber nicht waagerecht, so daß ich die Knie nehme zum Ausbalancieren, damit das Imbißpäckchen, genauer die kleine, raffiniert aufgeteilte Plastikpackung, nicht hinuntersegelt. In einem Plastikbecherchen gibt es Tee oder Kaffee. Ich kämpfe mit dem oder besser gegen den Ellenbogen meines rechten Nachbarn. Gottseidank ist der Imbiß vorbei. Draußen ist es schwarz, wir fliegen über dicken Wolken. Die beiden Triebwerke summen nicht zu laut. Wenn ich mir so mein Fensterchen ansehe und die Innenverkleidung, so kommt mir alles ziemlich zart vor. Aber ich bin Optimist. Das freundliche Krächzen der Kapitänsstimme verkündet, daß wir in kürze London erreichen werden, genauer London-Gatwick. Wir sinken langsam. Ich stopfe diesmal schon jetzt vorsorglich zusammengedrücktes Taschentuchpapier in beide Ohren, versuche nicht an die Landung zu denken. Erst geht es gut, doch dann kommt es wieder, das Stechen und Taubheitsgefühl. Ein wenig Schweiß steigt auf die Stirn. Es muß diesmal besser gehen. Es muß. Es geht wenige Prozente besser. Dann werden die Triebwerke zurückgenommen, setzen fast aus - Touchdown. Der Kapitän ist butterweich gelandet. Bis zum Flughafengebäude geht es schneller als in Frankfurt. Dann steht der Vogel. Man schraubt sich aus den Sitzen hoch, verharrt gekrümmt unter den Gepäckablagen, bis in der Schlange der sich Hinausschiebenden eine Lücke entsteht. Ich nehme die zusammengedrückte Jacke heraus; die obere linke Tasche ist offen, der kleine Kofferschlüssel weg. Da hilft kein zweiter, dritter Blick auf Sitz und Boden - wir müssen hinaus. Bye, bye, und dann die kurze Treppe hinunter, ein nur kurzer Weg bis zum niedrigen Terminal, wieder die enge Treppe hinauf bis zum ersten Stock, wir sind im sogenannten "Satellit". Von hier aus - ich kenne das schon - bringt uns eine automatische Einschienenbahn zum eigentlichen Flughafengebäude. Man muß sich eilen beim Ein- und Aussteigen. Die Ansagen sind nur auf Englisch. Andere Sprachen scheint es - vorerst - nicht zu geben.

WELCOME TO LONDON
Eine freundliche Halle empfängt uns; irgendwie familiärer als in Frankfurt. Neben mir ein Mann und eine Frau, auch sie wollen ins Senator. Wo ist die JET-Reiseleitung? Ach ja, dort hinten. Wir sind die ersten dort. Eine freundliche Begrüßung, ein kurzer Namens-Check. Die junge Dame sieht nett aus. Hinter uns versammelt sich ein beachtlicher Pulk von JET-Reisenden. Ein paar haben sich einen Gepäckwagen besorgt. Ich gehöre dazu. Dann setzen wir uns in Marsch, hiununter zum Bus, aber dazwischen liegt noch die Paßkontrolle und, um es nicht zu vergessen, das baggage reclaim, das Abholen des Koffers. Hoffentlich ist er mitgeflogen, denke ich, denn ich habe ihn ja als erster eingecheckt - werden die ersten die letzten sein? Er ist schnell da, und dann geht es, zusammen mit der Dame und dem Herrn, die, wie ich erfahren habe, in London eine Kunstmesse besuchen wollen, zum Bus. Es geht einen langen Gang entlang und dann immer links herum ziemlich steil abwärts, bis wir an einer langen Zufahrtsstraße vor dem Gebäude stehen. Nach britischer Zeit (die Uhren haben wir inzwischen eine Stunde vorgestellt) ist es inzwischen kurz vor halb Zehn.

THE LONDONERS steht in hübscher Kursivschrift auf dem Reisebus, in dessen riesigen Gepäckfach die Koffer verschwinden; die Tasche nehme ich aber mit hinein, wie immer. Meine Kopfschmerzen, das unangenehme Stechen, sind weg, aber das Taubheitsgefühl ist noch immer da, irgendwie ist da noch was zu in den Ohren. Ab und zu öffnet sich da was, ein leichtes Knacken. Endlich sitze ich im Bus, wieder links am Fenster, der Sitz ist bequem; vorn erhebt sich unsere nette Reiseführerin, um uns offiziell zu begrüßen. Birgit sei ihr Name, sie werde uns zu den Hotels bringen. Das mit dem SENATOR ist o.k., ich habe es in Gatwick erfahren. Aber: bekomme ich auch wieder ein so schönes Zimmer wie beim letzten Mal, mit Teppichboden und dem kleinen Philips-Farbfernseher? Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Aber genießen wir erst einmal die recht lange Fahrt bis mitten hinein in die Londoner City. Ich weiß, daß es bis zum Hotel noch fast zwei Stunden dauert. Die gehen aber schnell herum. Gatwick liegt weit außerhalb, über 40 Meilen von London. Dennoch, sagt man, sei die Verbindung London-Gatwick weniger problematisch als die zwischen London und Heathrow, dem eigentlichen großen Flughafen der Metropole.

Wir sind ziemlich müde und abgeschlafft, als das erste große Hotel angefahren wird: CHARLES DICKENS, es gehört zur nobleren Kategorie C. Es folgen noch einige andere, und immer wieder steigen kleine Grüppchen aus, abgesehen von der großen, anscheinend kirchlichen, Frauenversammlung. Dann geht es zum ATLANTIC HOTEL, einer Pension der Kategorie A, und schon sind wir beim SENATOR angekommen. Ja, da ist der rote Koffer mit dem Markierungsstreifen in der Mitte. Es ist halb Zwölf, eigentlich schon halb Eins.

"Mr. Naeser: Room Nr. 05". der Schlüssel mit dem langen Holzstück paßt aber nicht bei Zimmer 5. Nein, Null-Fünf, einen Stock tiefer, in den Keller quasi. Da paßt er: aber ist das mit dem Schloß nicht irgendwie anders als oben? Die Tür öffnet sich: wo ist der Fernseher? Es gibt keinen. Schäbig ist der Raum, und kalt. Der Putz bröckelt. Der Schrank ist wacklig. Als Heizung nur ein winziger Streifen unten an der Fußleiste. Im WC/Duschraum fehlt das Zahnputzglas. Verdammt! Und jetzt noch das Malheur mit dem Kofferschlüssel. Verdammt nochmal! So gesehnt habe ich mich nach London und dann eine so ungastliche Aufnahme?

Wütend gehe ich nach oben, es ist gegen Mitternacht. Ich vermisse den Fernseher, sage ich, den ich eigentlich vom letzten Male erwartet hätte, zumal ich 14 Tage in London bleiben wolle. Es tue ihr leid, sagt die Rezeptions-Dame, zur Zeit befänden sich einige Fernseher in Reparatur, doch könne man mir morgen ein Gerät besorgen, ich solle mich doch morgen früh gegen 9 Uhr wieder bei der Rezeption melden.

Unten, im Keller, mühe ich mich ab mit dem Koffer. Zum Glück habe ich in meinem Portemonnaie noch einen kleinen Imbusschlüssel, weiß Gott, warum. Damit kann ich beide Schlösser öffnen; ich muß doch an die wichtigsten Wäschestücke herankommen. Da entdecke ich was: ich hatte doch meinen Kopfhörerbügel und die beiden ansteckbaren hochwertigen Hörer mitgenommen, um die mitgebrachten Cassetten(kopien) und meine späteren London-Aufnahmen per Walkman abhören zu können - ein wenig Stereomusik wäre jetzt gerade angesichts des fehlenden TVs zur Entspannung angebracht - doch ich finde nur einen Hörer. Verdammt! Wo ist der zweite? Habe ich ihn verloren? Ist er bei einer etwaigen Kontrolle abhanden gekommen? Verdammt noch einmal. Kaltes Zimmer, Kofferschlüssel weg, kein TV, nur ein Kanal. Das ist ein schöner Anfang. Es ist halb Eins. Allmählich sollte man mal ins Bett gehen. Wie wird es morgen sein? Ich lasse das meiste an. Die Decken sind nur dünn. Ich habe keine Lust, mir gleich zu Beginn eine Erkältung zu holen. Morgen, nach dem Frühstück, werde ich das denen schon stecken. Die Nacht ist eine Qual, immer wieder werde ich wach. Trinken kann ich nichts, es ist ja kein Becher da.

Kurz nach Sieben erwache ich aus dem letzten Teilschlaf. Muntere Vogelstimmen begrüßen mich direkt vor dem Kellerfenster. Ich freue mich über diesen Gruß. Spontan hole ich die Tasche mit dem Recorder, stecke mein Stereo-Kompaktmikro zusammen, nehme fünf Minuten Vogelgesang auf. Na also, wenigstens etwas. Gegen Acht bin ich im Restaurant, eher gesagt im Frühstücksraum. Alles ist mir vertraut, die Erinnerung von 1986 hat zwei Jahre und zwei Monate zu einem Tag gemacht. An der Rezeption ist eine andere junge Dame, schwarzhaarig und recht apart. Ich trage ihr mein Leid vor, so englisch wie ich kann, und sie sagt, ich solle es mal mit Raum Nr. 11 probieren, vielleicht sei dort ein TV. Dort erscheint mir alles viel sauberer, trotz des ungemachten Bettes, doch ein TV fehlt. Dann solle ich mal Nr. 5 probieren (Aha: nicht Null-Fünf). Das ist genau über meinem Keller-Loch. Ja, und das Schloß hat wieder den üblichen Standard, man kann es links mit einer weiteren Drehung verschließen und dann abziehen. Ich öffne zaghaft die Tür - mein Paradies empfängt mich! Sauber, ordentlich, nicht so abgerissen, und rechts vorn, am Fußende über dem Bett, das an der Wand befestigte Brettchen mit - meinem Fernseher !!! Unhörbar rollt eine Lawine von Steinen von meinem Herzen. In einer Viertelstunde habe ich alles unten gepackt und bin in mein neues Domizil umgezogen. Und nun, nun kann der Urlaub in London beginnen, nun kann ich mich so recht auf alles freuen. Gott sei Dank.

***

Es ist klar, daß an diesem Morgen, ganz gleich wie das Wetter ist, der Farbfernseher eingeschaltet wird, denn das englische Programm, Botschafter der Landes-Kultur, soll wieder wie vor zwei Jahren als Ouvertüre meinen London-Aufenthalt einleiten. Diesmal gibt es freilich nicht (wie damals um Mitternacht) eine Übertragung von Billard (bzw. Snooker), sondern Früh-News von der BBC mit Reportagen von den gerade zuendegehenden Olympischen Winterspielen in Calgary, und diese Berichterstattung bildet gleichsam eine Brücke zwischen der Heimat und dem Urlaub. Mit Calgary hatte Marburg aufgehört, mit Calgary fängt London an. Und jetzt kann ich erst einmal in Ruhe alles im Schrank verstauen und noch einmal nach dem fehlenden Kopfhörerteil suchen - aber vergebens.

Irgendwann gegen Mittag gehe ich hinaus. Das Wetter ist nicht unfreundlich; frische Luft und ein moderater Lärmpegel. Die langgestreckte Westbourne Terrace liegt vor mir; an dieser vierspurigen Verkehrsstraße liegen außer dem Senator noch eine Reihe anderer Hotels. Am rechten Ende, bevor sie mit einem Knick in die Edgware Road übergeht, befindet sich eine Kirche. Ich biege an der nächsten Kreuzung nach rechts ab, Richtung ATLANTIC HOTEL, in eine Straße mit "typisch englischen" Häusern, jedes hat am Eingang eine Treppe, die hinunter führt in einen kleinen abgeteilten Vorplatz vor den Kellerfenstern, wo sich eine zweite Tür befindet, vielleicht für das Personal. Ich denke an den Film mit den "verrückten Polizisten", wo P.C. Gorse mit seinem Roller in ein solches Loch hineinsegelt. Es ist schön, in London zu sein, alle Eindrücke, und seien es die scheinbar unwichtigsten, gierig in sich aufzusaugen. Die Royal Kensington Gardens, Fortsetzung des Hyde Parks, befinden sich nur ca. 150 Meter von hier; dorthin kann ich später gehen, habe ja Zeit, weitere dreizehn Tage, bin kein Schnelltourist. Und so habe ich mir für diesen Tag auch nur ein touristisches Ereignis vorgenommen, die Pub Tour, sie kostet 17 Pfund, ich habe sie nach dem Frühstück (und schon im Besitz des neuen Zimmers) bei Birgit gebucht, nachdem ich zum ersten Mal in Marburg (010496421...) angerufen hatte. Ich habe natürlich die Reiseleiterin gefragt, ob wir wieder zum Schluß das Montague Arms besuchen würden. "Das könnten wir eigentlich mal wieder tun", hatte sie erwidert. Vor dem geistigen Auge sah ich wieder das bunte Treiben, dichtes Gedränge, die lange Biertheke und die Bühne mit den allerhand Keyboards, die der blinde Pub-Besitzer so meisterhaft beherrschte, ich hörte die fetzige Musik und war schon mitten drin in dieser tollen Stimmung. - Die Umgebung des Senator wieder in Besitz nehmend, war ich bald auch wieder am großen Bahnhof von Paddington; die zwei Jahre Distanz waren vergessen.

Im Hotel ruhe ich aus für den Abend und genieße den TV. Vom Grand National berichtet der Sport und von der Rally Season: supergetunte Serienwagen-Versionen schliddern in engen Kurven abenteuerlich nah an begeisterten Zuschauern vorüber - so etwas wird bei uns in derart epischer Breite gar nicht (mehr) gezeigt. Und einen Film gibt es, die Geschichte der chinesischen Empress Woo, ich sehe den Schluß, dann kommt noch ein Propaganda-Kriegsfilm mit dem Titel "49th Parallel"; Laurence Olivier, damals noch nicht "Sir", hat die Hauptrolle. Ein deutsches U-Boot landet in einer kanadischen Bucht, wird von drei U-Jagd-Flugzeugen in den Grund bombardiert, sechs Mitglieder der Mannschaft, unter der Führung eines viel zu alt aussehenden Leutnants, retten sich aufs Land und schlagen sich durch, bis schließlich, irgendwo in den USA, noch der Leutnant übrigbleibt. Die Deutschen sind fürchterlich karikiert, das U-Boot gleicht eher einem des Ersten Weltkrieges und ist für eine solche Mission viel zu klein, der Kommandant, ein Kapitän (!), sieht viel zu alt aus, und die Kommandophrasen und das Benehmen der Deutschen sind das, was man sich damals wohl im schlechtesten Sinne von deutschen Soldaten vorstellen sollte. Gottseidank wird der Film mindestens dreimal von einem Reklame-Set unterbrochen, das nimmt ein wenig von der Schärfe. Ein Glück, daß der Channel 4 auf Werbung angewiesen ist. - Ja, und Rugby sehe ich auch noch, darf mir das Gedränge der schmutzigen Spieler und die Jagd nach dem komischen Leder-Ei nicht entgehen lassen. Ja, es sind erwachsene Männer, die sich da wie Kinder im Schlamm benehmen. Würden Frauen auch so etwas tun?

Für den Abend packe ich die alte Einkaufstasche; das SONY-TCD 5, der Mikrofon-Set und der Batterie-Pack sowie mein Handtäschchen finden darin Platz. Bei diesem Innenleben ist die Hülle pures Understatement. Mit der gepolsterten Regenjacke, den schweren Schnürschuhen, der braunen Cord-Hose und der schon stark mitgenommenen, mehrmals geflickten Tasche gleiche ich eher einem Alltags-Londoner als dem Luxus-Touristen aus Deutschland, der oft für ganze drei Tage an Wochenenden der Metropole die Ehre gibt. Vielleicht ist mein Habitus der Grund, daß ich auch jetzt wieder ein paarmal nach dem Weg gefragt werde: Sorry, I'm not from here.

Gegen halb Sieben holt uns der Bus ab; ich will Birgits Begrüßung aufnehmen, doch die Zeiger beider VU-Meter zappeln wie wild: das Mikro ist anscheinend defekt. Verdammt nochmal, schon wieder Pech? Wie üblich bei der Pub Tour, werden wir zunächst in einer Art Restaurant abgesetzt (diesmal bescheidener, enger als 1986) und bekommen dort ein angeblich typisch englisches Dinner mit Roast Beef, Yorkshire Pudding und Dessert. Die Getränke müssen wir selber bezahlen. An meinem Tisch sitzt auch der Video-Mann mit seiner jungen Frau. Ab und zu sehe ich nach dem Mikro. Jetzt habe ich wieder links und rechts ein Signal. Ob das ein Wackelkontakt ist?

Das Roast Beef ist dünn wie ein Stück Pappe. Die Kartoffeln würde ich hier nicht essen. Der immer wieder erwähnte, angeblich so berühmte Yorkshire Pudding ist eine Art kleines rundes Brötchen, das in der Soße liegt. An das Dessert kann ich mich nicht mehr erinnern. Wir werden abgespeist wie in einer Mensa. Nun ja, wir sind eben Touristen und dazu noch aus Deutschland. Gut, daß wir wenigstens so ein nettes, quirliges Mädchen wie Birgit als Reiseleiterin haben. Die Getränke werden teuer abgerechnet. Das ist hier in dieser ziemlich abgerissenen Umgebung ein Witz.

Weiter geht es zum ALBERT, dem ersten Pub. Vor zwei Jahren hat es dort auch schon angefangen. Der Pub sieht gut aus, hat Atmosphäre. Ich nehme mir an der Theke half a pint of Lager. Die Theke beherrscht im Halbrund den Raum, der eine bescheidene Eleganz ausstrahlt. Alles hier atmet britische Tradition. Rechts auf einem Sofa sitzen drei alte Herren in roten Uniformröcken. Ihre schwarzroten Dienstmützen tragen die Aufschrift "R.H.". Einer hat drei Sergeants-Streifen. Es sind pensionierte Soldaten. Links tragen sie Auszeichnungen, große Orden an Bändern. Mit dem rechts sitzenden unterhalte ich mich. Er ist schlecht zu verstehen, dazu kommt der übliche Pub-Lärm. Was bedeutet R.H.? "Royal Hospital", sagt einer, und ergänzt: "or, Retired Homosexuals." Mein Gegenüber sagt, er würde gern einmal nach Deutschland reisen, wenn er könnte. Der Video-Mann filmt die drei. Sie haben nichts einzuwenden, denken sich vermutlich ihr Teil. Ein solcher Sony-Video-Camcorder kostet gut und gern seine dreieinhalbtausend Mark.

Vom Albert geht es zum nächsten Pub, dem ANCHOR. Birgit meint, sie wolle nicht dazwischen den Pub besuchen, wo die Engländer beim Eintreffen der Touristen gleich deutsche Lieder singen (ich habe das vor zwei Jahren erlebt, habe damals, als sie die "Londoners" sangen, bedauert, das nicht auf Band festhalten zu können). Der Anchor (Anker) hat seemännisches Gepräge und besteht aus mehreren Räumen in verschiedenen Stockwerken: im einen trinkt man Bier, im anderen ist eine Art Restaurant etc. Unten an der Biertheke lehnt ein Herr mit stark bayrisch-österreichischem Akzent. Er kommt aus Wien. Breit artikuliert er: der wienerische Schmäh. Doch nicht unsympathisch. Birgit drängt zum Aufbruch. Ein weiteres Lager habe ich intus. Jetzt also, jetzt geht es zum MONTAGUE ARMS. Birgit sagt, man könne dorthin auch von Paddington mit der Buslinie 36 fahren. Ich wollte das später immer wieder ausprobieren, aber so allein hatte ich keine Lust.

Nach etwa fünf Minuten sind wir dort, irgendwo im Stadtteil Elephant and Castle; der Busfahrer hatte mir erklärt, das komme aus "Eleanor of Castilia". Wir überqueren einen Fußgängerstreifen, sind an dem alt aussehenden, länglichen, niedrigen Gebäude. Lärm und Musik schallen nach draußen. Kaum ist die Tür halb offen, da weiß ich schon, daß wir im goldrichtigen Moment angekommen sind. Auf der Bühne machen die beiden gesetzten Herren eine Musik, daß es nur so fetzt. Vorn ist noch ein Platz frei: nichts wie hin. Schon ist das Mikro fertig, beide Kapseln sind aufgesetzt, das Kabel zum Recorder ist gesteckt, los gehts: es funktioniert! Das bedeutet schon mal rund zwanzig Minuten von dieser unvergleichlichen Live-Atmosphäre.

Niemand nimmt Anstoß. Und da ist auch wieder der junge Mann, der wie Elvis singt. Er singt auch wieder Wooden Heart. Eine junge Dame mit kaffeebraunem Teint bringt perfekten Rock. Klasse. Zwischendurch ein Bierchen an der Theke. Ich nehme es mit nach vorn. Das Mikro wieder raus und noch schnell die kostbaren Minuten bis zum Aufbruch kurz vor elf. Wie gern wäre ich geblieben. Auf meinem Band wird ausgeblendet. Wir nehmen Abschied von diesem Pub, der für mich schon ein Grund wäre, noch einmal nach London zu fliegen. Daheim, im Hotelzimmer, höre ich kurz in die Aufnahme hinein; mangels Stereokopfhörer muß der kleine Recorder-Lausprecher herhalten. Die Aufnahme ist prima geworden. Na also. Das ist gebongt. Nun noch ein paar Minuten TV und dann Gute Nacht. Das war doch eigentlich ein Erfolgs-Tag. Erst der völlig zufriedenstellende Zimmer-Tausch und schließlich die Pub Tour. Jetzt war ich wieder voll in "mein" London integriert. Und ich hatte bereits Vertrautes wieder-, aber dennoch neu erlebt. Man kann tun, was man will: immer wieder wird London ein anderes Gesicht zeigen. Man muß nur Augen, Ohren und das Herz öffnen. Dann wird immer mehr offenbar, wie großartig anders alles ist als hier in unserem perfektionistischen Deutschland.

***

Als ich am Sonntagmorgen erwache, ist die Euphorie des Vorabends einer starken Müdigkeit und Erschöpfung gewichen. Ja, was schön ist, macht müde. Hoffentlich geht mit der Gesundheit alles OK. Ich rufe in Marburg an, alles ist in Ordnung, gottseidank. Dann gehe ich zur Lancaster Gate Station, sie liegt unmittelbar vor den Kensington Gardens an der Bayswater Road, hier ist auch die Haltestelle der London By Night Tour von London Transport, man zahlt zwei Pfund, steigt hinauf zum Oberdeck und genießt von dort aus das vielfach-bunt erleuchtete London.

Ich habe von 1981 noch zwei bunte Paßfotos bei mir, eines davon wird auf die rechte Hälfte der Travelcard geklebt, sie kostet 6 Pfund 90 und gilt sieben Tage lang für die Fahrtzonen 1 und 2, d.h. Central und Inner London. Mit der U-Bahn fahre ich zum Piccadilly Circus, bin später in der Piccadilly Street und finde endlich Fortnum & Mason, Londons "nobelstes" und vielleicht auch ältestes Geschäft für erlesene Delikatessen, Konfektion und Geschenkartikel. Bevor ich zurückfliege, werde ich dort wieder einen Marmeladen-Set für zu Hause einkaufen. F & M hat zu, aber es gibt erstaunlicherweise auch jetzt, am Sonntagmorgen, offene Geschäfte, so z.B. Underwoods, eine Kette großer Drugstores, wo man nicht nur Drogerieartikel und Medikamente einkaufen kann, sondern auch Schreibwaren, Elektro- und Fotoartikel. Die Medikamente sind viel billiger als in Deutschland. Es gibt hier recht preiswerte VHS-Videocassetten, auch bespielte ab 7,95 Pfund. Und auch das große Buchgeschäft vorn in der Nähe des "Circus" hat offen.

Gegenüber der Paddington Station ist eine Art Imbißhalle, dort will ich mir als lunch snack gebratene Würstchen und einen Kaffee bestellen. "Please go downstairs, there the waiter will look after you", sagt ein Schwarzer mit übertriebener Höflichkeit, vielleicht auch mit einiger Ironie. Die Würstchen, zwei undefinierte Kaffees und ein kleiner, allerdings guter Salat kosten 2 Pfund 80. Später werde ich mir für weitere 3 Pfund Essen holen, fürs Hotel. London macht hungrig. Man hat aber nicht das Gefühl, sich etwas anzuessen.

Von 15 bis 19 Uhr bin ich mit Bus und Underground auf Achse. Die 27 bringt mich nach Hammersmith, die 9 (nach einem kleinen Irrgang) zurück zum "Circus", die U-Bahn zurück nach Paddington. Es ist naßkalt und sehr windig. In Hammersmith zeigt sich ein anderes London: das Elend schmutzig wirkender Arbeiterhäuser, ein graues, abgerissenes London, ganz im Gegensatz zur eleganten City. Arm und reich, Glanz und Elend, Pracht und Schmucklosigkeit, Eleganz und Häßlichkeit liegen nah beieinander in London. Und London ist laut. Der Verkehrslärm übertönt das Gespräch der Passanten, die U-Bahn veranstaltet einen infernalischen Lärm, wenn die niedrigen, meist überalterten Wagen über holprige Schienen poltern, wenn beim Halt unter dem Wagen der Kompressor losdonnert.

Die U-Bahn ist laut und schmutzig. Besonders die Wagen innen. Staubige, aufgerissene Sitzbezüge, schmutzige, uralte hölzerne Bodenroste, quietschende Rolltreppen (escalators). Dagegen elegant restaurierte Bahnhöfe wie Baker Street. "The Tube", die U-Bahn. Wirklich, das Ganze ist eine Röhre, eine sehr laute, eine sehr enge. Die uralt scheinenden Kabel und Röhren der Installation sausen zum Greifen nah an den kleinen Fenstern vorbei, wenn der Zug durch das dunkle Labyrinth rattert. Und ab und zu bleibt er stehen, irgendwo in einem dieser dunklen Schläuche. Nur die Circle Line fährt in größeren "Röhren", dafür aber auch langsamer, an jedem Haltepunkt mit mehrminütigem Aufenthalt: man hat das Gefühl, gar nicht vorwärtszukommen. Doch ist in den vergangenen zwei Jahren [1986-1988] in der "Tube" schon einiges besser, sauberer geworden. Paddington Station ist renoviert, und auch in anderen Bahnhöfen versucht man mit Renovation, Reinigung und geschmackvoller Werbung dem Elend abzuhelfen; und die Werbung ist bei weitem geistvoller als die unsrige.

Sympathisch ist, daß man ab und an in U-Bahn-Gängen Musik hört: zwei Folk-Sänger habe ich in der Victoria (Underground) Station aufgenommen, sie sangen irische Lieder zur Gitarre. Man findet Saxophonspieler, die sich vom Cassettenrecorder begleiten lassen. Ein kalter Luftstrom fegt durch die Gänge, in der eigentlichen Tube riecht es nach verbranntem Staub. In der Rush Hour schiebt sich eine vieltausendköpfige Menge hinaus zu den stampfenden und quietschenden Escalators, drängt zum Verkehrslärm über Tage. Doch jeder muß durch ein Nadelöhr; keiner darf ins Freie, ohne das Ticket einem Kontrolleur vorgezeigt zu haben. Ab und zu gibt es an den Häuschen kleine Diskussionen, da stimmt was nicht mit dem Fahrschein. Alle schieben sich gleichmütig durch die Gänge, kein Schimpfen, kein Murren. Die Kontrolle wird stoisch hingenommen. Alles fließt, bewegt sich wie unter einem geheimen Gesetz. Wer sich nie in der Rush Hour hat treiben, mitziehen lassen, hat das wahre London nie erlebt.

Sean Connery sehe ich, kaum zu glauben, im Abend-TV: er spielt hervorragend Golf! Nun ja, in "Goldfinger" hat er 24 Jahre zuvor bereits sein Können bewiesen. Mit einem Slazenger Nr. 7 hat er damals Auric Goldfinger (Gert Fröbe) ausgetrickst. Erinnerungen und Gegenwart, Einst und Jetzt, verschmelzen zu einer Synthese. London verlangt ein allseitiges, allumfassendes Erleben. Jeder Eindruck kann wertvoll sein.

Vier TV-Programme kann ich empfangen: BBC 1, BBC 2, Channel 4 (ITN) und Thames Television (London Weekend Television). Jedes der Programme hat seine Highlights, und die Werbung ist, wie schon gesagt, geistvoll und liebenswert. Ich denke nur an "Napoleon" und seine "Can(n)on". "If anyone can, Canon can".

Morgen, nehme ich mir vor, morgen mache ich die London Transport Sightseeing Tour mit. Wenn sich nichts geändert hat, so müßten die roten Busse doch von zehn Uhr an vor der Baker Street Station losfahren, gegenüber dem Planetarium der Madame Toussaud.

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Birgit von der Reiseleitung bekommt heute morgen nach dem Frühstück wie versprochen ein Exemplar der "Mozart-Konzerte" vom 30.8. und 6.12.87; ich hatte ja einige Kopien meiner Live-Aufnahmen zum Verschenken mitgenommen. Dann geht es per U-Bahn zur Baker Street, wo bereits der rote Doppeldecker von London Transport auf Kundschaft wartet. 6 Pfund, also rund 18 DM, kostet die Rundfahrt. Als wir starten, sitzen ganze zwei Passagiere auf dem Oberdeck. links neben mir ein ziemlich verschlossener junger Mann, ich glaube, aus Sheffield. Eine recht sympathische, quirlige junge Dame setzt sich hinter mich, will uns ohne Mikrofon Londons Sehenswürdigkeiten erklären - auf Englisch natürlich. Sie hat auch nichts gegen mein Aufnehmen einzuwenden - doch das Mikro spielt wieder verrückt. Die VU-Nadeln zappeln in Vollaussteuerungs-Position. Es ist zum Wahnsinnigwerden. Und dabei hätte ich gerade jetzt Gelegenheit, ein nahezu makelloses, nicht durch Lautsprecherübertragung verzerrtes Englisch festhalten zu können mit vielen geist- und humorvollen Erläuterungen, die eine perfekte "Nachbereitung" des Ganzen ermöglicht hätten, so wie ich es mir vorgestellt hatte.

Da hilft kein Rütteln, kein Neu-Einstecken des Traversen-Oberteils in das "basic module", immer dasselbe Zappeln der VU-Meter. Ich packe ein und gebe auf. Die London-Transport-Führerin sprudelt vor Informationen, die nicht alle in Pocket Guides stehen. Es sind so viele Informationen, daß man sie nicht behalten kann; der Premier Gladstone, erinnere ich mich noch, "was referred to as the Grand Old Man, abbreviated by G.O.M., which his political enemy Disraeli always interpreted as 'God's Only Mistake'". Sie interessiert sich auch für uns zwei Teilnehmer. "Dialects? We have accents." Ich möchte diese Rundfahrt vielleicht wiederholen, sage ich ihr, wenn mein Mikro wieder O.k. ist. Vielleicht bräuchte ich dann nichts zu bezahlen, entgegnet sie sie wolle mit dem "Inspector" reden. Am Ende der Rundfahrt gebe ich ihr, als ganz spontanes Geschenk, ein Exemplar der Deller-Consort-Aufnahme vom 24.11.87 in der Stadthalle. Sie ist ganz überrascht, freut sich sehr, will das Band später in ihrem Walkman hören; ich sehe sie noch, mit der Cassette in der Hand, zum Inspektor sprechen, als ich den Bus verlassen habe.

Im Hotel mache ich mich daran, mit einem Nichts an Werkzeug das Mikrofon zu reparieren. Schließlich komme ich auf die Idee, Traverse und Speisungsmodul fest zusammenzufügen und mit dem mitgebrachten Sekundenkleber dauerhaft zu sichern. Die Verklebung ist sehr fest. Das Mikro arbeitet wieder einwandfrei. Gegen 13:50 bin ich wieder in der Baker St., gegenüber Mme. Toussauds Planetarium. Gegen 14 Uhr muß es wohl wieder losgehen, der Bus steht ja noch da. Ich steige ein, gehe die schmale, steile Treppe hoch zum Oberdeck; dort kann ich mich ja schon niederlassen, der Kontrolleur wird später hochkommen und die Karte verkaufen. Doch es dauert; unten höre ich zwei Stimmen und wie man hin und her geht. Es ist schon nach Zwei. Es tut sich nichts. Als ich unten nachfrage, heißt es, man starte erst gegen halb Drei. Also habe ich noch Zeit. Die Reiseführerin ("now you have fixed it again?") meint, da hätte ich ja noch Zeit, einen Kaffee zu trinken. Doch dazu finde ich keine Ruhe. Links neben dem Bus, kurz vor der Straßenecke, sind zwei Geschäfte: eines mit allerlei kitschigen London-Souvenirs, ein zweites, kleineres, mit allerhand kleinen Quarzuhren. Da ist auch ein Sonderangebot: eine Radio Watch für nur 4 Pfund. Das Ausstellungs-Stück zeigt die genaue Uhrzeit. Drinnen erhalte ich ein Exemplar mit toter Anzeige. Die Batterien (für Uhr- und Radioteil) müsse ich extra kaufen. Ob ich aus Deutschland komme, fragt der etwa 40jährige Besitzer, ein energisch, aber freundlich aussehender Mann. Ich solle sie lieber in Deutschland kaufen, da seien Batterien billiger. Mit einem "Dankeschön, auf Wiedersehen" verabschiedet er sich. Jetzt habe ich die Radio Watch, dabei ist auch ein Leicht-Kopfhörer, alles für 4 Pfund. Vielleicht kann ich den Kopfhörer ja an meinem TCD 5M benutzen, sozusagen ersatzweise für den inkompletten mitgebrachten Hörer. Ich vertrete mir noch ein wenig die Füße. Kühl ist es, und zugig. Die Straße zur linken zeigt wenig einfallsreiche Bebauung, eine Neubausiedlung. Ich gehe zurück zum Bus. Die Reiseführerin meint, sie wisse noch nicht, ob sie wieder aufs Oberdeck kommen könne oder diesmal das Mikro benutzen müsse. Irgendwie erscheint sie mir reserviert. Oben bereite ich das TCD 5 und das Mikro für die Aufnahme vor. Der Inspector (Kontrolleur) verkauft mir eine zweite Karte für 6 Pfund. Von wegen kostenlos! "No tape recording please." Es sei ausdrücklich verboten, solche Führungen auf Band aufzunehmen. Man habe damit bei London Transport schon üble Erfahrungen machen müssen. Da helfen meine Erwiderungen nichts. "Then it's no use repeating the tour", entgegne ich, und nicht gerade erfreut gibt er mir die 6 Pfund zurück. Beim Verlassen des Busses winke ich der jungen Dame zu, enttäuscht und ein wenig wütend. Das Zitat von der einen Hand, die nicht weiß, was die andere tut, fällt mir ein.

"Viel mit Doppeldeckerbussen umhergefahren" steht als lakonische Notiz in meinem Kalender. Das ist die private, zweite Sightseeing Tour an diesem Nachmittag. Der Himmel hat sich inzwischen stark überzogen; kalt ist es, Regen droht. Das Mikro ist anscheinend doch nicht so o.k., jetzt geht mir auf, was wenige Tage später noch deutlicher wird: das starke Vibrieren der VU-Nadeln rührt nicht von einem Mikrofon-Wackelkontakt, sondern von einer Überempfindlichkeit des Mikrofonsystems. Also kann ich die Sache ans Bein streichen, muß das Ganze unter "negative Erfahrungen" abbuchen.

Es ist kalt im Zimmer, das Fernsehen langweilig. Uta hat nicht angerufen. Ein schlechter Tag - aber das hängt von mir ab. Die Entmutigung des Tages läßt mich wünschen, besser in Marburg geblieben zu sein. Ich rufe dort an, erfahre, daß Marion wegen Erkältung (schon wieder) nicht zur Schule gegangen ist. Und unsere Waschmaschine ist kaputtgegangen. Nun habe ich noch zehn Tage vor mir. Die Wochenend-Urlauber sind jetzt schon auf dem Rückflug, darunter die beiden Bilderrahmen-Messebesucher, ich habe sie seit dem Frühstück am Sonntagmorgen nicht wiedergesehen.

Ein solches London-Wochenende dauert nur kurz, ist aber vollgepackt mit Eindrücken: am Samstagmorgen gleich die dreistündige Rundfahrt, dann der Camden-Flohmarkt, abends die Pub Tour. Sonntags Mme. Toussaud, am Nachmittag die Windsor-Fahrt, abends - optional - das luxuriös-üppige Dinner mit Heinrich VIII, dann noch am Montagmorgen Shopping, bevor die übermüdete Reisegesellschaft gegen 13:20 nach Gatwick zurückgebracht wird. Vor zwei Jahren, als ich im Januar das erste Mal in London war, habe ich ein sehr sympathisches junges Ehepaar aus Wien kennengelernt; sie saßen mir gegenüber beim Dinner vor der Pub Tour. Ich habe selten eine so schöne, gepflegte junge Frau gesehen. Ihr Mann wirkte trotz des makellosen hellen Anzuges provinziell. Was sie vor der Pub Tour schon alles unternommen hatten: sogar bei Harrods war er gewesen, hatte sich dort eine Krawatte mit dem berühmten Namenszug besorgt. Und dann mußte, bei der Rückfahrt, der Bus kurz vor Mitternacht an der London Bridge anhalten; das Pärchen stieg aus, er mußte unbedingt noch ein paar Nachtaufnahmen machen. London by Night, ein Vorzeige-Objekt.

Ich konnte an diesem Montagabend schlecht einschlafen. Verstärkt wurde dies durch das laute Reden und Türenschlagen um Mitternacht, als ein neuer Touristenschub eintraf. Das war die Viertagestour von Montag bis Freitag, mit dreieinhalb vollgepackten Erlebnistagen. Ich werde nie begreifen, warum sich Leute um Mitternacht so laut und auffällig in fremden Hotels aufführen müssen. In unserer hektisch-oberflächlichen Zeit wird Rücksichtnahme kleingeschrieben.

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Frühstück im SENATOR. Man geht eine um 180 Grad gewundene Treppe hinunter. In der Mitte ein Tisch mit aufeinandergestapelten Tabletts und Servietten. Links zwei im Winkel stehende Tische, links ein großer Korb mit ziemlich leichten, luftigen Brötchen und noch leichteren, sehr weichen Hörnchen, mit Bestecken und Butterstückchen, von denen man auch vier oder fünf nehmen darf. Am rechten Tisch ein Automat für Grapefruit- oder Orangensaft (als Appetiser), dann ein großes Tablett mit Tassen und Untertassen. "Tea or coffee?" fragt eine große, recht stattliche junge Dame mit rabenschwarzem Haar. Rassig sieht sie aus, doch immer ernst schaut sie; wie das übrige Restaurant-Personal kommt auch sie aus irgendeinem fernen Teil des ehemaligen British Commonwealth, vielleicht aus Indien oder Pakistan. C.G. Hotels steht auf den Servietten. C.G. steht für Covent Garden. Ein älterer hellblauer Rolls-Royce Silver Shadow mit dem Kennzeichen 71 CGC steht ab und zu vor dem Hotel. Der Besitzer?

Ganz links hinten an einer Eck-Sitzbank frühstückt das Personal, manchmal tönt von dort ein Lachen zu mir hinüber. Die Tische sind wacklig. Öfter achte ich nicht darauf, dann gibt es ein mächtiges Fußbad auf der Untertasse.

An diesem Morgen ist der Frühstücksraum bis auf den letzten Platz voll. Viele neue Gesichter, fremde Menschen, zu denen man keine Beziehung hat. Viele junge Leute um die Zwanzig, darunter meist junge Damen, einige in ziemlich aufreizend-ordinär engen Jeans oder Röcken. Man wird auch sie sofort als Touristen erkennen, man wird nichts sagen, sich aber seine Gedanken machen. Die meisten sind Deutsche. Man hört meist südliche Dialekte. Es geht ums Sightseeing und um den Einkauf. Man will was erleben und schicke Klamotten kaufen. Warum nicht. Was hat man schon mit Kultur am Hut, wenn man zwanzig ist.

Nach dem Frühstück buche ich bei Birgit die Oxford Tour, sie kostet 25 Pfund und soll am kommenden Donnerstag, also übermorgen, bereits um 7:40 losgehen und uns auch nach Stratford-on-Avon führen, William Shakespeares Geburtsort.

An odd days, habe ich inzwischen erfahren, gibt es vor dem Buckingham Palace die berühmte Wachablösung. Ich solle per U-Bahn am besten bis Green Park fahren, hat mir Birgit geraten. Die abgewetzte Einkaufstasche mit TCD und Mikro nehme ich mit, als ich mich gegen Zehn auf den Weg mache. Es ist an diesem Morgen außergewöhnlich kalt und windig, am Himmel zeigen sich bedrohliche Wolken. Green Park liegt als Haltestelle am linken unteren Ende der Piccadilly St., etwa 300 m von Fortnum & Mason entfernt. Von hier aus geht, am linken Rand des Green Parks, ein ca. 1 km langer Fußweg Richtung Buckingham Palace. Nach ca. 500 m biegt man rechts ab und geht geradewegs zum Palast. Viele Menschen sind trotz Kälte und Wind dorthin unterwegs. Man hört viele fremde Sprachen. Vor dem Palast ist ein Denkmal, zwischen Denkmal und Palast geht vierspurig in einer langgezogenen Kurve ein sehr lebhafter Verkehr vorbei. Hier ist auch eine Ampel; man muß auf der Hut sein: sobald das Fußgängerzeichen wieder blinkt - und das geschieht schon bald -, fahren die Autos an: ganz gleich, ob die Passanten schon auf der anderen Seite sind oder nicht. Das ist nichts für Behinderte oder alte Menschen. Da hilft manchmal nur noch ein kurzer Spurt.

Eine Stunde vor der eigentlichen Wachablösungs-Prozedur ist der Vorplatz schon fast voll; am Palast-Zaun ist alles dichtgedrängt; keine Chance, noch einen guten Platz zu kriegen. Mittel- und Seiteneingänge werden von berittenen Bobbys freigehalten. Neben mir mehrere ältere Herrschaften mit breitem Amerikanisch, sie kommen aus Dallas/Texas. Beifällig staunt einer der Herren über mein TCD 5; ich möchte fast wetten, daß er nächstes Mal selbst auch eines dabei hat. Japanisch höre ich neben mir, unterbrochen vom üblichen Gekichere, und Portugiesisch. Und immer wieder drängen sich die Frechsten vor, wollen natürlich die Kameralinse zwischen den Zaunstangen haben, um die besten Bilder zu machen. Der Wind ist fürchterlich, trotz Windschutz wird es auf dem Tonband bollern. Man friert und steht die Beine in den Bauch. Irgendwann von rechts Trommeln und schottische Pfeifen; eine Formation zieht in den Innenhof ein. Eine Viertelstunde später von der anderen Seite kräftiger Trompetenklang, eine weitere Musikkapelle rückt ein. Dann wieder langes Warten, fremdsprachiges Geschnatter, vielfaches Verschluß-Klicken, der Kampf um einen windgeschützten, guten Platz, dann heisere, sich überschlagende Kommandos von innen, gefolgt vom Stampfen der Soldatenbeine, und dann schottische Pfeifermusik mit Trommelwirbeln, die ich gern aus der Nähe aufgenommen hätte; doch dazu besteht keine Chance. Ich beneide den Fotografen, der mit seiner großen Tasche ungehindert hineingeht und von einem Torbogen aus seine Bilder macht. Und ich ärgere mich. Warum steht man hier eigentlich herum?

Gegen Mittag tönt hervorragend gespielte Konzertmusik, irgendwas Wienerisch-Walzerhaftes, vom Mitteleingang her. Dort hat sich eine Kapelle im Halbkreis formiert. Aber wieder keine Chance, das vernünftig aufzunehmen, es gibt zu viele Foto-Touristen, denen es nur aufs Bild ankommt, der Ton ist Nebensache, wird durch sinnloses Geschwätz überlagert.

Nach fast zwei Stunden Wartezeit gebe ich auf. Ich bin schon genug durchgefroren. Draußen der Lärm des vorbeifließenden Verkehrs, innen eine andere Welt, da läuft die Operette ab. Wieder ein Kontrast mehr in diesem an Gegensätzen so reichen London.

Meine Schritte führen mich zu Fortnum & Mason. Zartgrün umrandet sind die dezent dekorierten Schaufenster dieses schon 1707 gegründeten vornehmsten Geschäftes von London. Im Erdgeschoß, links neben der Fleischdelikatessen-Theke, ist eine übermannshohe Spieluhr, irgendwann um 1900 in Leipzig erbaut. Ich werfe ein 10-Pence-Stück ein und verewige das zarte Glockenspiel auf meiner Cassette. Gegenüber dem Eingang der Piccadilly St. ist am "Circus", rechts vom "Eros", ein Pizzaland-Restaurant; hier gibt es eine wohlschmeckende Tomato Soup und eine Wholemeal-Pizza aus ungebleichtem Weizenmehl; schwer und nahrhaft ist sie. Im U-Bahn-Tunnel singen und spielen zwei Musikanten. Eines ihrer Lieder, das sie zur Gitarre singen, handelt von Dublin. Fünf Lieder singen sie in mein Mikrofon, zweimal 50 Pence bekommen sie von mir; ich habe ihre Adresse und werde ihnen eine Kopie schicken.

Gegen drei Uhr gelingt es, trotz Wind und starkem Verkehrslärm das Glockenspiel des Big Ben zu erhaschen. In der Westminster Abbey empfängt mich ein gedämpftes Orgelspiel. Das muß ein Choralvorspiel von J.S. BACH sein. Ich entrichte an einem Tischchen rechts von der Orgel brav einen Obolus von 1 Pfund 60 und halte wenig später das Mikro hoch, um Orgelklang und Raumatmosphäre mitzunehmen. Ein hochgewachsener Geistlicher schaut zunächst über die Schulter, erklärt dann "You are not supposed to make any tape recordings in this place", um mir dann zu raten, ich solle weiter nach hinten gehen, um das Ganze "more discretely" zu machen. Also gehe ich zu den Sitzreihen und verhalte mich wirklich unauffällig, um kurz danach die schon abgelaufene Cassette gegen eine andere zu ersetzen.

Eine unfreundliche Frau in den Fünfzigern erscheint, um unmißverständlich ihr Entrüsten über meine Tonaufnahme auszudrücken. Ich wisse doch, sagt sie, daß in dieser Kirche keinerlei Tonaufnahmen gestattet seien: "no tape recording", und ich hätte vom "verger" bereits entsprechende Weisung erhalten. "Clear off at once!" Und: ob ich wirklich abgeschaltet hätte? "You should better go round or say a prayer!" Nun, jetzt wußte ich es. Diese unfreundliche elderly spinster. "I'll tell the verge", hatte sie noch gesagt. Ich hatte die Nase voll. Später, auf dem Wege hinaus, geriet ich noch in eine Führung hinein, ein jüngerer, gutaussehender "Verger" erklärte in makellosem Englisch, das aufzunehmen sich wahrlich gelohnt hätte, die Schätze und den historischen Hintergrund der Abtei. Das war wohl eine der überall draußen und drinnen angezeigten Super Guided Tours, für die in der Abbey nicht weniger als 4 Pfund, also 12 DM, pro Person kassiert werden, zusätzlich zum Eintritts-Obolus von 1 Pfund 60. Für diese umgerechnet zusammen rund 17 DM hätte man ein schon recht nahrhaftes Restaurant-Essen bekommen. Ob es, so könnte man fragen, Jesus Christus recht wäre, wenn man hier, an quasi geweihter Stätte, "geistliche Nahrung" für 17 Mark pro Person und Stunde verkauft?

Als ich gegen halb Fünf zurückkehre, ist die Tür meines Hotelzimmers nur angelehnt. Ein Schock! Was ist passiert? Ich hatte das Zimmer doch sorgfältig verschlossen. Doch nichts fehlt. An der Rezeption erklärt die gleichbleibend freundliche junge Dame ziemlich verlegen, daß es sich um ein Versehen der für die Zimmer-Reinigung zuständigen Dame ("the cleaner") handeln müsse. Sie wolle es dem "housekeeper" melden. Wer zum Teufel ist bzw. war der Housekeeper? Ich bin dann später, voller Frust, in der Nähe der Paddington Station zu einem Wimpy Restaurant gegangen, für 2 Pfund und 5 Pence bekommt man dort ein Chicken-in-a-bun meal, eine Tüte Chips (Pommes frites) und einen heißen Tee. Das hat geschmeckt. Wenn man eine Treppe hinaufging, konnte man oben sogar Video-Clips mit heißer Musik sehen, die auf dem schon abgewetzten Color-TV gezeigt wurden.

Von 19:30 bis 20 Uhr gibt es in BBC 2 ein rein deutschsprachiges Magazin mit Nachrichten und Ausschnitten aus deutschen TV-Sendungen. Im Anschluß an jeden Themenblock werden Kurz-Erläuterungen in makellosem Englisch gegeben, jedoch gelesen von deutschen Sprechern. Das ist das Telejournal.

Nach dem Telefonat mit Marburg, das ich immer auf 1 Pfund begrenze, führt mich mein Weg wieder Richtung Lancaster Gate Station, diesmal zur dortigen Bushaltestelle, wo ich um 21 Uhr pünktlich den roten Doppeldecker besteige zur London By Night Tour von London Transport. Es hat sich nichts geändert: der Preis beträgt nach wie vor 2 Pfund. Oben sind nur wenige Leute. Wie vor 2 Jahren setze ich mich direkt vor die Frontscheibe, von dort aus hat man den besten Ausblick auf das im Lichterglanz erstrahlende London. Diesmal sitzt nicht, wie vor 2 Jahren, die nette junge Dame neben mir mit ihren Walkman-Hörern, mit der ich mich unterhalten hatte.

Mit im Stand laufendem Motor rüttelt und lärmt es mächtig, und kalt ist es hier oben. An diesem Abend ist das Thermometer auf den Gefrierpunkt gesunken. An der Victoria Bus Station werden die letzten Fahrgäste eingeladen. Schritte, Fußgetrappel, dann wird die Treppe hinaufgestapft. Aus dem Lautsprecher ein lautes Brummen und dann die etwas heisere Stimme des Fahrers. "I am not what people would call a London pocket guide but only an underpaid british driver." Er wolle die Gelegenheit nutzen, uns während der Fahrt in kurzweiliger Form das Gesehene zu erläutern. Schade, daß ich an diesem Abend das TCD nicht dabei habe, es hätte sich gelohnt - trotz aller technischer Unzulänglichkeit, denn von einem Reiseführer habe ich eine derartige Menge witziger Informationen noch nie gehört.

Naturgemäß bevorzugt jeder Reiseführer besondere Themen und Aspekte. Unser Busfahrer erwähnt mit Vorliebe jene Herrscher und sonstigen Notablen, die entweder vor oder nach Vollendung des Bauwerks, mit dem sie historisch verknüpft waren, durch das Beil hingerichtet wurden. Die Engländer, so meint er, hätten eine Eigenart: erst jemanden ein berühmtes Bauwerk errichten zu lassen und ihn dann zu köpfen. "Unfortunately he did not see this building being finished as he was beheaded ...". Was da vor uns wie ein Gefängnis aussehe, meint er, sei in Wirklichkeit der spärlich beleuchtete Buckingham Palace. Unter derlei Kommentaren vergeht eine recht lange, doch andererseits kurzweilige Zeit, bis wir nach nicht weniger als eindreiviertel Stunden, also etwa um 22:45, zur besagten Haltestelle am Lancaster Gate zurückkehren. Ich bin an diesem Abend mit Schüttelfrost zum Hotel zurückgeeilt; wenig später, unter der dünnen, doch schützenden Wolldecke, konnte ich nur noch hoffen, am nächsten Morgen nicht mit einer Erkältung aufzuwachen. "London By Night" hatte zwei Jahre zuvor nur etwa eine Stunde gedauert.

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Derselbe blaue Himmel, der uns am Vortag verwöhnt hat, erstrahlt auch am Mittwoch, dem 2. März, als ich gegen 10 Uhr per U-Bahn bis zum Embankment eile, um von dort aus wie vor 2 Jahren meinen Uferspaziergang anzutreten. Es ist nicht mehr ganz so kalt wie gestern, doch noch ziemlich windig. Ich scheitere beim Versuch, wie vor 2 Jahren im Institut anzurufen: dort ist pausenlos besetzt. Da ich Urlaub habe, sehe ich nicht ein, warum ich meine Energie weiterhin auf diesen dienstlichen Bereich verschwenden sollte, und gehe zügig weiter, bis ich nach eineinhalb Stunden genug habe. Wieder bin ich bis zur Tower Bridge gekommen, habe mich zuvor im Bereich von Blackfriars, bei den Fishmongers' Halls aufgehalten: hier endet das begehbare Ufer in einzelnen Hinterhöfen, der Fußgänger muß sich in das ziemlich triste Handelsviertel zurückziehen oder aufs andere Ufer überwechseln. Hier liegt auch eine kleine Kirche, an der eine Gedenktafel an Dick Whittington erinnert, den einstigen Lord Mayor von London.

Nach einem Wendy Lunch bringt mich die U-Bahn nach Charing Cross, ich betrete St. Martin-in-the-Fields und erkundige mich, einen Tag nach dem Westminster-Abbey-Debakel, bei einem freundlichen Herrn, ob man die dort stattfindenden Lunchtime Concerts privat mitschneiden könne. dagegen würden wohl keine Einwände bestehen, meint er, es könne höchstens sein, daß die betreffenden Künstler "would strategically place you in front" - das könnte mir nur recht sein!

Beim Verlassen der Charing Cross Station wird man bereits durch Schilder auf die Kirche verwiesen. Berühmt wurde sie durch ihr Kammerorchester, die "Academy", und ihren Dirigenten, Sir Neville Marriner. Das Ensemble hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche Platten eingespielt.

Man überquert eine ampelgeregelte Straße und ist schon an der Rückseite, wo sich ein schmaler Marktstreifen befindet. St. Martin hat etwa die Abmessungen der Bad Hersfelder Stadtkirche, doch nur eine bescheidene Orgel (die demnächst durch eine neue ersetzt werden soll). Vor dem Portal befindet sich eine überdachte Säulengruppe. Auf einer Tafel lese ich irgendetwas von einem Restaurant in der Kirche, das offen sein soll; ich muß mehrmals hinsehen. Ein Restaurant in einer Kirche? Ich finde es heute nicht, später soll es mir vertraut werden. Meine Aufmerksamkeit gilt eher dem Kircheninneren. recht bescheiden wirkt dieser anglikanische Bau; schmucklos das Kirchenschiff, doch nicht ohne Atmosphäre. Aha, vorn links ein Flügel: der wird vermutlich zu Konzerten benutzt. Kommenden Montag und Dienstag werde ich Gelegenheit haben, diese zu besuchen und sie vielleicht auf Band festzuhalten.

Hinter dem Altar, in der bescheidenen Apsis, die englische Nationalflagge und weitere Fahnen. Rechts und links sakristeiähnliche Räume. Ein paar Stadtstreicher hocken zusammengekauert rechts und links am Rande des Kirchenschiffes, haben Zuflucht gefunden, um den Tag zu verschlafen. Mehrere Tafeln weisen darauf hin, daß der Unterhalt der Kirche pro Tag 400 Pfund koste: "Can anyone help?"

Links neben dem Haupteingang ist ein weiterer, kleinerer, hier sitzt ein Mann in selbstgezimmertem Drahtverhau, um eine mehr als 40tägige Mahnwache abzuhalten für Vasilij Shipilov, einen 60jährigen Russen, der seit seiner Jugend festgehalten wird in psychiatrischen Anstalten der UdSSR. Ich gehe hinein, unterzeichne, trage Namen und Adresse in die ausliegende Liste. Der Mann dankt.

Am Nachmittag fahre ich mit der 36 nach Lambeth und zurück. Mir als Touristen macht es Spaß; die Arbeiter neben mir auf dem Oberdeck wirken abgestumpft. links neben mir schneuzt sich ein ziemlich abgerissener Mensch mehrmals in ein Stück Einpackpapier; er kann sich den Luxus von Papiertaschentüchern vielleicht nicht leisten.

Lambeth wirkt wenig attraktiv - dahin ist der Reiz der Metropole. Wäre ich noch ein wenig weiter gefahren, so hätte ich irgendwann links von mir die Aufschrift MONTAGUE ARMS erblickt. Statt dessen ziehe ich es vor, im Hotel auszuruhen.

Gegen 16:10 kann ich in BBC 2 Mrs. Thatcher bewundern, die anläßlich ihres 60. Geburtstages ein Interview gibt in makellosem Englisch, ich schneide es mit vom Kopfhörer-Ausgang des TVs. Maggie Thatcher zeigt sich als durch und durch kultivierte Frau, rezitiert am Ende gar ihr Lieblingsgedicht, interpretiert es: wie hätte das wohl aus dem Munde Helmut Kohls geklungen?

Man hat an einsamen kalten Abenden sicher nicht immer Lust und Geld, luxuriöse Restaurants aufzusuchen; an diesem Abend ist auch das bescheidene Hotel-Restaurant (wieder einmal) geschlossen. Also gibt es wieder Fast Food und, zum Mit-nach-Hause-Nehmen, das obligatorische Tonic Water, es enthält zwar "Quinne" (Chinin), doch ist das, denke ich, gerade gut gegen Erkältung.

Gegen neun stehe ich vor dem Wimpy in Paddington; vorbei hasten Busse verschiedener Linien. Viele 36er sind es, sie fahren bis in die Nacht hinein. Mich interessiert die 15. TO THE TOWER steht auf gelbem Feld. An der zugigen Haltestelle wartet schon lang ein junges Paar; ein Reklameschild rotiert im Wind. Endlich die 15: oben genieße ich ein kostenloses London By Night, vorbei an Selfridges und anderen großen Kaufhäusern, über die Regent Street vorbei am Piccadilly Circus und schließlich auch an der Tower Bridge; hier hätte ich aussteigen sollen, doch schließlich geht es hinein in immer stillere, bescheidene Straßen, immer häufiger kommen Hinweise auf den London City Airport ...

Ich bin auf einer Ausfallstraße gelandet. Der Busschaffner zeigt mir, wo ich aussteigen und eine Gegen-Haltestelle finden kann. Ziemlich frustriert warte ich auf die Gegen-15. Wieder fahren einige 36er und andere Linien vorbei, in beiden Richtungen, und beachtlich viele 15er folgen meinem letzten Bus. Da scheint irgendetwas nicht zu stimmen. Dann endlich eine 15 Richtung TOWER. Sie ist fast leer. Direkt hinter der Tower Bridge hält der Bus in einer Art Hof, neben anderen Bussen. Oben bin ich allein auf weiter Flur. Unten das Scharren und Trappeln von Schuhen; Stimmen; jemand steigt aus, eine Tür schlägt zu, draußen Gespräche von Fahrern. Ich scheine nicht zu existieren. Man sagt mir draußen, der Bus habe die Endstation, das Depot, erreicht. Da stehe ich nun um halb Elf. und habe für die kurze Rückfahrt zudem noch 30 p Overpay entrichtet. Die laute, schmutzige U-Bahn bringt mich zurück.

Meine Travelcard umfaßt die Zonen 1 und 2, Central und Inner London. Da ist es keine Schande, in diesem riesigen Areal auch mal in die Irre zu fahren.

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Am Donnerstag heißt es früh aufstehen, kurz nach Sieben bin ich unten im Frühstücksraum, die fertig gepackte, mit allem Nötigen, auch Aufnahmegerät, versehene Tasche neben mir. An einem gegenüberliegenden Tisch sitzt eine etwa 40jährige Dame mit kurzer, leicht gewellter Frisur. Auch sie, erfahre ich später oben, will die Oxford-Tour mitmachen, hofft auf einen freien Platz. Wenn Sie keinen bekommen, trete ich Ihnen meine Karte ab, ich kann ja eine Woche später mitfahren, sage ich. Doch, als wir kurz vor Acht starten, ist noch genug Platz, wir sitzen nebeneinander. Die Reiseführerin kommt mir bekannt vor: dieselbe etwas kehlig-rauhe, doch äußerst vornehm klingende Stimme wie vor zwei Jahren; als "Sonja" stellt sie sich vor, eine Dame von etwa fünfzig Jahren. Genau. Sie hat uns damals nach Windsor geführt, war damals auch so begeistert von den englischen Adelsfamilien und ihren alten Besitzungen. Brian, der Fahrer, steuert den modernen Bus souverän durch die belebten Straßen; nachdem alle Hotels bedient sind, dauert es rund zwanzig Minuten, bis wir London hinter uns lassen.

Wolkenverhangen ist der Himmel. Es gießt wie aus Eimern. Die vier Scheibenwischer (zwei oben, zwei unten auf der waagerecht geteilten Frontscheibe) haben viel zu tun. Zwischendurch läßt der Regen etwas nach. Sonja vermittelt Optimismus. Erzählt von englischer Lebensart, von den alten Familien und ihren ausgedehnten, doch im Unterhalt so schwer finanzierbaren Besitzungen, berichtet über die Unterschiede zwischen Staats- und Privatschulen. 20 Minuten vor Oxford machen wir einen "technischen Halt". An einem großen Parkplatz liegt ein niedriges, langgestrecktes Gebäude. WCs sind hier zu finden, auch eine "Bar". Im Inneren eine dunkelrote Plüsch-Atmosphäre. Die Zeit reicht für einen Kaffee und etwas Gebackenes. Sonja nutzt die restliche Bus-Zeit, um über Oxford, seine Geschichte, seine Colleges zu erzählen. Die im 13. Jahrhundert gegründete Universität besitzt 40 Colleges. das älteste, University College, entstand 1249. Wir werden eines der ältesten, vornehmsten besuchen, Christchurch. Oxford hat rund 200.000 Einwohner, auch hier fahren rote Doppeldecker. Es regnet noch leicht. Überall ehrwürdige Gebäude. Wir betreten einen weiten Innenhof, passieren einen Pförtner, der uns leicht indigniert nachblickt.

Der Speisesaal von Christchurch liegt im ersten Stock. Zwei lange Tischreihen und oben, erhöht, eine kürzere Quer-Reihe. Sie ist besonders vornehm eingedeckt, mit Servietten, Weingläsern, gutem Besteck. Hier sitzen die älteren Dons, die angesehensten Professoren. Weiter unten, erklärt Sonja, sitzen die jüngeren Dons. Sie haben immerhin noch Servietten, während sich die Studenten mit Wassergläsern und Teller begnügen müssen. Eine dreigeteilte Apartheid. An den Wänden reihen sich die Porträts der berühmten College-Studenten, die es zu großen Gelehrten und Staatsmännern gebracht haben. Ich empfinde unsere Gruppe als Eindringlinge. Wir stören hier doch! Die wenigen Bediensteten jedoch, die zwischen uns geschäftig herumlaufen, scheinen uns gar nicht zu bemerken.

Im Innenhof fällt der Blick auf recht triste Gebäude, hier hausen die Studenten. An den Wänden, neben den Eingängen, in säuberlicher Kreideschrift, Siegesmeldungen über gewonnene Regatten. Hinter uns ein Gebäude mit größeren Fenstern, wir erkennen hohe Bücherregale. Dann betreten wir eine große Kirche. Es ist die College-Kirche. Das verwundert. Ein College mit 400 Studenten und eine so große Kirche? Es gebe Colleges, erklärt Sonja, die sich noch größere Kirchen leisten könnten. In diesem Augenblick denke ich an die Marburger Universitätskirche. Sicher ein ähnlicher Fall.

Wenig später betreten wir einen anderen großen Innenhof. Vor uns die berühmte Bodleyan Library. Hier liegen die ältesten Handschriften der englischen Sprach- und Literaturgeschichte, darunter ein Original der Magna Charta von 1215. Wir haben nur wenig Zeit für das Gebäude. Im Buchladen der Library wird ziemlich viel Kitsch angeboten. Dann geht es weiter nach Stratford. Unterwegs zähfließender Verkehr, Stau an einer Baustelle. Es ist Eins, als wir ankommen. Für einen Rundgang bleibt wenig Zeit, deshalb marschieren wir stracks zu William (oder, wie Sonja immer sagt: Wilhelm) Shakespeares Geburtshaus. Daneben steht Ann Hathaway's Cottage, Shakespeare baute es für seine - acht Jahre ältere - Frau (er heiratete sie 1582, hatte mit ihr 3 Kinder, ging 1586, mit nur 22 Jahren, nach London und siedelte erst 1611 nach Stratford über, wo er am 23.4.1616 starb). Shakespeare sei in seiner stürmischen und drangvollen Zeit fast nie in Stratford gewesen, hatte uns Sonja erzählt.

Die beiden Häuser haben nichts Bewundernswürdiges. Sie gleichen kleinen Dorfmuseen. Man geht über knarrende Böden, schiebt sich hindurch, weiß eigentlich nicht, warum. Es gibt Bilder, Dokumente, sie zu studieren ist keine Zeit. Aber ins Besucherbuch trägt man sich ein. Ich bin müde, meine Schrift ist krackelig. Darunter steht in einfachem Duktus der Name meiner Begleiterin. Sie lebt mit ihrer Familie in Heidelberg, ihr Mann ist gelernter Schriftsetzer, hat sich zum Mitinhaber eines mittelständischen Betriebes hochgearbeitet. Er hat einen Mercedes als Dienstwagen. Sie haben ihn in Untertürkheim abgeholt, sich das Daimler-Museum angeschaut. Frau L. hat einen Sohn, der Klavier spielt. Er ist elf. Durch ihn hat sie gelernt, auf musikalische Feinheiten zu achten. Ein weiterer Sohn ist vierzehn. Sie sei Jahrgang 44, sagt sie, gelernte Steuerberatergehilfin. Nebenher lerne sie Französisch an der VHS. Sie habe ein paar Jahre Englisch gehabt, fast alles verlernt, aber das komme jetzt wieder, wenn sie es sprechen müsse. Für vier Tage sei sie in London, morgen gehe es wieder zurück. Das aber habe gereicht, um etwas Distanz zu gewinnen. Eine ruhige, angenehme Ausstrahlung hat meine Nachbarin.

Wenig später betritt unsere Busgesellschaft ein niedriges, außen eingerüstetes Gebäude. Es ist das Shakespeare Hotel, zur Trusthouse-Forte-Gruppe gehörend. Draußen ahnt man nicht das sehr dezent-vornehme Interieur. Das ist, nach englischen Maßstäben, Luxusklasse. Entsprechend hoch sind, wie der Prospekt lehrt, die Übernachtungspreise. Hier sollen wir unser Dinner bekommen.

Auf dem Wege zum Hotel hatte sich Stratford überraschenderweise von seiner sonnigen Seite gezeigt. Wir hatten ein unverschämtes Glück gehabt. Stratford sieht verträumt aus; hier würde man gern Urlaub machen, so wie in Henley-upon-Thames, wo wir durchgefahren waren. Im Sommer werden beide Städtchen zu Touristenzentren, mit Shakespeare-Festspielen in Stratford und den berühmten Regatten in Henley. Alles wird dann unverschämt teuer, und die Briten zeigen einmal mehr die einnehmende Seite ihres Wesens.

Hinten rechts, unter dezentem Licht, hat man für uns mehrere Tische gedeckt: liebevolle Arrangements, ganz anders als bei der primitiv-lieblosen Abspeisung zu Beginn der Pub Tour. Ein Three Course Dinner sollen wir erhalten, jeder der drei Gänge bietet eine Auswahl. Die größtenteils französischen Bezeichnungen klingen nach hohem Anspruch, doch haben die bereits mit englischer Küche gemachten Erfahrungen Skepsis aufkommen lassen. Doch diese ist in unserem Fall unangebracht. Wir werden verwöhnt, vom Hors d'oeuvre bis zum Dessert. Meine Nachbarin und ich wählen Mousse au chocolat: eine Kalorienbombe. Es bleibt viel Zeit zu geruhsamem Essen und Gespräch. Mir gegenüber sitzt ein junger Mann, Schweizer Student, er wohnt im Londoner INVERNESS COURT, das neuerdings auch von JET angeboten wird. Bei 'Inverness' denke ich an meinen Klassenlehrer und wie er immer von der Jugendherberge dort erzählt hat, wo es so schauerlich primitiv gewesen sei. Einen Walkman mit Dolby will sich der junge Mann in London kaufen: Grund für mich, ihm Tips zu geben. Am linken Nebentisch breitet sich Wiener Dialekt aus. Ein kahlköpfiger Herr in den Sechzigern, dem man dies nicht zugetraut hätte, berichtet in wohlgesetzter Rede von einem Theaterbesuch in London. Er habe sich die Montagsvorstellung angesehen. da habe es sprachliche Unterschiede gegeben: die Diener hätten in dem Stück Dialekt gesprochen, die Herrschaft Hoch-Englisch.

Nach diesem kulinarisch-gastronomischen Höhepunkt schlendern wir zum Bus zurück. Stratford ist wirklich eine Kleinstadt. Vorn müssen wir links abbiegen, dann sind es noch fünf Minuten bis zum Busparkplatz, wo wir nicht die einzigen sind. Ein letzter Blick auf das verträumte Städtchen, dann schaukeln wir wieder sanft über die schmale Straße. Schwarzgrau färbt sich der Himmel. Regen peitscht gegen die Frontscheibe, Hagelkörner darunter. Die vier Wischer kommen kaum nach. Auf direkterem Kurs umfahren wir Oxford, erreichen gegen Sechs die Peripherie von Groß-London. Vorn, beim Fahrer, läßt sich eine Tonfolge und dann ein schnelles Piepen vernehmen. Er wird per Selektivruf angefunkt von der Zentrale: bereits der nächste Auftrag. Das Busfahrerleben ist hart, genau wie in Deutschland.

Um halb Sieben setzen wir die ersten Leute ab, in einer eleganten Villen-Allee, Holland Park. Sonia Park, unserer registered guide, verspreche ich eine Cassette; über einen Kurier wird sie sie erhalten. Auch Frau L., meine Nachbarin, soll eine Aufmerksamkeit bekommen, meine letzte Mozart-Cassette. Es ist kurz vor Sieben, als sie zusammen mit ihrer Nichte an der Rezeption erscheint, sie in Empfang zu nehmen. Ein höflicher Händedruck. Auf Wiedersehen und alles Gute. Verlegenheit oder formelle Distanz. Die beiden verschwinden im Aufzug. Müde bin ich an diesem Abend, gehe bald darauf zu Bett; in einer unruhigen Nacht hat das Gehirn viel damit zu tun, alle vielfältig-schönen Eindrücke des Vortags zu verarbeiten.

***

Vieles ist mir in der langen Nacht durch den Kopf gegangen, unbewußt wurde der lange Exkursionstag Schritt für Schritt nachbereitet, vielleicht verglichen mit jenen unvergeßlichen Ferienkurs-Fahrten der Jahre 1977 bis 1981 und dann wiederum 1986, die mir so viel gegeben hatten.

Ausgeruhtes Erwachen: ein nach langer Zeit ungewohntes Gefühl, Erinnerung an eine Studentenzeit, die mir ab und zu ein langes Ausschlafen ermöglicht hatte. Die U-Bahn bringt mich an diesem Freitagmorgen zum Oxford Circus, dort steige ich in die Central Line, verlasse sie in der Tottenham Court Station, von wo es rund zehn Minuten Fußweg sind bis zum British Museum, das zu besuchen ich mir gestern vorgenommen habe: nicht nur meine Frau, auch andere haben mir eingeschärft, das Museum sei für Londonreisende ein unbedingtes Muß. Ich hatte als Schüler des öfteren darüber gelesen, mir aber immer vorgestellt, dieser große Museumskomplex sei gewiß nicht zu vergleichen mit dem von mir favorisierten Deutschen Museum in München.

Sonnig und kühl ist es; neben mir an der Straßenecke eine junge Japanerin, auch sie orientiert sich am Stadtplan. Doch es geht nicht ohne Fragen. "Turn left, and you will be in front of it."

Das Museum erscheint, eingepfercht zwischen den Häuserblocks, so daß man es tatsächlich erst dann erkennt, wenn man sehr nah davorsteht. Durch den recht schmalen Eingang, an einem Pförtner vorbei, betrete ich einen weiten Hof, das große Gebäude liegt vor mir. In der Mitte eine alte Kanone, daneben farbenfrohe Werbung für die Sonder-Ausstellung SÜLEYMAN THE MAGNIFICENT. Wenige Tage später werde ich in BBC 2 einen Film über diesen mittelalterlichen Herrscher sehen, der Pracht und Kunst an seinem Hof entfaltete und in seiner Art wohl einzig war. Seine Söhne zerstritten sich um das Erbe, wie oft (nicht nur) in Herrscherhäusern.

Auf der breiten Treppe lungern Schüler herum. Durch das hohe Portal betrete ich ein geräumiges Foyer. Uniformierte Wärter an den Seiten. Hinten breite Treppen, die zum ersten Stock hinaufführen. Links der Eingang eines langgestreckten Book Shops, in dem ich für 1 Pfund 50 einen englischsprachigen Führer erwerbe. Der Aufzug bringt mich hinauf. Ein schwarzer Diener fragt, ob ich dort, im 1. Stock, die Glass Exhibition besuchen wolle. Tatsächlich ist die Glas-Kunst das erste, was ich an Exponaten sehe. Ein abgedunkelter Raum mit dezent beleuchteten Vitrinen. Nur wenige Besucher. Die Orientierung ist zunächst nicht einfach, genau wie im Deutschen Museum, und man will ja nicht immer mit der aufgeschlagenen Broschüre herumlaufen. Dieses Museum verlangt viel Zeit, das spürt man sofort.

Im ersten Stock gibt es viele Räume mit kulturgeschichtlichen und archäologischen Exponaten. Jede Vitrine ist liebevoll ausgestaltet, jedes Ausstellungsstück mit wissenschaftlicher Akribie beschriftet und erklärt. Vor einer Vitrine in gebückter Haltung eine Studentin, sie schreibt fleißig Daten auf einen Block. Man weiß nicht, was man zuerst anschauen soll. Fast kaum vorstellbar, wie vollkommen Schmuck und Gebrauchsgegenstände schon vor zweitausend Jahren waren, welche feinstrukturierten Münzen schon damals geprägt wurden. das Gold jahrtausendealter Schmuckstücke erstrahlt in neuem Glanz. Die Räume sind weitläufig; Besucher haben viel Platz.

Die Exponate reichen bis mindestens in das dritte vorchristliche Jahrtausend zurück, bis zu den Babyloniern und Assyrern. In einem Raum reiht sich Mumie an Mumie, manche stehend, manche liegend, noch im hölzernen Sarkophag. Von den meisten hat man Röntgenaufnahmen gemacht: die Skelette sind klar zu erkennen. Jede Mumie ist genauestens beschrieben. Ein leichter Ekel befällt mich. Verstärkt wird er beim Anblick einer Art Moorleiche, viele hundert Jahre alt. Gekrümmt liegt der Mann unter einer dicken Glasscheibe. "Oh, disgusting", kommentieren vorübergehende Schulkinder.

Nach eineinhalb Stunden bin ich schon ziemlich erschöpft; in den Räumen ist die übliche Museumsluft. Dann fällt mein Blick auf kleine Tafeln und Steine; in sie sind viele längliche Kerben eingemeißelt, manche nur wenige Millimeter lang; es sind Keilschrift-Tafeln: Erzählungen, Gesetzestexte, Güterverzeichnisse. In entsagungsvoller Kleinarbeit enträtselt, geben sie unschätzbar wichtige Auskünfte über Geschichte und Politik allzuferner Epochen. Andere Tafeln enthalten Hieroglyphen, die altägyptische Bilderschrift.

Unten, in der weiträumigen British Library, findet sich ein Exemplar der Magna Charta. Unweit davon eine Vitrine mit Autographen von HAYDNs London Symphonies und eine mit Schriftzeugnissen der jungen Beatles, alles in friedlicher Eintracht. Viele prächtige illuminierte Handschriften und Frühdrucke, alles nach Epochen und Kulturströmungen geordnet. Zwei junge Wärterinnen eilen mit lauten Schritten über das Parkett, eine Tür fallt knallend zu. Unten im Foyer eine Gruppe ziemlich lauter, unartiger Schüler.

Gegen Zwölf habe ich (leider) genug von diesem Museum. Zu viel Antikes, zu viel Geschichte, zu viel Belehrung. Vielleicht ist es der Uni-Geruch, den ich abschütteln will. Ich mache doch schließlich Urlaub. Schade, daß ich nach knapp zwei Stunden schon gehe, doch kann ich nicht anders, bin müde. Draußen, am Hofausgang, frage ich einen alten Wärter, wo es zum Imperial War Museum gehe. Der scheint ein wenig fassungslos, antwortet jedoch nach kurzem Zögern und etwas unwillig, ich solle die Buslinie 68 nehmen, Richtung Lambeth North, und dann vielleicht nochmal fragen.

Zwei Minuten später sitze ich in der 68, schaukle im Oberdeck durch belebte Straßen. In Lambeth zeigt mir ein freundlicher Herr den Weg; es sind nur noch zwei Straßen. Stimmt, da ist schon der schmale King Edward Walk, er kreuzt eine breite Straße, an deren rechtem hinterem Ende ein längliches großes Gebäude liegt. Davor eine der vielen Londoner Baustellen.

Ein schnurgerader, breiter Weg führt zum Portal. In seiner Mitte eine Art Vorplatz, hier droht ein ungeheuer langes, weites Kanonenrohr: ein Schiffsgeschütz, wie es die schweren Schlachtkreuzer trugen, die im Ersten und auch noch im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurden. Daneben ein paar Granatenhülsen. Man stelle sich vor: einen mit dickem Panzerstahl verkleideten Turm, aus dem zwei oder drei solcher mehrere Tonnen schwere Geschütze ragen, dann ein gewaltiges Krachen, ein langer Feuerschweif aus dem Rohr heraus, innen im Turm Hitze und Gestank, schweißtriefende Kanoniere laden nach, richten die Geschütze neu ein, mit dunklem Klick fällt der Verschluß zu, wird gesichert, und dann wieder ein ohrenbetäubendes Krachen. Technik und Material en masse verschleudert für Tod und Zerstörung. Stählerne Orgien für Kaiser und König. Blut, Tränen, sinnloses Fragen nach dem Warum. Man solle am Rohr nicht herumklettern, rät ein Hinweisschild. Das Museum übernehme keine Verantwortung.

Das Foyer ist klein. Rechts eine Garderobe, ein Wärter schaut in meine Handtasche; in Ordnung, ich kann Tasche und Mantel mit hineinnehmen. Ungern gebe ich meine Sachen in Garderoben ab.

Das Museum ist wie ein Labyrinth. Mann kann nur in einer Richtung gehen. Der Gang windet sich kunstvoll wie ein menschlicher Verdauungstrakt. Das Ganze beginnt bei den Ursprüngen des Ersten Weltkrieges und endet bei den regional conflicts after 1945. Hinter Glas prächtige Offiziersuniformen, darunter die eines deutschen Generals mit Pickelhaube. Erste Feldtelefone und Funkgeräte aus der Kaiserzeit. Dioramen mit akustisch vermitteltem Schlachtgetümmel. Ausrüstungsgegenstände aus Schiffen und Flugzeugen. Cockpit und Navigationsraum aus einer originalen Lancaster I. Vorn unten, in unbeschreiblicher Enge, liegt der Bombenschütze. Hinter dem engen Pilotensitz ein Durchgang zum Navigator; er verfügt schon über das sogenannte H2S-Radar (so genannt wegen seines Geruchs), auf dessen Bildschirm sich die Topographie des Feindgebietes abzeichnet; über sich hat der Navigator eine Plexiglaskuppel, so daß er auch per Sixtant navigieren kann. Klein ist der Querschnitt des Bomber-Rumpfs, verglichen mit heutigen Flugzeugen. Doch war gerade diese Lancaster mit ihren vier Rolls-Royce-Merlin-Motoren, ihrem charakteristischen Doppel-Leitwerk und dem bemannten Kampfstand am Heck eines der gefürchtetsten Flugzeuge des letzten Krieges, nicht zuletzt wegen des Radars, das ihm ermöglichte, auch und vor allem nachts zielsicher bis Berlin durchzufliegen und dort seine tödliche Bombenlast abzuladen. Lancasters waren auch maßgeblich beteiligt an der Zerstörung Dresdens.

Schon im Ersten Weltkrieg arbeitete man übrigens von englischer Seite aus am Konzept der Strategischen Bomber. Handley Page brachte damals den riesengroßen Doppeldecker 0/100, verbessert als 0/400, heraus, er konnte bereits 800 kg an Bomben mitführen, und die viermotorige V/1500 sollte am Ende des Krieges bis Berlin fliegen und dort tonnenschwere Bomben abwerfen, wozu es jedoch nicht mehr kam.

In zahllosen Vitrinen Fotos, Flugzeugmodelle, Waffen, alles sorgfältig kommentiert. Um mich herum Kinderstimmen: mehrere Gruppen von Sieben- bis Achtjährigen, jedes der Schulkinder hält ein Klemmbrett mit einem Fragebogen: eine Art Quiz. Welches war der Unterschied zwischen der V 1 und der V 2? Bei uns in Deutschland wäre so etwas undenkbar. Haben wir überhaupt ein Kriegsmuseum? Und: was würden unsere Linken, ja auch unser distinguierter Bundespräsident sagen, würde man solche Schulkinder in ein Kriegsmuseum schicken?

Neben mir eine Gruppe älterer Menschen. Man spricht Dänisch. ich fühle mich unbehaglich, als einziger Deutscher. Die deutsche Vergangenheit wird hier abgehandelt. England war tapfer und glorreich in beiden Kriegen; England: das Opfer. Heroisch haben sich die britischen Menschen aufgerafft, um Hitler zu trotzen, um die von ihm geplante Invasion (Operation Seelöwe) zu verhindern, um die Luftschlacht um England (Sommer/Herbst 1940) zu gewinnen. Jedes britische Exponat, und sei es nur die zerschossene Flügelspitze einer Spitfire, atmet diesen Geist. Die deutschen Exponate werden recht neutral behandelt, besonders die aus dem Ersten Weltkrieg. Die Erklärungen halten sich an technische Sachlichkeit. Auch mit Hitler geht man zunächst recht sachlich um, bis man zum Schluß auf seinen Wahnsinn hinweist. Da ist, in einer Vitrine, auf zwei maschinenschriftlichen Seiten (die rechte aber in Durchschrift!) das angebliche Original von Hitlers Letztem Willen, abgefaßt unmittelbar vor Hitlers und Eva Brauns Freitod im Berliner Führerbunker. Daneben das aufgeschlagene Dienst-Tagebuch aus den letzten Wochen. Am späten Morgen Wecken, Frühstück, dann immer wieder Lage- und sonstige Besprechungen mit den engsten Vertrauten bis in die späte Nacht hinein. Wer diese Handschrift liest, fühlt Betroffenheit. Das waren Menschen am Ende eines Weges ohne Rückkehr, am Ende eines Lebens, das zur Lüge verkommen war. Um sie herum alles zerstört, Rauch, Bombenkrater, Leichen. Vereinzelt das Bellen einer PAK, die die mit quietschenden Ketten sich durch Geröll fressenden Sowjetpanzer abzuwehren suchte. Zeilen, mit noch sicherer Hand geschrieben. Soldaten, bis zum Schluß. Nicht alles Verbrecher. Was mögen sie gefühlt haben an den letzten Tagen, in den letzten Stunden?

In einer anderen, bescheidenen Vitrine Zeugnisse und Informationen zum Thema Konzentrationslager, vorwiegend aus Bergen-Belsen. Ein Telefonhörer, den niemand abnimmt, soll weitere akustische Information geben.

Nach zwei Stunden War Museum zieht es mich zurück zum Trafalgar Square; es ist halb Drei, als ich ein wohlverdientes Lunch zu mir nehme in einem anderen Pizzaland: hier kann man an einer Theke verschiedene Pizza-Tortenstücke aussuchen, zusammen mit dem kleinen Side Salad und Trinkgeld macht das Ganze 5 Pfund 45. The Theken-Mädchen kommen augenscheinlich aus Südamerika (oder Cuba?), Indien, Südostasien, ein reizvolles Nebeneinander. Neben mir ein schlanker, schwarzhaariger Herr im Nadelstreifenanzug, in seiner Linken ein Telefonhörer mit kurzer Antenne; drahtlos *) telefoniert er beim Essen, steckt dann den Hörer zurück in ein elegantes, unauffälliges schwarzes Etui, das er später unter den Arm klemmt, als er zahlt. Ich denke an die Yuppies (Young Upward Professionals), von denen uns die London-Transport-Führerin erzählt hatte, als wir an der fensterlosen Bank of England vorüberfuhren.
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*) diese Technologie und der Begriff Handy waren damals (1988) in Deutschland noch weithin unbekannt (WN 6.4.99)

Draußen, am Trafalgar Square, sehe ich einen anderen Mann, er telefoniert fast im Laufschritt. Es ist gegen 3 Uhr. Der Verkehr stockt. Im Nu haben sich, zwischen zwei roten Bussen eingekeilt, an die dreißig schwarze Taxis eingefunden, man denkt an ein Wespennest. Nichts geht mehr. Motorenlärm, quietschende Bremsen, dazwischen Hupkonzerte. Es hat keinen Zweck, jetzt Bus zu fahren. Ich vertrete mir die Beine.

Am Wege zum Admiralty Arch liegt links das kleine Büro von Davies & Newman, dieser Gesellschaft gehört auch die DAN AIR, die mich nach London brachte. Durch den St. James's Park gehe ich zum Buckingham Palace, der mangels Touristen jetzt wie verlassen erscheint; mein Rückweg endet vor dem riesigen Rückhof eines Gebäudes, ich höre Pferdegetrappel: die Queen's Horse Guards haben Wachablösung. Links vor mir ein riesiges Gebäude mit mehreren kleinen Funkantennen und einem großen Kurzwellen-Dipol. Das ist die Admiralty, erklärt ein Polizist. Ohne es zu wissen, bin ich nur etwa zweihundert Meter von Downing Street No. 10 entfernt gewesen. Aber es ist kalt, und ich bin müde, ich bin froh, wieder am Trafalgar Square zu sein, die 15 soll mich nach Paddington zurückbringen. Ich kenne mich jetzt ein wenig besser aus. Über die gewundene Treppe bin ich zum Oberdeck hinaufgestiegen, habe mir dort oben den Kopf an der niedrigen Decke gestoßen, mir im ratternden, schwankenden Gefährt den begehrten Platz rechts vorn erkämpft.

Der Bus schwimmt brummend und zitternd durch einen Strom von Blech. Ab und zu stapft es die Treppe hoch. "Any Fares?" die Stimme der Schaffnerin. Die ticket machine ratscht entsetzlich. Wieder stehen wir, fahren kurz an, bremsen nach einer Sekunde, ich knalle fast vor die Scheibe. Der Bus hat einem quer fahrenden Taxi Platz gemacht. Geduld. Man ist ja im Urlaub. Aber schlimm, wenn man jetzt einen Termin hätte. Aber dann würde man ja mit der U-Bahn fahren oder, wenn man Lärm und Dreck verabscheute, mit einem der vielen tausend Taxis. Die meisten sind schwarz, nur wenige rot oder gar beige. Alle sehen gleich aus; vorn die Sitzbank des Fahrers mit dem obligatorischen Feuerlöscher; die meisten sind mit Funk ausgerüstet, manche haben sogar insgesamt drei Antennen, neben der Radioantenne noch zwei kleine Stäbchen auf dem Buckel in der Mitte des vorderen Daches. Der Fahrgastraum ist hermetisch abgeteilt. Hinten eine geräumige Sitzbank für zwei bis drei Passagiere, vorn Platz genug für die Koffer; an der Trennwand noch ein klappbarer Sitz für zwei weitere Passagiere. "F 4 X" steht vorn an der Motorhaube. nur wenige der neuen Metrocabs sieht man; sie haben fast dieselbe Form, wirken jedoch moderner, um zwanzig Jahre jünger. Doch sie sind noch unbeliebt beim Gros der Fahrer.

Auch die Taxen kommen nur langsam vorwärts. Viele sind mit nur einem Passagier besetzt. Am "Circus" ein energischer Schrei von unten: "Picccaaadilllaaaiii!" Es ist die stämmige weiße Busschaffnerin, die sich Gehör und Respekt verschafft.

Das Britische Museum liegt nun schon lange hinter mir, obwohl ich es erst am späten Morgen besucht habe. Zu viele Eindrücke vom War Museum und von der quirligen Außenwelt dazwischen. Vielleicht habe ich später, bei einem geruhsameren London-Aufenthalt, mehr Lust und Muße für das British Museum.

Abends führt mich die 15 ("To the Tower") nochmals zum "Circus"; dort, zwischen Piccadilly und Regent Street, wo deren Enden sich vereinen, liegt Tower Records, eines der großen Verkaufszentren für Schallplatten, Musikcassetten und Videos; hier gibt es auch preiswerte Leercassetten. Die CDs sind aber ziemlich teuer. Dennoch lohnt es sich, solche großen Geschäfte aufzusuchen. Hier zeigt sich einmal mehr die Entertainment-Seite von "Swinging London". Soho liegt nur wenige hundert Meter weiter. Dort sind auch die Sex-Kinos, die zum Teil früher am Circus waren. gegenüber von Tower Records ist oben, an einem Gebäudedach, ein neues, großes Display für bunte, bewegliche Reklamebilder: man kann sagen, ein grobkörniger Farb-Schirm für etwa 3 x 5 m große Bilder. FIAT, die British Airways, Reise- und andere Firmen werben hier mit einfallsreichsten Zeichen-Spots. Links vorn die in zahllosen Reiseprospekten und Fotobüchern verewigte große Reklamewand des Piccadilly Circus mit großen, bunten Displays und immer denselben sich abwechselnden Schriftzügen und Symbolen. In der Mitte des Rondells der Eros. Vor zwei Jahren war er weg zur Reinigung, heute ist die Statue von einem Gerüst umgeben; ich habe schon wieder Pech.

In Paddington kaufe ich das obligatorische Tonic Water und etwas Food zum Mitnehmen, dann ziehe ich mich aufs Zimmer zurück. Was es im TV gab, weiß ich nicht mehr. Das Programm ist nicht mehr so bunt, meine ich, wie vor zwei Jahren. Wie bei uns dominieren auch hier inzwischen die Politiksendungen. "Spitting Image", über das ich zwei Jahre zuvor mich fast krankgelacht hatte, gibt es nicht mehr.

Vom Hotelfoyer aus rufe ich in Watford an, bei den Verwandten. Ich habe damit bis heute gewartet, genau eine Woche nach der Ankunft. Ich wollte die erste Woche unbehelligt von Familienbindungen verbringen. Rose ist erstaunt, freut sich spontan, meine Stimme zu hören. Ein wenig ungehalten ist sie zu erfahren, daß ich schon sieben Tage in London bin. Aha, erst kommen die Museen und alles andere, dann kommen wir. Der Unmut, vielleicht auch ein wenig gespielt, ist schnell vorüber. Wir verabreden, daß ich am Sonntag per U-Bahn komme, so gegen Elf. Ken wird mich von der Station abholen. Morgen, erzähle ich noch, will ich nach Hendon fahren, um dort das Royal Air Force Museum zu besuchen. Die freundliche Dame an der Rezeption hat mir erklärt, welche U-Bahn-Linien ich zu nehmen hätte.

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Am Samstagmorgen nach dem Frühstück lege ich zum dritten Male 50 Pence auf einen mit Thank You beschrifteten Zettel, dieser liegt auf der kleinen Nachtkonsole. Vielleicht ist es gut, denke ich, wenn man dem Zimmer-Service Trinkgeld gibt. Die angelehnte Tür war vielleicht kein Versehen, war vielleicht eine Art Warnung, man kann nie wissen. Je älter man wird, desto mißtrauischer wird man auch. Andererseits haben es die meist ausländischen Zimmermädchen oft nicht leicht, müssen den Dreck rüpelhafter Touristen wegmachen, als Underdogs im Hotelgewerbe. Sie sollen eine Freude haben.

Im Foyer lustige Stimmen. Drei junge Damen mit südlichem Akzent. Die kleinste, besonders keck, erzählt, sie kämen alle aus München. Morgen, am Sonntag, gehe es zurück. Vorher wollten sie noch viel Shopping machen.

Mit der Northern Line (schwarz markiert), in die ich an der Tottenham Court Road überwechsele, fahre ich über Hendon Central hinaus bis Colindale, was, jenseits der Zonen 1 und 2, als return fare nur 1,60 Pfund kostet. Colindale liegt am Rande Hendons; ich bin auf dem Lande. Die Luft ist gut und würzig. Von Hendon aus war damals, im Jahre 1910, das berühmte Air Race über den Kanal gegangen, Thema des Films "Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten". Von der Underground Station sind es noch etwa 20 Minuten Fußweg bis zum Museum. Linker Hand, an einem Rondell, liegt die Kaserne der R.A.F. Hendon. Nachdem man schon ganz aus dem Ort heraus ist, sieht man rechts das große, völlig umzäunte Museums-Areal mit seinen zwei langgestreckten Gebäuden. Ich wende mich dem linken zu. Mitten auf seinem Hof, der zugleich Parkplatz ist, steht eine riesig anmutende viermotorige Transportmaschine aus den fünfziger Jahren, mit Vierblattpropellern und plattem Bauch: die Blackburn Beverly C I.

Ich wende mich nach links, zur größeren der beiden Gebäude. Auch hier, im kleinen Foyer, eine Taschenkontrolle. "Food?" O.k., mitgebrachtes Essen scheint man auch hier nicht zu schätzen; andere Details interessieren wohl nicht. Eine Öffnung links, dann stehe ich in einer riesigen Halle. Darin führt ein sauberer Weg vorbei an etwas erhöhten Stellflächen rechts und links, auf denen rund vierzig Flugzeuge bereitstehen, die berühmtesten Militärmaschinen, die zwischen 1911 und etwa 1960 herauskamen, für jeden Flugzeugliebhaber ein unvergeßlicher Anblick. Vorn rechts gleich die Blériot XI, weiterentwickelt aus jenem Typ, der 1909 als erster den Kanal überquerte, ein Gestell aus Bambusrohr und Holz mit Fahrradrädern und vorn dem berühmten 25-PS-Anzani-Dreizylinder. Links berühmte britische Maschinen des Ersten Weltkrieges, darunter die Sopwith-Jagdmaschinen: 1 1/2 Strutter, Pup, Triplane, Camel, später auch die berühmte SE 5a. Rechts neben der Blériot die Caudron G III mit ihren beiden kleinen Motoren und der die beiden Insassen aufnehmenden kurzen Gondel. Die doppelte Schwanzkonstruktion aus Bambusrohr läßt die Frage aufkommen, wieso dieses Ding so erfolgreich als Aufklärer fliegen konnte und in der ersten Kriegshälfte so beliebt war. Weiter hinten zwei größere Flugboote, darunter eines von Dornier, das in Spanien noch bis in die Sechziger Jahre als SAR(=Search and Rescue)-Flugzeug Dienst tat. Es wirkt noch heute elegant und modern. Auch eine Gloster Meteor und sogar eine chinesische MiG 15 finden sich hier; zwischen den Maschinen einige der berühmten Flugzeugmotoren wie der in zigtausend Exemplaren gebaute Rolls-Royce Merlin. Oben zieht sich eine Galerie entlang mit kleineren Exponaten, dort hat man auch eine Flugzeugreparaturwerkstatt von anno 1914 nachgebaut, mit Originalteilen der Blériot XXVII. Uniformierte Mechanikerpuppen hantieren da an Spanten und Fahrwerksteilen, dort kann man auch den berühmten Gnôme(Le Rhône)-Rotationsmotor bewundern, der die ersten wendigen Jagddoppeldecker antrieb. Bei diesem Triebwerk rotierten kreiselartig die Zylinder (mit denen auch der zweiblättrige Holzpropeller verbunden war) um die starre Kurbelwelle. Solche sog. Umlaufmotore wurden bis ca. 160 PS gebaut, auch die Sopwith-Triplane und der Fokker-Dreidecker Manfred von Richthofens wurden von Rotationsmotoren getrieben. Die Kreiselwirkung des Umlaufmotors verlieh den nur etwa 6 m langen Maschinen eine enorme Wendigkeit, die den verwegenen Piloten unglaubliche Ausweichmanöver ermöglichte, so die berühmte Immelmann-Wende.

Hellstimmiger Keuchhusten bellt fortwährend durch die Halle. Ein Elternpaar hat den etwa sechsjährigen, schmächtig aussehenden Sohn mitgenommen, der in diesem Zustand besser im Bett geblieben wäre. Das verdammte Gebell geht mir auf die Nerven. Hinten links schließt sich der Bookshop an, hier findet sich Literatur zu praktisch allen britischen und deutschen Flugzeugtypen beider Weltkriege. Auch Krawatten (pilot's ties) und andere Souvenirs, darunter ziemlich viel Kitsch, sind erhältlich. Ich habe genug Flugzeugbücher zu hause. Doch der bebilderte und gut getextete Museumsführer wird gekauft. Ich gehe zurück in die Halle, noch einmal herum. Dies ist nur der halbe Teil des weiträumigen Gebäudes; was sich rechts anschließt, davon legen zwei Maschinengewehre Zeugnis ab, die aus einer nach oben gereckten Bomberkanzel gegen die Decke zeigen: der Kanzel einer Lancaster. Ich zahle zwei Pfund und betrete das Bomber Command Museum.

Der Anblick der vollständig erhaltenen Lancaster mit ihren geöffneten Bombenschächten erweckt vielfältige Gefühle. Oben links, unter dem Fenster des Piloten, markiert eine Vielzahl aufgepinselter Bombensymbole die Zahl der Einsätze. Darunter das Göring-Zitat "Feindliche Bomber werden niemals das Reichsgebiet überfliegen". Dunkelgrün schimmert der Vogel, in Rumpfmitte die große Kokarde, hinten das doppelte Seitenleitwerk. Vorn die verglaste Kuppel des Bombenschützen, darüber die des MG-Schützen. Lang und bedrohlich erscheint das Flugzeug noch heute. Verderben genug hat es über Deutschland gebracht. Auch die Eder- und Möhnetalsperre fielen ihm zum Opfer. Barnes Wallis, der geniale Konstrukteur, ersann eine spezielle Bombe, sie rollte und hüpfte über das Wasser, bevor sie die Sperrmauern mittig traf und gewaltige Überschwemmungen auslöste. Wallis konstruierte auch die fast zehn Tonnen schweren "Blockbuster", mit denen südfranzösische U-Boot-Bunker der Deutschen "geknackt" wurden.

Weiter hinten links in hellem, silbrigem Anstrich eines der letzten, guterhaltenen Exemplare der B-17 G, der "Fliegenden Festung", die zu Tausenden in Tagangriffen deutsche Industriestädte in Trümmer bombte. Die B-17 war der am stärksten mit Defensivwaffen versehene Bomber, ein Alptraum der deutschen Jagdpiloten; viele wurden von der B-17 abgeschossen; andererseits wurden viele "Festungen" Opfer der schnellen Focke-Wulfs und Messerschmitts. Die Bomber durften nicht ausweichen, mußten, auch angeschossen, in der Formation weiterfliegen. In dem Film "Des Teufels Pilot" spielt Humphrey Bogart einen B-17-Kommandanten. Es ist authentisch, was da passiert: während eines Einsatzes über Deutschland sieht die Crew etwas Raketenartiges auf sich zufliegen, in zwei Anflügen schießt das Ding zwei der vier Motoren in Brand. Das war die Me 163, das gedrungene "Kraft-Ei", ein mit Walter-Triebwerk arbeitender Raketenjäger, der fast 1.000 km/h erreichte und auf Kufen landete. Er und die spätere Me 262 A-1a mit ihren beiden Junkers-Strahltriebwerken waren die gefürchtetsten Feinde der B-17.

Hitler hätte sich die beiden Bomber genau ansehen müssen. Die Lancaster und die B-17 hatten kein Äquivalent in der Luftwaffe; es gab außerdem zu wenig der 4-motorigen Focke-Wulf FW 2oo "Condor" und der Junkers JU 290. Viermotorige Bomber waren bei den Deutschen verpönt. General Wever hatte schon 1936 ein Konzept des strategischen Bombers vorgestellt; dieses wurde nach seinem baldigen Tode zugunsten des 2-motorigen "Schnellbombers" aufgegeben. Indessen bauten, ab 1941, die Briten ihre mächtigen Lancasters, Short Stirlings und die Handley-Page Halifax.

Wir kommen zum gewaltigen, mit Rost überzogenen Rumpf eines Weltkriegsbombers. An seinen zerfetzten Flügeln hängen die Reste der vier großen Motoren; die teilweise zerstörte Kanzel wird durch einige Lampen erhellt. Hinten das Doppelseitenleitwerk. Lang hingestreckt, doch von eigenartiger Würde liegt diese Leiche der angeblich letzten Halifax in der Halle. Aus einem See wurde sie herausgefischt *). Wer mag in ihr gekämpft haben, bis zum Schluß auf Ruhm und Sieg hoffend, frage ich mich. Rätselhaft wirkt das Kabelgewirr im verbogenen Cockpit, wo die wenigen erhaltenen Instrumente wie Fremdkörper erscheinen. Drohend wirkte schon die stolz aufgereckte Lancaster, doch noch bedrohlicher dieses Wrack, es vermittelt Schauder und Ergriffenheit.
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*) Die Halifax Mk II wurde im Frühjahr 1942 in Dienst gestellt. Beim Angriff auf das deutsche Schlachtschiff "Tirpitz" von schwerer Flak getroffen, machte das Flugzeug eine Notlandung auf dem vereisten Lake Hoklingen (in Schottland). Von der Besatzung entkamen 5 Mann nach Schweden, der verletzte Bordingenieur geriet in Gefangenschaft. Die 30 m tief gesunkene Maschine wurde im Sommer 1973 gehoben.

Der linke Hallenteil wird von einem wahren Riesen ausgefüllt. Der weitläufige Delta-Flügel scheint kein Ende zu nehmen. Oben in der Mitte, sehr hoch, die stromlinienförmige Kanzel; milchig die Fenster. Es ist die AVRO Vulcan, einer der ersten großen Überschall-Düsenbomber, ein Gerät von bedrohlichen Ausmaßen und fürchterlicher Schönheit. Allein dieser Anblick wäre die Fahrt nach Hendon wert gewesen. Die Vulcan spielt eine Hauptrolle im James-Bond-Film Feuerball; hier trägt sie während eines Übungsfluges zwei taktische Atombomben, die von Phantom (Spectre) geraubt werden, um eine Millionensumme an Lösegeld zu erpressen. "Major Derval, wünschen Sie das Steuer des Co-Piloten zu übernehmen?" Durch eigene Sauerstoffpatrone geschützt, reduziert der falsche Derval den Kabinendruck auf Null und setzt wenig später die Vulcan nach steilem Sinkflug aufs Wasser; während das Fahrwerk ausfährt, sinkt die Maschine langsam auf den Meeresgrund. Ein weites Tarnnetz spannt sich über den Bomber, dunkel schimmert der große Fleck wie eine Korallenbank. Ich habe den Film oft gesehen, doch mir diesen Bomber nicht so riesig vorgestellt. Mein Gott, welch ein Aufwand und wofür. Abscheu sollten diese Tötungsmaschinen erwecken, doch am Ende faszinieren sie, und diese technische Faszination überwiegt in Friedenszeiten. Hiervon leben solche Museen. Das ebenfalls ausgestellte Exemplar der Vickers-VIMY aus dem Ersten Weltkrieg wirkt, trotz der damals beachtlichen Größe, wie ein Zwerg dagegen.

Bei all dieser Monstrosität vergißt man beinahe ein Flugzeug, das in seiner Schlichtheit ein fast aschenputtelhaftes Dasein fristet: die De Havilland Mosquito, "the wooden wonder" genannt. Dem eleganten Jagdbomber mit seinen beiden Merlin-Motoren sieht man nicht an, daß er fast gänzlich aus Holz besteht. Über 600 km/h schnell, war er in der zweiten Kriegshälfte auch von den deutschen Assen kaum abzufangen, zog als "Pfadfinder" den großen Bomberverbänden voraus, um deren Ziele mit Brandbomben ("Christbäumen") zu markieren. Erfolgreich kämpfte die "Mosquito" noch im Korea-Krieg.

Noch immer überwältigt, gehe ich zurück in die erste Halle - wie im Traum, doch von der Müdigkeit in die Realität zurückgeholt, und gelange durch das Foyer ins Freie. Vor mir wieder der riesige Truppentransporter mit dem platten Bauch und dem hohen Dreibein-Fahrwerk. Weiter hinten das zweite Hallenbauwerk mit einem kuppelförmigen Dach. Es gleicht fast einer großen, langen Brottrommel. Wenn ich schon hier bin, dann sollte ich dieses Battle of Britain Museum auch noch besichtigen.

Auch dort erhebt man einen geringen Obolus. Das Museum, Synthese zwischen dem RAF- und dem War Museum, beschäftigt sich ausschließlich mit dem Zustand der britischen und deutschen Luftwaffe im Jahre 1940, also zur Zeit der Luftschlacht um England. Deshalb finden sich unter dem gewölbten Dach so gut wie alle Flugzeugtypen, die an jener Schlacht maßgeblich beteiligt waren. Vorn am Eingang, hinter dem Foyer, fällt der Blick auf die schauerlichen Überreste einer abgeschossenen Hurricane. "Rolls-Royce": deutlich lesbar, wie am ersten Tag, das Typenschild des MERLIN-Motors. An der Propeller-Nabe die scharfen Splitter der abgerissenen starken Holz-Blätter. Das Cockpit ein Trümmerhaufen: hier starb der Pilot; man kann ihm nur wünschen, daß er sofort tot war.

Man betritt eine große Halle. Gleich vorn, in weißem Lack, ein riesiger Vogel; ja, man fragt sich, wie dieses Monstrum überhaupt hier hineingebracht werden konnte. Es ist die Short Sunderland, eines der größten viermotorigen Flugboote des Zweiten Weltkrieges, noch heute von beeindruckenden Ausmaßen. Dieses Wahnsinns-Ding patrouillierte damals über dem Atlantik und wurde zum Schrecken deutscher U-Boot-Kommandanten. Man stelle sich vor: der Kommandant gibt den Befehl zum Auftauchen. Schräg schiebt sich der schlanke Bootsleib aus schäumenden Wellen. Die Luke öffnet sich, Kommandant und Brückenwache steigen nach oben. Plötzlich, aus tiefhängendem Gewölk heraus, ein Dröhnen und Heulen. Ein riesiger Schatten senkt sich wie ein Dach über das Boot. Eine Sunderland, mit einer Vielzahl tödlicher Wasserbomben beladen. Paul JUST hat eine solche Situation beschrieben in seinem Buch "Vom Seeflieger zum U-Boot-Kommandanten". Nur wenigen gelang es, in dieser Situation die Nerven zu behalten, schnell genug zu reagieren und davonzukommen. Allein durch seine Größe muß dieses Flugzeug einen gewaltigen Schock ausgelöst haben. In der zweiten Hälfte des Krieges verfügten solche Maschinen, aber auch kleinere Jäger, bereits über RADAR und erschienen, aus den Wolken herabtauchend, völlig überraschend über deutschen U-Booten, auch und vor allem nachts, wenn sie zum Auftauchen gezwungen waren, um die Batterien aufzuladen und dem Boot Frischluft zuzuführen.

In der langen Halle reihen sich links und rechts vom Besucherweg die bekannten Weltkriegsmaschinen: auch die deutsche Me 109 E("Emil"), die Ju 88, die He 111, auch der zweimotorige Zerstörer und Nachtjäger Me 110; auf der englischen Seite finden sich die Hurricane und die Spitfire Mk. I, auch die Bristol Blenheim und sogar die merkwürdige Bolton Paul Defiant mit ihrem drehbaren MG-Turm hinter dem zweisitzigen Cockpit. Auch ein Exemplar der damals schon antiquierten Gloster Gladiator, eines Jagd-Doppeldeckers in Ganzmetallbauweise, findet sich hier. Der ebenfalls ausgestellte "Stuka", die Junkers Ju 87 D, wirkt nicht so bedrohlich, wie man ihn sich vorgestellt hatte. Die deutschen Maschinen sind mit viel Sorgfalt und Können originalgetreu restauriert worden und alle flugfähig.

Ohne Übertreibung kann ich diesen Tag als musealen Höhepunkt meines London-Aufenthaltes bezeichnen. Eigenartig, daß die kriegsorientierten Museen mehr faszinier(t)en als das berühmte British Museum.

Auf dem Weg zur U-Bahn streift der Blick noch einmal die R.A.F.-Basis, dann kleine Reihenhäuser auf bescheidenen Grundstücken. Hier stehen keine Rolls-Royces, Bentleys, Daimlers, hier wohnen "einfache" Leute, die sich Londoner City-Eleganz nicht leisten können. Wenn man aus London hierhin kommt, so erscheint Hendon wie eine andere Welt.

Die U-Bahn bringt mich zurück in die Hektik und Eleganz des Westends. Doch habe ich keine Lust mehr auf großartige Unternehmungen. Für 1 Pfund 54 Food mitnehmen, dann ins Hotel. Ausruhen und TV, mit den üblichen Sportübertragungen. Morgen fahre ich nach Watford. Ich muß jetzt ein wenig zurückschalten, es wird ein langer Tag.

***

Gegen halb Zehn, nach dem üblichen continental breakfast, kaufe ich in der Paddington Station die zweite Travelcard. ich habe dafür noch ein zweites farbiges Paßfoto von Anfang 1982 in der Brieftasche. Beim ersten London-Aufenthalt hatte ich an die beiden Fotos nicht gedacht, habe damals das viel teurere, von der Reiseleitung empfohlene London Explorer Ticket gekauft, für umgerechnet über 40 DM. Die Geltungsdauer meiner Travelcard werde ich nicht voll ausschöpfen können, muß ich doch am kommenden Freitag zurückfliegen. Schade, daß ich nur noch wenige Tage London habe. Ich muß die restliche Zeit gut nutzen, andererseits sollte ich mich auch noch ein wenig erholen. Nun, vielleicht findet sich ein Kompromiß.

Die Einkaufstasche habe ich mit, darin neben dem Handtäschchen (mit den Wertsachen) auch das TCD 5, das Mikro, den Batteriepack und einige Cassetten zum Verschenken. Nicht sehr sonntäglich sehe ich aus in der dunkelbraunen Cord-Hose und dem roten "McDuncan Leisure"-Pullover, doch kann ich das nicht ändern.

In der Baker Street Station, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte, steige ich um in die violett markierte Metropolitan Line; vor Harrow-on-the-Hill zweigt sie nach rechts ab (Ist das der Watford Train, frage ich), dann eine weitere Verzweigung hinter Moor Park, von dort nur noch einen Zwischenhalt bis zur Watford Met Station, einem unscheinbar kleinen Bahnhof, wie er auch im kleinen Arolsen stehen könnte. Es ist wieder bewölkt, vielleicht regnet es bald, doch ist es nicht so kalt wie an jenem Sonntag im Januar 1986, als ich erstmals hier in Watford war und von der Station aus bis zur Kommunalen Bibliothek ging, um von dort aus völlig überraschend Rose und Ken anzuklingeln.

Das Telefon der Met Station ist kaputt. Zweimal melden sich Rose und Ken, zweimal können sie mich nicht hören. Verdammt. Ken ahnt es: "Perhaps it's Wolfgang." Ich hoffe, sie vermuten richtig, setze mich langsam in Marsch, die Straße hinauf, halte ab und zu, schaue hinauf zum bewölkten Himmel. Ob er noch "Vatis" alten blauen Fließheck-VW hat, wenn er (hoffentlich) kommt? Ein Auto hält, reißt mich aus den Gedanken. Ein neuer VW Passat. Ken sitzt am Steuer. Gottseidank. Mit einem verlegenen "Hallo Ken" setze ich mich, schnalle mich an. Das erste Mal sitze ich in einem VW-Rechtslenker. Kaum hört man den Motor, als sich der Wagen geschmeidig in Bewegung setzt. Vorsichtig lenkt Ken um die Kurven. Der Wagen ist aber nicht mehr so neu, wie er aussieht und riecht. ich bin Ken sehr dankbar, daß er mich abholt, zumal er stark erkältet ist.

Dann wieder das vertraute Häuschen. Rose steht vor der Tür. Eine warmherzige Begrüßung. Man fühlt sich sofort zu Hause.

Im weitläufigen Wohnzimmer der vertraute Kamin. Ja, das goldfarbene Gitter ist tatsächlich neu, sonst hat sich wohl nichts verändert. Rose bereitet einen schönen warmen Tee mit Milch. Ich berichte von meinen London-Unternehmungen. Nun ja, ein paar Museen, Sightseeing, Oxford und Stratford. Aber das kommt ihnen viel vor - im Gegensatz zu mir. ich hätte am vorigen Sonntag zu Richards Taufe kommen sollen, sagt Rose. Das Gespräch kreist um die Familie. Wie geht es Uta und Marion? Wie geht es Mutti in Diez? Wie Deinen Eltern? Schön, daß sie noch so gesund sind. Ja. Gebe Gott, daß sie es noch lange bleiben. Daß sie am 10. Mai Goldene Hochzeit feiern können. Daß sie, nach langem Arbeitsleben, noch schöne Jahre in Gesundheit verbringen können.

Rose hat uns ein schönes englisches Dinner versprochen, es mit viel Liebe zubereitet. Roast Beef, Potatoes, Yorkshire Pudding und ein Dessert. Ken ist wild auf die übriggebliebenen Yorkshire Puddings, ißt sie mit Marmelade. Schön, daß es den beiden gut geht. Alle Familienmitglieder werden Gegenstand des Gesprächs. Je größer die Familie, desto mehr Entfaltungsmöglichkeiten, denke ich.

Später erscheinen Susan und ihre Familie. Den erst fünf Monate alten Richard darf ich auf den Arm nehmen, küsse ihn auf sein Kugelköpfchen. Ganz ruhig ist er, spürt die Zärtlichkeit, kuschelt sich ein. Wie ein Kätzchen. Ein warmes, liebes Stück Leben, das man so beschützen möchte.

Bill wirkt erschöpft, fragt ebenso unkompliziert wie direkt nach meinem Befinden. Und dem der meinen. Ken und Bill geraten, da ich nicht viel sage, sofort in ein Fußballgespräch. Meine Einkaufstasche ist einen schmalen Spalt offen. Heraus ragt das Mikrofon. Fast 45 Minuten von der family reunion werde ich so verewigen können, als kostbare Erinnerung.

Susan wirkt jünger denn je. Vielleicht das Resultat der dritten Mutterschaft. Die knapp 30 Lebensjahre sind ihr nicht anzumerken. Große, dunkle Augen sehen mich an. Auf die flink gezwitscherten Fragen vermag ich kaum zu antworten. Mein Gott, das nach 9 Jahren Schul- und 6 Jahren Uni-Englisch. Ich bin müde und verwirrt, nach zehn Tagen Junggesellendasein im Schoße einer großen Familie. Außerdem läuft das Gerät; nicht mich, die anderen will ich festhalten, aus allen diesen Gründen halte ich mich zurück.

Während ich Little Richard auf dem Arm habe, klicken Kameraverschlüsse. Das wiederholt sich, als kurz darauf Tracey und Peter eintrudeln. Ich bin gerührt. Alle haben kurzfristig von meinem Hiersein erfahren, sind gekommen, obwohl sie etwas anderes vorhatten. Ann, die älteste Enkelin, ist auf einer birthday party. Solche Parties liebe sie sehr. An ihrem eigenen Geburtstag wolle sie auch eine große Party geben. Das mache aber nichts. Kinder seien eben so.

Tracey und Peter sitzen am anderen Sofaende. Sie gehen noch beide arbeiten. Peter hat viel zu tun mit Computer-Hausaufgaben, muß für morgen noch drei Stunden am PC sitzen. Auch Tracey und Pete haben jetzt ein Haus, eher gesagt, sie müssen es abzahlen. Viele Engländer haben eigene Häuser, die Mieten sind zu hoch. Ein eigenes Haus: das heißt, auf vieles verzichten zu müssen.

Pete und Bill sprechen über Computer-Software. ich frage Bill, ob er noch oft nach Deutschland fliege. Zur Zeit nicht, entgegnet er; schon seit vier Monaten sei er nicht mehr geflogen. Das erregt in mir Heiterkeit.

Alle drei Familien-Zweige erhalten ein Marburg-Buch. Rose meint, ich sei nicht "very fond of wrapping up things". Ja, ich habe die Bücher nun mal nicht standesgemäß verpackt. Man verzeihe es mir.

Pete und Tracey gehen als erste. Immer, wenn ich komme, hatte Rosel gesagt, gebe es ein weiteres Kind. Worauf Susan erwidert hatte, jetzt sei Tracey erst einmal an der Reihe - was von dieser mit verlegenem Lächeln quittiert worden war. "All the best to you and take care of yourself." Bald darauf gehen auch die anderen. Es wird wieder ruhig. Das Prasseln des Kaminfeuers kommt zu seinem Recht. Draußen dunkelt es. Wir essen Brote und sehen fern. Heute abend kommt eine neue Folge von All Creatures Great and Small. Danach werde ich gehen müssen.

Rose und Ken haben mir eine Videocassette geschenkt mit vier Episoden der neuesten Staffel. Diese besonders schön verpackte Cassette (shame on me) werde ich in Marburg ansehen, sobald wir einen VHS-Recorder haben.

Damit ich weiß, was auf mich zukommt, verfolge ich ganz aufmerksam und voller Freude die aktuelle Episode, höre zum ersten Male die Original-Stimmen von Siegfried und Tristan Farnon, von James Herriot, sehe eine andere Helen (es ist nicht mehr Carol Drinkwater), es gibt ein Wiedersehen mit Granville Bennet und der schönen Zoe. Und das dann übliche Besäufnis. Als Grenville, Siegfried und James an der Hausbar lärmen, erscheinen Zoe und Helen. James erhebt sich, fällt der Länge nach den beiden Damen vor die Füße.

Eine neue Figur tritt auf: ein junger Schotte namens Callum Buchanan, neuer Assistent der Farnon-Praxis. Er verlobt sich zum Schluß mit einer sehr netten jungen Dame; man denkt daran, wie alles begonnen hat mit dem jungen James und seiner Helen. Tristan ist älter geworden und (nur ein wenig) gereifter. Nach wie vor ist er hinter allerhand Röcken her: in dieser Folge sind zwei nette junge Damen davon betroffen. Siegfried macht sich daraus einen Scherz, bestellt die zweite ins Haus, während Tristan die erste erwartet.

Als der Abspann kommt, mache ich mich fertig. Es ist, als sei gar keine Zeit vergangen seit Januar 1986. Es kommt mir vor, als sei ich ganz lange hier in diesem Haus gewesen. Die Herzlichkeit des Tages, die Gastlichkeit der Strongs haben das bewirkt.

Die Met Station ist total leer, sogar der Kontrolleur ist weg. ich hätte glatt durchgehen können bis zu den Gleisen. Ich warte, bis ein Mann, der in einem erleuchteten Büro mit irgendetwas beschäftigt ist, für mich Zeit hat. Mein Zug, sagt er, sei gerade vor einer Minute abgefahren. Die Moral von der Geschicht..., denke ich.

Fast versteckt hinter seinem Schalter ein anderer Mann, der mir ein Ticket für die Rückfahrt verkauft. Nun habe ich noch fast zwanzig Minuten Zeit. Sch... ! Also gehe ich in die Wartehalle. Vor zwei Jahren war sie innen ziemlich schäbig gewesen, jetzt erstrahlt alles in kräftigstem Blau, vom Boden bis zur Decke. Nun ja, das ist mal was anderes, außerdem beruhigt die Farbe.

Gegen halb Zehn bin ich wieder im Senator. Meine Zimmertür ist wieder angelehnt. Himmel Arsch und Zwirn. Was zum Teufel ist der Grund. An der Rezeption weiß man nichts. Man will noch einmal nachforschen.

Was soll's. Ich muß das aber in meinem Kalender vermerken. Morgen werde ich dem Zimmer-Service auf dem Trinkgeld-Zettelchen eine Notiz schreiben von wegen Tür und so. Nun noch ein bißchen TV und das vom Laden besorgte Schweppes getrunken. Roses Kuchen werde ich morgen essen. Morgen besuche ich St.Martin-in-the-Fields, will dort das Lunchtime Concert aufnehmen, falls niemand Einwände hat. Wir wollen mal sehen.

***

Die Menschen um mich herum, die ich beim Frühstück wahrnehme, erscheinen mir immer fremder, das Geschnatter der oberflächlichen jungen Gänse immer störender. Heute nachmittag wird der zweite Wochenend-Kurzurlauber-Schub zurückfliegen. Drüben an einem Tisch wird von schicken Klamotten gesprochen, die man noch kaufen müsse.

Die Einkaufstasche wird sorgfältig gepackt. Die Aufnahmeausrüstung muß komplett sein, auch eine gute Leercassette darf nicht fehlen. Mit dem Batterieprüfer habe ich die noch am besten tauglichen Baby-Zellen unter den mitgebrachten ermittelt. Nur schade, daß ich keinen Kontroll-Kopfhörer besitze; der primitive Hörer der Radio Watch taugt nur für Mono, hat einen entsprechenden Stecker.

Mit der U-Bahn am Charing Cross angekommen, kaufe ich in einem vornehmen Drug Store den preiswertesten akzeptablen Hörer für rund 9 Pfund. Am TCD 5 arbeitet er nicht gerade berückend. Was soll's, besser als gar nichts. Wie ein Penner hocke ich auf einer Bank, die offene Tasche vor mir, doch das, worüber ich mich beuge, ist keine Wermutpulle, sondern das TCD 5, von dem ich mittels meiner neuesten Errungenschaft O-Töne aus der U-Bahn abhöre.

St.Martin-in-the-Fields liegt rechter Hand vom Trafalgar Square; Nelson's Column ist schon von weitem zu sehen. Vom Square nach Nordwesten hin zieht sich eine breite, sehr belebte Geschäftsstraße, der Strand; hier finden sich viele Buchgeschäfte. Im Lied von Mackie Messer wird der Strand erwähnt. An dieser Straße sind mehrere große Gebäude, auf denen ich etwas sehr Eigenartiges sehe: die Dach-Oberseite ist durch einen oben mit Stacheldraht bewehrten Zaun geteilt! Am Strand hält auch die 15 Richtung Oxford Circus / Piccadilly.

St. Martin, diese mittelgroße Kirche, könnte in einer deutschen 50.000-Einwohner-Stadt stehen, weist, außer dem Säulenportal, keinerlei Besonderheiten auf. Hinter der Kirche ein Hof, auf dem fast permanent ein Kunstmarkt stattfindet. Geht man um die Kirche herum, fällt bei näherem Hinsehen rechts außen (vom Portal gesehen), etwa in der Mitte, ein kleiner Eingang auf; man muß einige Stufen hinuntergehen, um in das Fields Restaurant zu gelangen, das in der ehemaligen Krypta eingerichtet wurde. Zunächst stößt man fast vor eine weitere Tür, die des separaten Bookshops, durch eine Art übermannshoher Bücherwand hermetisch abgetrennt. Rechts vom Bookshop eröffnet sich der größere Teil des weitläufigen Gewölbes. Zur Rechten ein ziemlich langes Buffet, das ab 12 Uhr köstliche Salate und auch warme Lunch-Gerichte anbietet. Links daneben ein kleines Frühstücksbüffet. In der Mitte zahlreiche etwas wacklige Holztische mit Gartenstühlen. Dezente klassische Musik in hervorragender Qualität erfüllt den Raum. Links vom Bookshop ein schmaler Raum mit einigen Tischen und Stühlen und einer langen Sitzbank, das Meeting Centre; an dessen hinterem Ende sehr saubere, moderne Toiletten. Hinter Bookshop und Toiletten ein weiterer großer Teil der Krypta mit dem seit kurzem eingerichteten London Brass Rubbing Centre; hier kann jeder für 3 Pfund 50 (inklusive Material) von Metallvorlagen ein- oder mehrfarbige Abdrucke herstellen; es werden auch kleinere Souvenirs verkauft.

Niemand würde normalerweise in der Krypta einer Kirche ein Restaurant erwarten mit solch dezent-freundlicher Atmosphäre. Das Restaurant, die übrigen Einrichtungen, überhaupt die Tatsache, daß es sich um eine offene Kirche handelt, dies alles vermittelt im Nu das Gefühl, daß man hier zu Hause sein kann. Und so wird ab sofort, bis zum Abflug, diese Kirche zum "Anlaufpunkt" im riesigen London.

Nach kurzem Snack im Restaurant gehe ich hinauf und treffe die beiden Künstler des heutigen Konzerts bei der Probe an: die sehr aparte junge Julia FRAPE spielt Violine, Nicholas DURCAN begleitet sie am Flügel. Gegen eine Aufnahme haben sie nichts: freuen sich im Gegenteil über die versprochene Kopie. Gegen Proben-Ende stelle ich mein Mikro auf seinem kurzen Tisch-Stativ ganz vorsichtig auf den Kirchenboden vor Miss Frapes Notenständer; beide sind vom Ergebnis der kurzen Aufnahme überrascht. What a beautiful sound. Und das mit Eigenbau-Mikros. Beim Konzert, nehme ich mir vor, will ich das Mikro zwischen Flügel und Geigenstativ aufstellen. Und genau das wird falsch sein.

Noch habe ich rund 45 Minuten, um zu innerer Ruhe zu kommen, zu entspannen. Wenige Leute kommen und gehen. Am Rande des Kirchenschiffs hier und da eine zusammengesunkene Gestalt, ein "Penner". Die rechte Sakristeitür öffnet sich, ein junger Mann mit drahtlosem Telefon kommt halb heraus. Ein anderer Kirchen-Angestellter unterhält sich mit einem der Stadtstreicher. Ich sehe ins Prayer- und Songbook. Dort stehen die Psalmen; dann und wann haben die Texte Akzentzeichen von wegen des rhythmischen Lesens/Singens. Schade, daß ich Uta nicht ein solches Buch mitnehmen kann - im Buchladen unten ist es nicht erhältlich. Die Orgel hinten über dem Eingang wirkt eher bescheiden; sicher spielt sie keine große Rolle im konzertanten Leben der Kirche.

Das Konzert soll pünktlich um 1:05 beginnen. Kurz zuvor habe ich das Mikro aufgestellt. Eine schwarzgekleidete blonde Dame, sie sieht sehr apart aus, betritt den Altarraum, wo ein junger Mann kurz zuvor ein Mikrofon eingeschaltet hat. Mit angenehmer Stimme begrüßt sie die Anwesenden, weist auch hin auf das Restaurant, dessen cuisine sie empfehlen könne. Die Konzerte seien zwar kostenlos, doch entstünden ihr, sagt sie, jedes Jahr Kosten in Höhe von 2.000.- Pfund, die sie an die Lizenzbehörde zu zahlen habe. Die Weiterführung der Konzertreihe sei auf freiwillige donations angewiesen; folglich appelliere sie an die Zuhörer, so freigebig wie irgend möglich zu sein. "And now please join me in welcoming Mrs. Julia Frape and Mr. Nicholas Durcan." Kurzer Beifall, beide Künstler treten ein, Julia in bezauberndem Kleid, wirklich nett anzusehen. Das erste Stück ist ein kurzes Vorspiel, dauert etwa sechs Minuten. ich sitze in der ersten Bank links, unmittelbar am Mittelgang, direkt vor Julia Frape, höre die Violine traumhaft schön, spüre die Anspannung der Künstlerin. Aber das Mikro steht zu weit weg, sogar, wie mir jetzt bewußt wird, etwas näher am Flügel. Und das zum Teil aus, wie ich jetzt merke, falscher Rücksichtnahme. Hätte ich es doch bloß hier oben vor der Geige, ich hätte es ja zur Not oben auf die Ablage legen können, wo die Gesangbücher Platz finden. Sicher gehen die Künstler nach dem ersten Stück kurz hinaus, da kann ich das Mikro umsetzen. Aber nein, es geht gleich weiter, und so vergeht die lange Sonate mit herrlichen Violinpartien, ohne daß ich etwas machen kann.

Unten im Restaurant hörte ich strichprobenweise die Aufnahme ab. Natürlich ist der Flügel zu laut; die Geige klingt zwar deutlich, aber wie aus der Ferne. Verd...! Und das bei so sympathischen Menschen, die so gut gespielt haben. In Marburg werde ich versuchen müssen, das Ganze so zu überspielen, daß es einigermaßen gut zu hören ist.

Das sehr nahrhafte Lunch kann ich aus diesem Ärger heraus kaum genießen. The portrait of a violin, geht mir nicht mehr aus dem Kopf - ja, das hätte ich machen müssen, mit einer nicht zu hell färbenden Kapsel, direkt vor der Violine; der Flügel wäre ja laut genug gewesen, um noch gut auf's Band zu kommen. Hinterher weiß man immer, wie's gemacht wird. Ich schmiede Pläne für künftige Aufnahmen. So etwas soll mir nicht wieder passieren. Ja, man muß wirklich jede Aufnahmesituation gebührend berücksichtigen, sich hineindenken, muß das gespielte Werk kennen, sich mit der Interpretation befassen. Live-Aufnahme ist eben nicht nur Technik.

Schon am 2.4., beim ersten Besuch, hatte ich dem freundlichen Herrn vorn an der Kasse/Information unter dem Portal ein Geschenk für die Kirche gegeben, und zwar eine Kopie des vom Vokalensemble Marburg am 29.11.87 in der Lutherischen Pfarrkirche (englisch!) aufgeführten Händelschen Messias. Heute gebe ich der besagten blonden Dame, vermutlich ist sie die Vikarin, zumindest aber für die Konzerte verantwortlich, als weitere donation ein Exemplar von Jan Dismas Zelenkas Missa Votiva, die vom Marburger Bach-Chor am 3.5.87 in Marburg erstaufgeführt wurde.

Im Hotel muß wohl wieder jemand an meinem Schrank gewesen sein. Sonderbar.

Am frühen Abend gehe ich nochmals zu St. Martin's, um zwei wohlschmeckende Salate zu essen. Das sättigt ungemein. Morgen werde ich hier wieder speisen.

Die 15 bringt mich zum Oxford Circus, von hier aus lasse ich mich mittreiben im Strom der Shopping-Passanten, gerate bis zur Camden Town Station (!), fahre per U-Bahn weiter bis Victoria, dann per Bus bis Paddington; nachbereitendes Sightseeing. Auch wenn man zu wiederholten Malen durch die Einkaufsstraßen fährt, erscheint London stets neu, entdeckt man neue Details. Unbeschreiblich die Zahl der wie in einem Ameisenhaufen umherschwirrenden Menschen, das Stakkato des Fußgetrappels bei Selfridges, John Lewis, Marks & Spencer, wo man bei Virgin hineingeht, um Platten zu kaufen, oder bei Underwood noch schnell ein paar Haushaltsdinge besorgt. Bei vielen weiß man nicht, ob sie zielstrebig oder, wie ich, mehr oder weniger ziellos herumlaufen. Was am meisten auffällt, vor allem oben vom Doppeldecker aus, ist die Buntheit der Geschäftsfronten: selbst der kleinste Laden, und sei es nur eine Reinigung, hat eine individuelle, mehrfarbige Umrandung, mit großflächigem Schild über dem Schaufenster. Deutsche Städte mit ihren Einkaufsstraßen wirken dagegen trist, beinahe eintönig. Bei uns die dezente Eleganz des Reichtums, hier, in London, der bunte Reichtum an Ideen. Fast alles ist hier bunt: was wäre London ohne die knallroten Doppeldecker, die knallbunten Ladenfronten, die einfallsreiche Werbung der U-Bahn-Röhren, die Farbenspiele des "Circus"? Eine Großstadt wie jede andere. Londons Buntheit ist Ausdruck der Individualität seiner Menschen. Hier fahren auch die liebevoll restaurierten Lieferwägelchen mit den uralten Speichenrädern und Blattfedern herum, man dreht sich nach ihnen um, wenn sie mit leisem Motor über die Kreuzung fahren. London: Synthese von Alt und Neu, Tradition und Fortschritt, gewachsene Einheit, pulsierender Organismus. Stadt der Bewegung, Konglomerat fortwährender Sinnesreize.

***

Das Leben in London wird zur Routine. Ich spüre das während des Hotelfrühstücks. Es ist, als wohne ich dort schon vier Wochen. Die Zeit ist schnellebig, Calgary fast vergessen. Vergangene Nacht ist der neueste Touristenschub eingetroffen. Die letzte Teilstrecke meines Urlaubs ist angebrochen. Ich stelle mir vor, ich gehöre zu den neu Angekommenen. Sie kommen Montag nachts und fliegen am Freitagnachmittag zurück. Auch ich habe jetzt praktisch noch dreieinhalb Tage vor mir, sollte sie gut nutzen. Rose hatte mir vorgeschlagen, vielleicht noch ein zweites Mal zu kommen, wenn es ginge. Gestern abend habe ich in Watford angerufen und gesagt, es gehe nicht, vor allem wegen der eigenartigen Geschehnisse im Zusammenhang mit meinem Zimmer. Wir haben uns noch lang unterhalten. Ja, es war schön in Watford, ich werde das nie vergessen. Die ganze Familie (bis auf Anne) hat mir die Ehre gegeben. Ich kann froh sein, so liebe Verwandte "hinzugeheiratet" zu haben.

In Paddington steige ich hinunter zur Bakerloo Line, sie bringt mich bis Charing Cross. Jetzt gehe auch ich links in den Verbindungsgängen, überholt von rastlosen Menschen, die ins Büro oder zum Einkaufen hasten. Das Fußgetrappel hallt in den langen Röhren. Zur Bakerloo Line geht es tiefer hinab als bis zur Circle & District Line. Unten ist es etwas muffig und sehr zugig. Große waagerechte Punktmatrix-Displays informieren in emsiger Laufschrift über die nächsten Züge: EDGWARE ROAD ... 2 mins ... ELEPHANT & CASTLE ... 3 mins. Und dazwischen NO SMOKING IN ALL UNDERGROUND STATIONS.

Ein großer Schlauch. Wände und Decken verschmelzen zu einem Bogen. Gegenüber eine großflächige U-Bahn-Werbung, ganz auf Deutsch. Mike Krüger freut sich über die British-Telecom-Telefone. Und die Pubs. Die "Tube". Und staunt über den Geldumtausch. "Ein paar Gramm habe ich hingegeben und ein ganzes Pfund wiedergekriegt." Ein wenig dümmlich. Die GUTEN-APPETIT-Werbung bei Selfridges gefällt mir besser. Na ja, die Reklame liegt jenseits der Schienen. Und wer hat schon Zeit, so wie ich, den ganzen lieben langen Text zu studieren.

Auf meiner Seite reihen sich die Faksimile-Zeichnungen englischer Könige und Geschichtshelden: Heinrich VIII, Walter Raleigh, Kardinal Woolsey, mit ineinander verschlungenen o's. Der Stereo-Kardinal. Links und rechts verschwindet das Gleis in einem schwarzen Loch. Zwei Fahrschienen und zwei auf Keramik-Isolatoren montierte Stromschienen. Aus dem linken Loch ein dumpfes Grollen und Poltern. Zwei tastende Lichter. Hastig schwankt der Zug heran, bremst scharf, als schon mindestens das erste Drittel vorbei ist (warum erst jetzt?), es quietscht, dann das charakteristische Rollen, die Türen öffnen sich schnell. Trappeln und Schieben auf dem schmutzigen Holzrost. Nur mitten im Wagen kann man aufrecht stehen. Diesmal ein älterer Wagen mit durchlaufender Bank an den Seiten. Kleine Fenster mit uralt scheinenden Holzrahmen. Zerfurcht und verwittert das Holz. Der Sitzbezug muß wohl mal strahlend blau gewesen sein. Please leave your seat to elderly or disabled persons, steht da. Don't wait to be asked. Auf der Rückfahrt von Watford habe ich in meinem Wagen eine junge Frau gesehen, Anfang zwanzig, blond, von Wind und Sonne gegerbtes volles Kindergesicht, Jeans-Anzug, mit schwerem Rucksack auf großem Tragegestell, vorn auf dem Arm ein Kleinkind, an der Hand den zusammengelegten Sportwagen. Trotz in den Augen. Ich werde es Euch schon zeigen. Irgendwo in der City war sie ausgestiegen, hatte draußen den Wagen entfaltet.

Der Zug beschleunigt, rattert über Schienenstöße. Am rechten Fenster flitzt die Wand vorbei, unregelmäßige Linie von Kabeln und Rohren. Die Deckenbeleuchtung flackert, geht kurz aus. Dann der nächste Halt. Roll-Roll. Die Türen sind wieder zu. Unter dem Boden donnert ein Kompressor los, hört nach dreißig Sekunden auf. Wir streben dem nächsten Halt zu ...

Charing Cross ist ein großer Bahnhof, doch nicht so groß wie Waterloo oder Victoria. Vorn, zum Strand hin, warten Taxen im Halbkreis. Dieselartig schnattern die Motore. Piep-piep-piep: die Fußgängerampel. Vorn links die Kirche.

Heute morgen will ich mir einen Haircut machen lassen, bevor ich ins Konzert gehe, fühle mich unwohl mit den zu langen Haaren. Rechts, an der Seitenstraße, die Aufschrift HAIR JUNCTION. Von einem Sonderangebot ist die Rede: statt 10 Pfund 75 kostet der Haarschnitt, mit blow drying, nur 9 Pfund 75. Einziger Kunde ein junger Mann, mit dessen Frisur sich ein nettes Mädchen beschäftigt. Sie verschwindet, ein junger Mann erscheint, ich kann hinten auf einem Stuhl Platz nehmen. Den Kopf muß ich ganz zurückbeugen für die Haarwäsche. Aha, so geht das hier. Dann viele zaghafte kleine Scherenschnitte. Ob das was wird? Scheinbar geht kaum was runter von dem langen Schopf. Eine Maschine wird nicht benutzt. In recht unverständlichem Englisch fragt er, wie ich es denn gern hätte. Zeichensprache muß helfen. Wenn ich nur wüßte, was Scheitel auf Englisch heißt. Gut, daß es Präpositionen und Demonstrativa gibt. Ob ich auf Urlaub sei. Ein kurzes Gespräch kommt in Gang. Vor dem Trocknen schmiert er eine dicke weiße Crème ins Haar. Damit es nicht unter dem Trocknen leide, erklärt er. An der Kasse gebe ich ihm als Trinkgeld eine mitgenommene Cassette. Er höre gern Musik, hatte er gesagt. Auch manchmal klassische. Hoffentlich weiß er das Deller Consort zu schätzen.

Im Field Restaurant nehme ich einen kurzen Snack. Es ist noch Zeit genug bis zum Konzert. Ich fühle mich wohl mit dem neuen Haarschnitt, werde ihn mitnehmen als kurzlebiges London-Souvenir. Ein kurzer Spaziergang führt mich zufällig zum Covent Garden. Auf dem großen Vorplatz treten im Sommer wohl öfter Gaukler und Stegreifkomödianten auf, werden ganze Stücke aufgeführt, jetzt aber ist hier alles ziemlich still. Oben an einer Häuserwand in großer Schrift die Warnung, daß die Operngesellschaft umliegende Häuser abreißen wolle. Dagegen müsse etwas unternommen werden.

Kurz nach Zwölf bin ich schon oben in St. Martin's. Noch alles ist ruhig; keine Probe. Gegen halb Eins erscheint ein ziemlich zerfahren und hektisch wirkender Mann; etwa vierzig mag er sein, um die 1,70 m groß, mit leicht gewelltem Haar. Richard GREENWOOD, der Pianist. Nicht sehr erbaut ist er von meinem Ansinnen einer Aufnahme. Nun gut, aber nur unter der Bedingung, daß er kurzfristig vor dem Spiel ein Veto einlegen könne, wenn er sich danach fühle. Und nun werde er üben, ich solle auf jeden Fall abschalten. Ich hatte ja gar nicht eingeschaltet.

Ein paar Töne werden angeschlagen, ein paar Tastenläufe fast ohne Ton, dann Schluß. Links im Altarraum arbeitet ein älterer Herr an einer Fußleiste. Rechts ein Obdachloser. Ob er zum Konzert gekommen sei, fragt ihn der Mann, den ich gestern mittag mit dem drahtlosen Telefon in der Sakristei gesehen habe. Die nette blonde Vikarin (?) teilt die Programme aus, wie gestern. Das Mikro ist bereit. Ich mache meine Ausrüstung starklar.

I'd like to welcome you to St. Martin's for the lunchtime recital today. I do hope that you will be able to stay with us for the entire recital, but if you're not willing to there is a door open for you to leave by, and it's the one in that corner ... There is a slight change to the programme today, in the Brahms pieces the third piece, the Intermezzo in C, will be now the Intermezzo in E opus 116 No. 6 so that the third Brahms is now still intermezzo but that in E ... If you like to have details of the remaining concerts to be held here in March they're available on this pink leaflet which you'll find at any of the doors as you leave today. They give details of both the lunchtime and evening concerts here. - We haven't made an admission charge for any of our lunchtime recitals at St. Martin's but they do in fact cost quite a lot ... A big expense I have each year is to pay a license fee to the Performing Right Society and that costs me 2.000,- Pounds. It's an awful lot of money to find in addition to the other normal expenses that one would expect to incur running once a series of this type. The only founding that I have for this series is audience donation. I don't have any other kind of founding or sponsorship at all as yet; maybe I'll have one day. Certainly at the moment the situation is like to be precarious. I would therefore ask you if you would make a donation to help us run this series into the future as you leave today. There are boxes at the back of the church very clearly marked 'music fund', and do forgive me if I ask you to be as generous as possible when you leave. - We'll be having another lunchtime recital next Monday at 1:05. But for today would you join me please in welcoming Richard Greenwood.

Die angenehm modulierte Stimme verklingt in der halbbesetzten Kirche. Ein langer Applaus. Der Künstler rückt den Stuhl zurecht, erhebt sich noch einmal, um den Flügel aufzuklappen. Konzentration. Aus der Ferne, ganz schwach, das Gehämmer einer Baustelle. Dann die ersten Akkorde der Beethovensonate, verhalten und schwermütig. Niemand stört sich daran, daß der Flügel etwas verstimmt ist.

Mein Mikrofon liegt diesmal oben auf der Ecke der ersten Bank, rechts vom Mittelgang. Die VU-Meter signalisieren, daß der Sound gut herüberkommt. Flügel, Interpretation, Atmosphäre prägen sich auf zwei nur 0,6 mm breite Stereospuren, mikroskopisch feine Magnetpartikel richten sich aus, bis zu fünfzehntausendmal pro Sekunde. Das 3,81 Millimeter breite Band ist nur 12 Tausendstel Millimeter dünn. Greenwood erscheint aufgeregt, fahrig. Ob er sein Veto einlegt?

Beim Brahms hat er sich gefunden. Das Instrument gibt sein letztes, um die Melodik in voller Breite und Schönheit zu entfalten.

Die Aufnahme ist gut geworden. Ich gönne mir ein nahrhaftes Mittagessen unten im Gewölbe. Drüben, einige Tische weiter, sitzt Greenwood mit einer älteren Dame. Ich will es nicht vermeiden, dort vorbeizugehen. Welche Person(en) er in Marburg kenne, frage ich ihn; er hatte ja so etwas angedeutet. Eine junge Dame, Jutta Marquardt. Sie habe sich längere Zeit kontinuierlich mit Wetterbeobachtung befaßt, auf ökologischer Basis. Das war bestimmt nicht meine Studentin, sondern die Jutta M. mit ihren Wettergeschichten damals im Nordhessenjournal. Greenwood erkundigt sich nach meinem Hotel, will mich dort später anrufen, vielleicht aufsuchen, um ins Band hineinzuhören. Ich wisse doch, der Beethoven. Er habe in letzter Zeit Bedrückendes erlebt, nicht genug Zeit gehabt zum Einstudieren. Die ältere Dame ist sehr freundlich. So, aus Deutschland komme ich. Sie habe in Leipzig studiert. Sächsisch imitiert sie, nimmt dem Gespräch das Drückende.

Erleichtert wende ich mich ins Freie. Die U-Bahn bringt mich zum Circus. Es ist früher Nachmittag. Nach dem Konzert und dem Hin und Her mit Greenwood suche ich Entspannung. Eigentlich sollte ich hier wieder mal ins Kino. Lange war ich nicht mehr in einem Kino, kein einziges Mal seit dem Januar 1986 in London.

In den Cannon Cinemas, die über die ganze City verstreut sind, werden Filme angeboten wie The Witches of Eastwick oder Fatal Attraction - das ist der mit Michael Douglas, von dem jetzt alle Welt spricht ("Leidenschaft, die Leiden schafft"): eine Chance, ihn hier zu sehen - doch verlangt man sechs Pfund und mehr an Eintritt. 18 Mark für das Ablaufen von Celluloid. Die sind ja verrückt. Außerdem habe ich keine Lust, mich hier mit einem Problemfilm abzugeben.

Links von Tower Records, über die Einmündung der Regent St. hinaus, kommt man nach SOHO. Dort, etwa zweihundert Meter vom Circus, ist an der linken Seite ein Kino, genauer gesagt mindestens 3 Kinos in einem. Man zahlt drei Pfund Einheitspreis und wählt eines der drei Programme; jedes Programm enthält drei Spielfilme, die nacheinander ablaufen, man kann so lange bleiben wie man will. In den relativ kleinen Vorführräumen findet man nur wenig Leute, meist ziemlich vereinsamt aussehende Gestalten, die hier ausruhen, die Zeit totschlagen wollen; manche schlafen, selbst beim heißesten Sexfilm.

Ich wähle Programm A. An der Süßigkeitentheke vorbei geht es eine schmale Treppe hinunter, dort unten die Eingänge der Teil-Kinos. Zwei undefinierbar aussehende Platzanweiser. Solche Kinos sehen fast alle gleich aus. Hier gibt es Billig-Amüsement für Anspruchslose. Ich gehöre heute zum typischen Publikum, schäme mich dessen nicht. Es sind Filme der sogenannten Kategorien "X" und "18 and above", aber harmlos gegenüber dem, was bei uns unter der Rubrik Hardcore über die Leinwand flimmert. Während ich Platz nehme, nähert sich Film 1 gerade seinem Ende. Eine tragisch endende Dreiecksgeschichte ohne Ansprüche an Darsteller und technischen Aufwand. Solche Filme lassen sich im Dutzend abdrehen.

Ich habe mich rechts von einer dicken Säule hingesetzt, links daneben hustet ein älterer Mann ganz entsetzlich. Verdammt. Das hört sich nicht gut an. Gottseidank ist die Säule zwischen uns. Es wird wieder dunkel. Flying Sex heißt der nächste Film. Eine Mischung aus harmlosem Sex und Psychologie, den Schauplätzen nach in den USA und der Karibik gedreht; hier hat man sich mehr Mühe gegeben, wenn auch die Handlung etwas konstruiert erscheint; das ist die Regel bei solchen Filmen. Das Drehbuch wird so hingebogen, daß möglichst, aber nicht zú oft eine Sex-Szene drin ist. Als Darsteller werden oft Laien genommen, künstlerisches Format ist nicht gefragt. Hier jedoch scheint dieses Prinzip zum Positiven hin durchbrochen. Londoner Niveau, auch hier. Dialoge und Handlung haben nichts Abstoßendes, wirken im guten Sinne belebend. Hier werden Aggressionen gar nicht erst aufgebaut wie bei so vielen Kriminal- und Actionfilmen. Die Petting-Szenen kommen mir ein wenig langweilig und stümperhaft vor; da hätten die Amerikaner viel von den Franzosen lernen können ...

Dann ein wahres Gaudium, eine Parodie aufs alte Rom. My Nights with Messalina. Sogar Julius Caesar und Marcus Antonius geben sich die Ehre, Caesar sogar mit silberfarbenem Telefon. Ein herrlicher Quatsch, mit gepfefferter (aber nicht abstoßender) Erotik, witzigen Dialogen, keineswegs langweiliger Handlung und sinnvoll wechselnden Schauplätzen. Es ist wie bei Asterix: je mehr an "Antennen" dafür, desto mehr Spaß daran. Eine gelungene Parodie: man hat fast den Eindruck, daß die Art der Darstellung der römischen End-Zeit näher kommt als der langweilige Absud, der sich in Schulbüchern findet. An ihren Orgien sind die Römer untergegangen, vielleicht die schönste Art des Untergangs. Das Deutsche Reich scheiterte dagegen an sinnlosen Parolen und dem Wahnsinn eines Anti-Caesars.

Das kleine Film-Marathon hat mir gut getan, auch wenn ich mich etwas müde und abgespannt fühle. Die Kino-Luft war nicht gut; sicher werden wieder Jahre vergehen bis zum nächsten Kinobesuch.

Die 15 bringt mich zurück zum Hotel, sie fährt in der Regent St. ab. Man freut sich, wenn man im Verkehrsgewühl den roten Kasten mit seinen beiden gelben Wangen entdeckt. Dann ein schneller Griff an die abgewetzte Haltestange und rauf zum Oberdeck. Der Bus ist schon angefahren; etwas unsanft landet man auf dem gewählten Sitz. Es stapft die Treppe hoch. "Any Fares?" Ratsch, ratsch. "Forty Pee please." Pence sagt hier niemand. Links neben mir lautes Portugiesisch, mit brasilianischem Akzent. Auf dem Oberdeck der 15 hört man nur wenig Englisch. Das ist wohl die Touristen-Linie.

An manchen Tagen hat es mehr Reiz, die Menschen im Bus zu studieren anstelle der Umgebung. Als ich am Montagabend Richtung Piccadilly fuhr, unterhielten sich neben mir zwei junge Menschen. Ziemlich hektisch sprach der junge Mann auf seine Freundin ein. "... and I'm spending fifteen pounds for food every day." Auf einer längeren U-Bahn-Rückfahrt hatte ich zwei junge Männer im Gespräch beobachtet, sie standen an der Tür. Der linke, ein naßforscher Typ, sprach die ganze Zeit dröhnend auf sein Gegenüber ein, mit breitem Londoner Akzent. Der ganze Wagen konnte mithören. Wer angibt, hat mehr vom Leben. Die Szene war reif fürs Boulevardtheater.

Es ist keine Platitüde zu behaupten, daß die Menschen sicher das interessanteste sind in London. Das Konglomerat an verschiedenen Rassen und Typen kann wohl auf Cuba oder in Brasilien kaum faszinierender sein. Man muß U-Bahn oder Doppeldecker fahren, um als Tourist Londons Menschen kennenzulernen.

In der Rush Hour ist ein voller U-Bahn-Wagen eine kleine Welt für sich, immer neu mit anderen, verschiedenen Menschen. Ich denke an die elegant gekleidete, schöne junge Frau mit kaffeebrauner Haut und ihre kleine Tochter. Stolz sah sie aus. Voll waren die dunkelroten Lippen. Das kleine Mädchen war allerliebst. Vielleicht waren beide auf dem Wege zum Shopping: Angehörige einer kleinen farbigen Oberschicht. Ich habe auch einmal einen Schwarzen in einem Rolls-Royce gesehen. Doch das Gros der Farbigen scheint unteren Klassen anzugehören. Das ist das Heer der Reinigungskräfte, der Wäschereileute, das sind die jungen Männer in Wendy- und Wimpy-Restaurants, die Zeitungsverkäufer und Boten. Boten und Kuriere aller Art: sie scheinen in London eine besondere Rolle zu spielen. Motorräder mit Funk fahren überall herum, schlängeln sich durch dichten Verkehr. Das Taschenfunkgerät ist nicht nur bei der Polizei in ständigem Einsatz. Die Bobbies tragen es im Rockaufschlag: ein bescheiden aussehende Walkie-Talkie mit Stummelantenne. Wie ein Spielzeug sieht es aus. Das täuscht. Unsichtbar geht vom Gerät ein Kabel zum separaten Batterieteil, das in Gesäßhöhe unter der Uniform getragen wird. Manchmal krächzt es aus dem Gerätchen, wenn man einen Bobby passiert.

Wie die roten Doppeldecker und die schwarzen Taxis gehören die Bobbies zum Londoner Stadtbild. Sir Robert Peel, Gründer der Londoner Metropolitan Police, gab ihnen seinen Namen. Jedes wichtige Gebäude, auch das rechts von St. Martin's, wird von mindestens einem Bobby bewacht. Selten sieht man paarweise Streife gehende Polizisten, doch einmal erblickte ich ein solches Paar am Circus, eine hübsche Polizistin und einen jungen Bobby, ganz wie in den "Verrückten Polizisten".

Ich bin an jenem Dienstagabend nicht ganz mit mir zufrieden. War es richtig, ins Kino zu gehen? Ist es überhaupt richtig, so wenig planvoll vorzugehen?

Vielleicht ist dies der bessere Weg. Denn der Zufall bringt oft die besten Entdeckungen, und nur, wer sich am unvoreingenommensten dieser Sechsmillionenstadt hingibt, kann auf solche Entdeckungen stoßen. London ist quasi ein multimediales Ereignis.

Das Fernsehen begleitet mich bis zur Nacht. Es ist für mich aus einem solchen Urlaub nicht wegzudenken. Oft sind es die Southwest News, die bestimmte Londoner Ereignisse und Hintergründe aufhellen. Schließlich handelt es sich um einen kulturellen und sozialen Ballungsraum mit nahezu der doppelten Einwohnerzahl von ganz Hessen. Und dem Durchschnittslondoner, der jeden Tag mit der U-Bahn brav nach Hause fährt, dem wird es noch eher so gehen: aus den News erfährt er, was um ihn herum geschehen ist, vielleicht ganz in der Nähe, nur einen Block weiter. In den News sieht er, wie ein roter Doppeldecker bis zu den oberen Fenstern in einer Straße verschwunden ist: wieder einmal ungenügende Sicherheitsvorkehrungen. Und die News berichten an den letzten Tagen fast pausenlos über ein Unglück in den Schweizer Alpen: ein Major, guter Freund von Lady Di, ist bei Klosters von einer Lawine erfaßt und getötet worden. Und immer wieder The Duke and Duchess of York bei ihren USA-Aufenthalt. Was Fergie trägt, was sie sagt, was sie tut, und sei es das Banalste. Fergie auf der NIMITZ. Nein, sie darf sich nicht rauskatapultieren lassen, sie ist schwanger, darf "nur" im Haubschrauber fliegen. Fergie mit ihrem Haubschrauber- und Privatpilotenschein. Und Anne, die Princess Royal, ist unterdessen in Afrika, besucht eine ehemalige britische Kolonie, wird mit größtem Respekt empfangen.

Der Zufall beschert mir ein breites Spektrum von Informationen, Kommentaren, Meinungen, mit denen das Fernsehen meinen Aufenthalt bereichert. Quasi als Folie der realen Welt. Und ich werde auch zwei Filme nicht vergessen: in beide geriet ich wieder mal ganz zufällig, in die vier Kanäle hineinschaltend. Our World hieß, glaube ich, der erste. Mit einem musikwissenschaftlichen Kongreß als Hintergrund. Hier treten ganz verschiedene internationale Persönlichkeiten auf, junge und alte, mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Enttäuschungen, ihren Schwächen und Fehlern. Und eine reizvolle, feinsinnig gesponnene erotische Handlung rankt sich hindurch, zum Schluß wird ein gordischer Knoten zerschlagen zu aller Zufriedenheit.

Ganz im Kontrast dazu die Eastenders, realistische Darstellung des Alltags in den Armenvierteln des schmucklosen Teils von London: die britische "Lindenstraße". Ein indischer Taxifahrer wird grundlos eines Diebstahls verdächtigt, verliert fast seine Existenz. Seine junge Frau liegt in der Klinik, hat ihr Kind verloren. Soziales Elend, Prügel, Haß, geballte Emotionen, doch zum Schluß Verständnis, schnelle Versöhnung, wie die klare Luft nach einem Gewitter. Man arrangiert sich in dieser Vielvölker-Gesellschaft. Doch die News berichten, es gebe in London noch viel Ausländer-Haß. Man untersucht das Phänomen, versucht in Kampagnen dagegen anzugehen. An alledem rast der Fototourist vorüber, wenn er sein London-Dreitagesprogramm absolviert. The Sights of London, The Pub Tour, The Flea Market, Mme. Toussauds, The Banquet, Windsor. Und dann zurück, Filme entwickeln lassen, Dia-Schau mit den Bekannten. Morgen, so nehme ich mir vor, muß ich meine Mitbringsel besorgen. Morgen ist Einkaufstag. Uta soll wieder ihre F&M-Marmelädchen bekommen; mal sehen, was es sonst noch gibt. Zeit genug habe ich ja. Und ich freue mich sehr auf Fortnum & Mason.

***

Ziemlich zerschlagen und ein wenig erkältet fühle ich mich am nächsten Morgen. Eine Quittung für die Kino-Eskapade? Der Mann an der Säule mit dem Husten? It's no use crying over spilt milk. Mein Gott, nur noch zweieinhalb Tage. Doch irgendwie fühle ich mich, und das ist recht angenehm, schon rundrum erfüllt, fast schon gesättigt, von London. Ergebnis einer auf vielen Zufällen aufbauenden Integration.

Das Zweite Frühstück in St. Martin's tut gut. Auch hier bin ich inzwischen vertraut. Der Farbige hinter der Lunch-Theke lächelt leicht, als ich zufällig hinübersehe. Dezent erklingt barocke Instrumentalmusik. Man scheint hier das italienische Barock zu bevorzugen. An einem gegenüberliegenden Tisch sitzt eine sehr zart anmutende blonde Studentin, ganz in die vielen Papiere vertieft. Vielleicht schreibt sie an einer Seminararbeit. Zur Linken die Bücherwand, die den Book Shop abtrennt. In der Hauptsache geistliche Erbauungsliteratur aus verschiedenen Ländern. Ein kleiner Durchblick ist in der Mitte frei, man erkennt einen jungen Mann, der im Inneren dabei ist, Ikonen zu malen; sie werden später für einige Pfund pro Stück angeboten.

An der Eingangstür ein hochgewachsener, sehr distinguiert aussehender Schwarzer, sicher Mitglied im Organisationskomitee der Gemeinde. Neben dem Treppchen macht sich schon seit Stunden ein Arbeiter damit zu schaffen, den Putz mit einer Art Bürste abzuwaschen. Er scheint keine Eile zu haben. Er wird noch am Mittag dabei sein, wenn ich zum Lunch zurückkehre.

Fortnum & Mason betrete ich heute zum zweiten Mal. An der Spieluhr gehe ich vorbei, der Blick wandert über Regale, in denen köstliche Delicatessen zu hohen Preisen angeboten werden. Ein älterer Angestellter spricht mit einer sehr distinguierten alten Dame. "I saw you on the T.V. recently ...".

Schließlich habe ich das Gesuchte entdeckt: die netten Zusammenstellungen von Marmeladen-Proben. Eine Packung enthält vier Gläschen und zwei Döschen mit Tee, die andere sechs Gläschen. Und das alles für knapp neun Pfund. Der junge Mann neben mir ist ganz vertieft darin, an der Kasse zu hantieren. Ein kurzer Zuruf von einem Herrn rechts neben mir, und sofort wendet sich der Kassen-Mann mir zu.

Mit dem Lift fahre ich zur dritten Etage hinauf. Hier ist unter anderem ein Restaurant. Mehrere alte Damen parlieren an einem runden Tisch. Allerfeinstes, etwas antiquiertes Oxford-English. Hier ist die Zeit um sechzig Jahre stehen geblieben. Die Tische sind festlich geschmückt. Wer weiß, was hier allein ein Tee kostet. Rechts hinten eine kleine Telefonzelle mit einem Payphone. Von hier aus rufe ich Uta an.

Links neben Fortnum's ist Swaine of Piccadilly. Auch hier ist die Zeit stehen geblieben. Allerfeinste Jagd- und Picknick-Ausrüstung, Sitzstöcke, exquisite Regenschirme, alles für den Gentleman.

Weitere Mitbringsel erstehe ich in einem großen, offenbar französischen Buchladen. Hier gibt es unter anderem Hörbücher (Cassetten) mit englischer Literatur und sehr schöne Taschenkalender. Das Ganze erinnert stark an unsere N.G. Elwertsche Universitätsbuchhandlung in Marburg. Wir brauchen uns da nicht zu verstecken. Die Preise, auch für Paperbacks, sind höher als in der Bundesrepublik. Die Dolby-Qualität der verschiedenen Toncassetten liegt etwas unter unserem Standard.

In der Nähe der St. James's Church, Mitte Piccadilly St., hat ein Fliegender Händler Souvenirs ausgestellt. Passanten verharren hier, er hat preiswerte Angebote, doch läßt er sich kaum sehen. Für Marion kaufe ich einen roten Doppeldecker, maßstabgerechtes Modell der alten Busse des Typs RM 1733, mit denen ich so gern fahre. Von vorn sehen sie aus wie Zwitter: die Fahrerseite flach wie bei modernen Bussen, rechts dagegen eine Hälfte der Motorhaube und ein richtig ausgebildeter Kotflügel bis hin zur rückverlegten Frontscheibe. Der Fahrer ist ganz eingekastelt in seinem Kabinchen, man kann ihn von allen Seiten beobachten. Recht hoch sitzt er vor dem altertümlichen Vierspeichenlenkrad, links neben ihm der Stockgriff eines überlangen Handbremshebels. Das Armaturenbrett ist äußerst spartanisch; so kann er sich voll auf den Verkehr konzentrieren. Heute, habe ich mir vorgenommen, sitze ich mal unten, möglichst links hinter der flachen Front, um dem Fahrer zuzuschauen. Ich muß um diesen Platz kämpfen; offenbar ist er (oder ist das nur ein Zufall?) ebenso begehrt wie der oben rechts über uns.

Der alte Kasten scheint unverwüstlich. Sicher ist er mindestens dreißig Jahre alt. Solche Busse fuhren schon in den alten Edgar-Wallace-Schwarzweißfilmen wie Der Hexer. Ich fahre an diesem Tage mehrmals mit dem RM 1733; eines der Exemplare hat einen wunderbar geschmeidigen Lauf: da muß ein neuer Motor drin sein. Der RM 1733 ist ein Phänomen: Symbol eines Landes, das Überkommenes all dort bewahrt, wo es seinen Zweck erfüllt. Klugerweise hat man erkannt, das Altes, auch wenn schon klapprig, attraktiver sein kann als seine modernen Nachfahren. London ist lebendige Synthese, perfekte Symbiose von Alt und Neu. London würde langweilig wirken, wäre alles Technische auf den neuesten Stand gebracht, hätte dann die langweilige Perfektion einer deutschen Großstadt. Diese Synthese ist der Grund, warum man, zumindest als Tourist, an jedem Tage London anders sehen, erleben kann.

Underwood - Dispensing Chemists. Hier kaufe ich 100 Multivitamindragées für 2 Pfund 20. Auch das wäre bei uns undenkbar. Die Medikamente sind weitaus billiger als in Deutschland. Allein an Multivitaminpräparaten gibt es hier rund 30 Sorten; wer die Wahl hat, hat die Qual. Auch sehr viele Ophthalmic Opticians entdecke ich an den vielen Straßen. Viele haben nur kleine Lädchen. Nach Paddigton zurückfahrend, irgendwo zwischen Marble Arch und Marylebone, sehe ich links kleine Läden mit arabischen Schriftzügen, einen mit Zusatz IMPORT-EXPORT. Das sind Orte, an denen viel gefeilscht wird. Ich denke an ähnliche Geschäfte im Bahnhofsviertel von Frankfurt und München. Dennoch ist London in jeder Hinsicht anders. Schon wenn man von der Peripherie aus hineinfährt. Die Buntheit der Häuserfronten fällt als erstes auf.

Morgen ist mein letzter ganzer Tag in London. Morgen werde ich viel spazieren gehen, werde noch einmal mein Gerät mit hinausnehmen, um akustische Eindrücke festzuhalten, und morgen will ich den alten John Lewis aufsuchen, er hat ein kleines Schuhgeschäft in der Tooley Street, unterhalb der Tower Bridge. Vielleicht ist das eine verrückte Idee, aber ich will zu ihm gehen, im Guten Tag sagen und ihm eine Cassette schenken.

***

Noch immer zerschlagen fühle ich mich an diesem Morgen. Die Royal Kensington Gardens, in denen ich vor zwei Jahren und zwei Monaten Abschied von London genommen hatte, sind kühl, windig, wolkenverhangen. Hier erstmals probiere ich eine neue Aufnahmetechnik: den schon vor zwei Jahren gebauten Kopfbügel setze ich auf, stecke in Ohrhöhe zwei ECM-Kapseln auf. In der Tasche das Mikrofon-Basismodul und das TCD mit seinem Batteriepack. So entstehen, live aus dem Hyde Park, fünf Minuten Quasikunstkopf-Aufnahme, mit singenden Vögeln, vorübergehenden Fußgängern, scharrenden Schritten auf sandigem Gehweg. Die Kopfhörerwiedergabe vermittelt das Gefühl, noch einmal dort zu sein. Später, in der U-Bahn, werde ich auf dieselbe Weise arbeiten. Leider sind mit 9-Volt-Speisung die mitgeführten Kapseln zu empfindlich, dennoch geraten die wenigen Außenaufnahmen sehr eindrucksvoll; ein neuer Weg ist eröffnet.

Ein langer Spaziergang führt am rechten Rand der Serpentine vorbei, immer hinter einer Schar halbwüchsiger Schulkinder her, einige davon benehmen sich ziemlich rüpelhaft. Die mitgehende Lehrerin nimmt keine Notiz davon. Öfter wird ein Schüler von anderen gegriffen und über den Rand des Sees hinausgezerrt, wogegen er schreiend protestiert.

Ein Stück gehe ich noch durch den Hyde Park, gerate dann nach Knightsbridge und befinde mich in der Brompton Road, hier liegt HARRODS OF LONDON, Londons vornehmstes Kaufhaus, falls dieser Terminus überhaupt noch gestattet ist. Das elegante Foyer, die holzgetäfelten breiten Aufgänge erinnern eher an ein Luxushotel. Man müßte sich einen ganzen Tag Zeit nehmen für diesen Prachtbau mit seinen vielen Abteilungen, in denen nur ausgesucht gute Artikel verkauft werden. Oben, in der Rundfunk- und Fernseh-Abteilung, werden etwas antiquiert aussehende Koffer-Radios angeboten, noch im Look der späten Fünfziger: Produkte von Roberts Radio, einer rein britischen Marke, die auf diese Weise überleben konnte. Hier gibt es auch ein geschmackvoll ausgestaltetes Büchlein: The History of Roberts Radio. Beim nächsten London-Aufenthalt werde ich es mitnehmen.

Hier sehe ich auch große Projektions-Farbfernseher, die sich nur ganz Betuchte leisten können. Harrods hat etwas Märchenhaftes, wäre allein den Flug nach London wert. Nun kann ich Leute verstehen, die, genug Geld dabei, ausschließlich zum Shopping nach London fliegen.

Schräg gegenüber von Harrods ist eine kleine Verkaufsstelle von LINGUAPHONE. Hier werden kompakte Sprachkursprogramme mit Cassetten, Wörterbuch und sonstigem Material für rund 10 Pfund angeboten. Von Knightsbridge aus kann man in nur wenigen Fußminuten zum Piccadilly Circus gelangen, vorbei am berühmten Hyde Park Corner.

Nach dem Lunch in St. Martin's fahre ich per U-Bahn zur Tower Bridge. Man muß irgendwo die südlich fahrende Northern Line (schwarz markiert) erwischen und bei der London Bridge aussteigen, in direkter Nähe des schauerlichen London Dungeon, wo eine hölzerne Hand gespenstisch aus einem Fenster emporragt.

London Bridge ist ein unsäglich schmutziger U-Bahn-Halt, so ziemlich das Vergammeltste, was London Transport in dieser Hinsicht bereitstellt. Uralte, verstaubte Kabel hängen aus teils aufgerissenen Seitenverschalungen heraus, es sieht aus, als hätte man dort vor dreißig Jahren etwas angefangen und dann die Flucht ergriffen. Oben ist noch eine sehr zugige Eisenbahnstation. Ich war schon gestern morgen hier, hatte nur feststellen müssen, daß John Lewis erst um 14 Uhr aufmacht. Vor zwei Jahren habe ich dort die Schnürschuhe gekauft, die ich heute trage. Ob mich der alte Herr wiedererkennt? ich wende mich nach rechts, Richtung Tower Bridge. Die Tooley Street ist wenig attraktiv. Hier könnte glatt eine Kriminalgeschichte spielen. An Geschäftshäusern, Garagen- und Hofeinfahrten immer derselbe Hinweis, nämlich, daß "these premises" von einer Überwachungsgesellschaft betreut würden.

Von der Tooley Street führt auch ein Weg zur H.M.S. BELFAST, einem der größten britischen Schlachtkreuzer, der seit den frühen siebziger Jahren hier als schwimmendes Marinemuseum vor Anker liegt. In seinen Funkräumen ist die Amateurfunk-Sonderstation G 4 HMS zu Gast. Vor zwei Jahren habe ich den stählernen Riesen besucht.

Zwei alte Herren sind im Gespräch, als ich den winzigen Laden betrete. Auch tailored clothes werden hier verkauft. John Lewis ist der rechts stehende, etwas größere Mann. Es ist mehr Ahnung als echtes Wiedererkennen. Ich muß mich vorstellen, auch da keine Rückerinnerung bei dem alten Herrn. Später erinnert er sich dunkel, begutachtet dann tastend meine Boots. Die Cassette gebe ich ihm. Sein Bruder, sagt er, sei Dirigent. Von daher liebe auch er Musik. Aber ich glaube, er begreift nicht so recht, daß das Konzert des Deller Consort, das ich ihm in Kopie überreiche, eine Live-Aufnahme ist, die ich in Marburg gemacht habe.

Noch einmal gehe ich über die Tower Bridge, beachte die fast unmerklichen Nahtstellen, dort, wo in den wenigen Fällen, da das noch geschieht, die Brückenhälften hochgeklappt werden, um Schiffe mit hohen Mastaufbauten passieren zu lassen. Morgen, steht mit Kreide auf einer Tafel, morgen gegen 16:20 soll dies geschehen, um die MS BELGICA, ein Belgian naval ship, durchzulassen. Morgen um diese Zeit werde ich bereits im Flugzeug sitzen, kurz vor dem Rückstart nach Frankfurt. Ich habe jetzt keine Lust, noch das Tower Bridge Museum zu besuchen, obwohl man dort die inzwischen völlig restaurierte dampfgetriebene Mechanik sehen kann, die noch vor zwanzig Jahren das Hochklappen besorgte. Statt dessen gehe ich zur Tower-Wache, dort sind die Beefeaters dabei, die in den Tower gehenden Touristen auf gültige Tickets hin zu kontrollieren und nach eventuellen Waffen abzutasten. Letzteres erscheint mir neu. In einem Gebäude der Tower-Wache ist nach wie vor der Souvenir Shop, hier gibt es nun ebenfalls Hörcassetten, mich interessiert ein Zweier-Set mit den Lives of British Kings and Queens. Knapp 9 Pfund will man dafür haben. Vor zwei Jahren erstand ich hier zwei Krüge (mugs), aus denen wir zu Hause noch immer guten englischen Tee trinken, natürlich mit Milch; George MIKES hat allerdings behauptet, in seinem Buch "Oh These English", daß es die Engländer verstanden hätten, den Tee, jenes so wohlschmeckende klare Getränk, zu einer Art Spülwasser verkommen zu lassen.

Zum Kaffeetrinken bin ich noch einmal in St. Martin's, nehme Abschied von "meiner" Kirche, kaufe dort auch, für nur 50 Pence, eine Broschüre über die Kirche. Man erzählt mir, im Sommer werde es ein neues Geläut geben. St. Martin's wurde für mich zum Geheimtip in London. Ich werde später allen von dieser Kirche erzählen und von dem Restaurant darunter, in der Krypta. Allen, die es hören und nicht hören wollen.

Ein letztes Mal besteige ich am Strand die 15, wieder sitze ich unten, lasse mich durch dichtes Gewühl bis Paddington schaukeln. Vor mir, zum Greifen nah, mahlt und rattert zuverlässig der Motor, sicher von Leyland gebaut. Alle sind treu und brav gefahren, nur einer hatte eine Panne, stand gegenüber dem Senator. Neben den roten Doppeldeckern fahren noch die "normalen" Busse des Red Arrow Service und die kleineren, schnelleren, moderneren City Hoppas. Nächstes Mal werde ich auch die ausprobieren. Ob man das mit der Travelcard darf? Der rote Airbus von London Transport, auch ein Doppeldecker, führt direkt nach Heathrow. Vor zwei Jahren habe ich ihn interessehalber benutzt, in Heathrow oben auf dem zugigen Besucherdeck über zwei Stunden ausgeharrt, viele Starts und Landungen beobachtet, aber die ersehnte Concorde kein einziges Mal gesehen.

Viele Sightseeing-Doppeldecker fahren durch das Gewühl. Neben London Transport sind eine Reihe Privater beteiligt. Manche Busse fahren bereits mit offenem Oberdeck, etwas für Optimisten bei dieser zugigen Kälte.

Hunderte von Tauben lassen sich nieder auf dem Trafalgar Square, fliegen erschreckt auf: wie auf dem Markusplatz in Venedig. Hinten verschwindet das Portal von St. Martin-in-the-Fields. Hoffentlich sehe ich diesen Ort bald wieder.

Im Hotel, um halb Sechs, fühle ich mich schon ein wenig besser, die aufkommende Erkältung hat nachgelassen. Kurz darauf klingelt, besser: pfeift alternierend das Telefon; wir haben ja die ganz modernen Apparate auf den Zimmern. Es ist Richard Greenwood. Er möchte unbedingt vorbeikommen und in das Band hineinhören; als das nicht geht, möchte er mich zu einem Gottesdienst in der Kirche an der Edgware Road überreden. Er wisse nichts über meine Konfession, doch komme das, was man dort tut, seinen und, wie er meint, vielleicht auch meinen Vorstellungen entgegen. Er wird ein wenig penetrant; sicher geht er bei mir von falschen Vorstellungen aus, was ich ihm jedoch nicht so direkt sagen möchte; immerhin möchte ich das Band behalten und durchbringen. Nur mühsam kann ich ihn abschütteln, er will morgen wieder anrufen, kurz vor meinem Abflug. "I'll ring off now..." Gottseidank. Und Rosel ruft an, welch eine Erlösung, um mir noch einmal alles Gute zu wünschen, für die Rückkehr, für die Zukunft. Ich freue mich, ihre Stimme zu hören. Sie hat noch Schweres vor sich, wir drücken ihr alle die Daumen.

Im TV häufen sich die Nachrichten aus Klosters. Die Unvorsichtigkeit und Nachlässigkeit der Royal Party sorgt (wieder einmal) für Schlagzeilen. Ich benutze die Zeit, um noch drei Cassetten mit TV-Ton zu füttern, dabei kann ich die mitgeführten Batterien so weit entladen, daß ich sie guten Gewissens wegwerfen kann; für den Rückflug muß ich an Gewicht sparen. Zwischendurch noch ein Gang Richtung Paddington Station, morgen bin ich wieder in Marburg. Ich habe schon seit Tagen mit einer Verlängerung bis zum Montag gespielt; aber nein, das darf ich meinen Lieben nicht antun. Außerdem muß die kaputte Waschmaschine dringendst repariert werden, Uta hat sich lang genug mit der Boden-Waschmaschine behelfen müssen. Und man darf auch nicht unverschämt sein. Ich habe dreizehn recht schöne Tage in London gehabt. Ich sollte zufrieden sein und bin es auch. In Marburg werde ich einiges zu erzählen haben. Langsam müssen sich aber die Eindrücke noch setzen, ihren klassifizierten Platz finden im schier unermeßlich scheinenden Speicher des Gehirns, und später, so nehme ich mir vor, später einmal könnte das Wichtigste zu Papier gebracht werden, zu dauerhafter Erinnerung, und beim Schreiben wird all das Schöne dann noch einmal erlebte Wirklichkeit.

Die letzten Stunden bis zum Abflug will ich dazu nutzen, mich von meinem London langsam, behutsam zurückzuziehen, so wird es keinen schmerzhaften Abschied geben. Außerdem: es gibt überall Varianten des Schönen: man muß sie nur erfühlen.

***

Freitag, 11. März 1988. Heute abend werde ich in Marburg sein. Mit einer jungen Dame, die an meinem Tisch sitzt, ein kurzes Gespräch. Sie fliegt erst Montag zurück. Den Tip mit der Tower Bridge heute nachmittag gebe ich an sie weiter. Zum letzten Male stopfe ich den luftigen Brötchenteig und die schwammigen Hörnchen in mich hinein. Die Hörnchen-Schale splittert wie dünnes Sperrholz; jedesmal gibt es rund ums Geschirr eine mess. An einem Vortag habe ich zwei gesetzte Herren vor mir gehabt, am Frühstückstisch. Einer erzählte, sie kämen von einem Schiffahrtsverein, wollten ein Boot chartern und damit bis Greenwich hinunterfahren.

Während ich den Koffer packe, werden die letzten dreißig Minuten Fernsehnachrichten aufgezeichnet. Dann ziehe ich den Stecker aus der TV-Kopfhörerbuchse. All the best to you. Good bye, till next time, Notiz auf dem Trinkgeld-Zettel. Ein ausgedehnter letzter Blick, ob wirklich alles ausgeräumt ist, dann zur Rezeption, in den Fernsehraum (TV lounge), wo schon einige Koffer beieinanderstehen. Hier sind zwei sehr lange Sofas, in deren Sitzkissen man förmlich versinkt. Zwei ziemlich betagte Farbfernseher stehen aufeinander, im oberen läuft gerade irgendetwas von BBC 2. Mit der 15 fahre ich ein letztes Mal bis zum Circus und zurück, sehe um mich herum noch einmal die Buntheit des Verkehrs, der Häuserfronten, der durcheinandereilenden Menschen. Brummen, Quietschen, Rattern, Hupen. Ein letztes Mal biegen wir in der Edgware Road rechts ab, Richtung St. Mary's (ein Hospital), hier reiht sich links Hotel an Hotel (nur erkenntlich an den kleinen Eingängen), dann geht es links herum in die Praed Street, und hinten rechts erkennt man schon die beiden gegenläufigen weißen Pfeile auf rotem Grund, das Zeichen der BRITSH RAIL. "Paddington!" Man muß sich beeilen, die Treppe hinunterzukommen; während der Fahrt geht das zwar auch, doch kann man anecken und sich Beulen holen. PRIDE OF PADDINGTON, der von einem Baugerüst umgebene Pub, zieht links vorbei. gegenüber liegt ein Bankgebäude, mit automatischer Geldausgabe an der Seite. Manchmal bückt sich dort ein Mann, um in Windeseile das Geld zu entnehmen. Ich gehe am ITALIAN RESTAURANT vorüber. Da bin ich nie hineingegangen, es ist sündhaft teuer. Der kleine indische Laden mit FOOD & WINE zieht vorüber; 24 Stunden ist er geöffnet. Draußen ein Ständer mit Ansichtskarten, die sind hier um die Hälfte billiger als im Hotel. Dann vor mir die blinkenden gelben Kugel-Lampen: der Überweg. Es ist noch Rot; doch die Polizistin vor mir kümmert sich nicht darum, munter überquert sie beide Fahrstreifen der Westbourne Terrace, es besteht keine Gefahr.

Vor dem SENATOR liegt ein weiteres Hotel, mit langem car park davor. Hier konnte ich eine Woche zuvor beobachten, wie ein illegal geparkter Wagen von mehreren kräftigen Männern beiseitegewuchtet wurde, nachdem man zunächst versucht hatte, den Wagen, dessen Räder durch die Handbremse blockiert waren, mit einem Kleinlaster wegzuziehen. Der Kleinlaster war zuletzt in beißenden Rauch gehüllt, das war zu viel gewesen für seine Kupplung, es stank gewaltig nach verbrannten Belägen. In zwei Minuten hatte man das Auto zur Seite gewippt.

Ich beschrifte die Gepäck-Aufkleber. Dann ein bescheidenes Lunch im Senator. Zwei junge Damen von der Hotel-Crew gehen an mir vorbei zur Küche, lachen fröhlich. "We're only joking at ourselves."

Kurz vor halb Zwei erscheint Birgit mit dem Bus. Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen, vielleicht war sie krank. Oder sie hat andere Reisegruppen betreut. Ich übergebe ihr einen Umschlag, darin die letzte Kopie des Deller Consort, adressiert an Mrs. Sonia Park, c/o JET Travel Agency.

THE LONDONERS. Im weiträumigen Bauch des Busses verschwindet der rote Koffer mit dem Markierungsstreifen. Abschließen konnte ich ihn nicht; was soll's. Die Sonne bricht durch die Wolken, als wir Abschied nehmen vom pulsierenden London, dem riesigen, bunten Fleck mit seiner Eigengesetzlichkeit.

Während wir Groß-London verlassen, über den Motorway eilen, gehen die Gedanken zurück zum Beginn der Reise, als wir in tiefer Dunkelheit denselben Weg zurücklegten, in umgekehrter Richtung. Markante Eindrücke huschen vorüber, ich denke auch an Rose und Ken und die anderen british relatives. Manches Erlebte erscheint schon jetzt wie ein Traum. Das Abschiednehmen ist ein sanfter Übergang.

Vorn das weite Areal des Gatwick Airport. Wir halten an einem niedrigen Gebäude; vorerst sieht alles recht provinziell aus. Doch die Hauptgebäude liegen weiter hinten. Gatwick hat stark expandiert. Mitte März sollte hier ein weiteres, sehr großes Abfertigungsgebäude eingeweiht werden, im Beisein der Königin, damit wird Gatwick zweitgrößter britischer Verkehrsflughafen.

Das Check-in geht erstaunlich schnell; der große Koffer ist nicht so schwer, wie ich vermutet hatte; da hätte ich ruhig all die London-Informationen mitnehmen können, die im Hotel geblieben sind. Nach der Paßkontrolle wieder das Röntgen des Handgepäcks. Ein Beamter winkt mich heraus. "Would you please undo your clothes." Ich muß die Windjacke ausziehen, er durchsucht sie nach allen Regeln der Kunst, versucht sie auszuschütteln. Dann werde ich abgetastet, peinlich genau. Wie ein Krimineller. Wortlos werde ich entlassen. Die durchleuchtete Tasche mit all dem Kleingepäck und der kompletten Tonaufnahmeausrüstung liegt friedlich auf dem Transportband.

Die Einschienen-Automatikbahn bringt uns zu den Gates. Die niedrige kleine Halle mit ihren Sofas und Sesseln, mit ihrer aufgelockerten Gestaltung wirkt anheimelnd und gemütlich. Nichts ist so hektisch wie in Frankfurt. Nur ab und zu eine kurze Durchsage. Die großen Fenster erlauben einen weiten Ausblick auf das Flughafengelände; weit hinten erstreckt sich das riesige neue Abfertigungsgebäude. Ich erkenne auch einige Jumbos; vor zwei Jahren habe ich nur einen gesehen, ganz nah vor den Fenstern, an einem unserer Gates; fast neu wirkte er mit seiner glänzenden Haut. VIRGIN ATLANTIC in großer, schwungvoller Schrift. Das war der Charter-Jumbo nach New York. Solche Flüge kosten von hier aus nur etwa 200 Pfund. Die Abflug-Gates sind hier nicht so hermetisch eingekastelt wie in Frankfurt, wo man sich wie in einem großen Käfig vorkommt.

Durch einen Schlauch gehen wir ... hinunter aufs Rollfeld. Wieder empfängt uns eine BAC 1-11. Ich habe wieder meinen Fensterplatz, vorn links Reihe vier. Neben mir wieder ein sehr schweigsamer Herr, vermutlich Engländer. Nicht nur Touristen fliegen mit DAN AIR. Diesmal keine Rede von Walkmen, die abgeschaltet werden müssen. Die vier Stewardessen bilden eine freundlichere Crew als auf dem Hinflug.

DA 3516 kann erst um 17:05 britischer Zeit starten. There is so much traffic here on this busy Friday afternoon, sagt freundlich-beruhigend der Captain.

Wir fliegen größtenteils über Wolken. Alles geht so schnell, daß kaum Erinnerung bleibt. Der Sinkflug deutet sich an mit Stechen in meinem Kopf. Die Taschentuchfetzen in den Ohren helfen nicht viel. Unter uns erscheinen Lichtpunkte in immer größerer Zahl: wir nähern uns RHEIN-MAIN. ich kämpfe gegen die Kopfschmerzen. Wann endlich ...? Na los doch ... Dann das sanfte Touchdown einer gekonnten Landung. Bravo, Captain ...

Irgendwie anders erscheint die Frankfurter Ankunftshalle, noch seelenloser als vor zwei Jahren. Man hat schon wieder umorganisiert. Doch sind die wenigen Formalitäten hier eine Erlösung. Alles klappt perfekt. Schon sind die Koffer da, wir gehen durch leere Zoll-Schranken. So schnell war ich noch nie draußen.

Lang erscheint es bis zur S-Bahn. Alles ist weiter, lichter als in London. Die S-Bahn ist neu, blitzsauber, der Bahnhof hell, groß, aber seelenlos. Das Fahrgeräusch ist angenehm leise. Mein Gott, welch ein Unterschied zur Londoner U-Bahn, die mich noch gestern umhergeschaukelt hat. Das war eine ganz andere Welt, fast unwirklich, wenn man zurückdenkt. Summend und ruckfrei beschleunigt die S-Bahn, bei jedem kurzen Zwischenhalt eine saubere Durchsage. Vom Frankfurter Hauptbahnhof startet um 20:23 der Intercity Herkules Richtung Kassel, knapp eine Stunde später stoppt er in Marburg. Müde schleppe ich Koffer und Tasche die Treppen hinauf. Ich vermisse die Londoner Escalators. Um mich herum freudige Erkennungsrufe. Freunde, Verwandte werden abgeholt. Ich bin froh, als ich auf dem Vorplatz bin. Komisch, jetzt bin ich wieder im kleinen Marburg. Doch schön ist es, unser Schmuckstück. Links vor mir warten geduldig die Taxen. "Zum Richtsberg 74, bitte". Der Fahrer ist souverän, patent. Den Kaffweg fährt er hoch. "Da haben wir schon mal sechzig Pfennig gespart." Ja, das sei ein Diesel. Ein 240 D. "Der hat schon rund fünfhunderttausend Kilometer auf dem Buckel, mit dem ersten Motor, ohne Reparatur." Erstaunlich, wie er die Steigung meistert. "Der schnellste 240 D am Platz." Donnerwetter, nur 9 Mark fünfzig. Und das ist kein Minicar.

Um 21:35 drücke ich die Klingel. Oben erwarten mich meine beiden Lieben. Marion springt mir entgegen, sie war gerade dabei, ins Bett zu gehen.

Oben auf dem weißen alten Schwarzweißfernseher liegt eine Kopfhörermuschel. Sie ist weiß umrandet. Der linke Kanal, den ich in London vermißte. Er war in Marburg geblieben. Der Kreis hat sich geschlossen.

An diesem Abend habe ich viel zu erzählen und viel auszupacken. Es ist spät. Morgen werde ich in Arolsen und London anrufen.

Die Marmeladenfläschchen von Fortnum & Mason finden Platz auf Utas Truhe.

Wie immer, überschlagen sich Erinnerungen, Erzählungen. Gute Nacht. Flach und hart liege ich, das ist gesund. Das könnte auch das Hotelbett im Senator sein, oder?

Herr Blank hat angerufen: morgen sei ein Konzert. Marburg hat mich wieder. Es lebe die Kontinuität.

***

NACHWORT

Sonntag, 21. März 1999, Frühlingsanfang in Cuxhaven. Es ist geschafft. Alles noch einmal erlebt, nach elf Jahren, dankbar und tief, und nun zurück - in einen anderen Urlaub, eine andere Welt. Es regnet leicht, draußen vor dem Hotelfenster huschen Autos vorüber, platschen durch Pfützen. Vor mir die Geräusche des Brandungsbads; abends, wenn es still wird, schreien hinten die Möwen, stampfen leise und dumpf die schweren Diesel der Containerfrachter, die an der Leitdüne entlangziehen, endlose Lichterketten. Hier oben am kleinen Schreibtisch, an der Tastatur meines Notebooks, endet die Brücke nach London. Leider bin ich dort nie wieder gewesen.

(c) Wolfgang Näser, Marburg 1988 ff. Stand: 3.4.2008